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Weltverlust und Medien­wirk­lich­keit

Zur Aktualität von Günther Anders‘ Fernsehkritik

aus: Vorgänge Nr. 169 ( Heft 1/2005), S.3-10

1956, als man in Deutschland noch stolz darauf sein konnte, überhaupt einen Fernsehapparat zu besitzen, als die Zapperwelt der Fernbedienung, der 24-Stunden-Programme und der über zwanzig Fernsehkanäle noch ein ferner Traum war und der Begriff der virtuellen Realität noch keine Verbreitung hatte, veröffentlichte der aus dem amerikanischen Exil nach Europa zurückgekehrte Philosoph Günther Anders sein Buch Die Antiquiertheit des Menschen. Unter dem Titel Die Welt als Phantom und Matrize verknüpfte er darin ein seit Rousseau bekanntes Motiv der Kulturkritik, die Entfremdung des Menschen von der Welt, mit dem damals neuen Phänomen des Fernsehens. Durch Massenmedien werde uns die Welt entfremdet und in einem Vorgang der Pseudofamiliarisierung verbiedert, meinte Günther Anders schon damals. Wir selbst entwickelten uns dabei zu „Masseneremiten” und „voyeurhaften Herrschern über Weltphantome” (Anders 19801: 116).

Auf die behaglichen Puschenkinozuschauer der 1950er Jahre musste diese unversöhnliche Kritik am Fernsehen als moralinsaure Spielverderberei wirken. Wie ist sie heute, fast fünfzig Jahre später zu beurteilen, in einer Zeit, in der das Fernsehen für uns alle so selbstverständlich zum Alltag gehört, dass die Kritik daran keine bloße Warnung mehr sein kann, sondern der unbequemen Aufforderung gleichkommt, unser Leben zu ändern? Von heute aus betrachtet erzeugen Günther Anders‘ Thesen über das Fernsehen ein überraschend widersprüchliches Bild: Seine Kritik wirkt sowohl überzogen und überholt als auch prophetisch und aktuell, und diese Ambivalenz ist es wert, näher betrachtet zu werden.

Die gesendete Schla­raf­fen­welt

„Wenn die Welt zu uns kommt, statt wir zu ihr”, schreibt Günther Anders, „so sind wir nicht mehr ,in der Welt‘, sondern ausschließlich schlaraffenlandartige Konsumenten. […] Wenn sie zu uns kommt, aber doch nur als Bild, ist sie halb an- und halb abwesend, also phantomhaft. […] Wenn die dominierende Welterfahrung sich von solchen [mobilen und virtuell zahllosen] Serienprodukten nährt, dann ist (sofern man unter ,Welt` noch dasjenige versteht, worin wir sind), der Begriff ,Welt` abgeschafft, die Welt verspielt“ (Anders 1980 I: 11 lf.).
 

Allein der Hinweis, dass Anders‘ These vom Weltverlust in der Tradition kulturkritischer Entfremdungstheorien steht, reicht nicht aus, um sie zu adeln. Im Gegenteil – seine Formel vom Weltverlust muss zunächst einmal unter Sinnlosigkeitsverdacht gestellt werden. Denn wenn ,Welt` im Sinn einer Totalität verstanden wird, einer Allheit dessen, was der Fall ist, dann ist die These ihres Verlusts absurd. Um „Weltverlust” zu konstatieren, muss man einen außerweltlichen, einen „extramundanen” Standpunkt einnehmen können, zum Beispiel durch die Wendung vom Irdischen zum Göttlichen. Aber einen göttlichen Standpunkt hat der Atheist Günther Anders gewiss nicht im Sinn gehabt. Was also markiert den Gegenpol zur Welt, aus dem die These vom Weltverlust ihren Sinn bezieht?

Günther Anders‘ ,Welt` ist weder eine ontologische Kategorie im Sinn einer Allheit des Seins, noch ist sie, im Sinn Kants, eine regulative Idee, die auf Ganzheit zielt. Gemeint ist auch keine spezifische Seinsregion im phänomenologischen Sinn. ,Welt` ist für Anders vielmehr eine bestimmte Art der Erfahrung, die er mit Heideggers Begriff des „In-der-Welt-seins” bezeichnet. Genau genommen geht es um ein bestimmtes Weltverhältnis des Menschen, um das Verhältnis zu einem „Außen”, das nicht durch uns bestimmt und uns nicht gefügig ist, in dem wir uns verorten als in einem unbequemen, widerständigen Ansich. Dieses Weltverhältnis bildet die normative Basis für Anders‘ Kritik an der falschen, der phantomhaften Welt der Fernsehkonsumenten, die nach seiner Deutung der uralten Idee des Schlaraffenlands nachgebildet ist:

„Dieses Schlaraffenland ist, wie man sich erinnert, im ganzen essbar”, schreibt Anders, „mit Haut und Haaren, weil […] [diese Welt] ungenießbare Reste schon nicht mehr enthält. Und jener letzte ,Widerstand`, den die räumliche oder geldliche Distanz der Ware vom Konsumenten gewöhnlich darstellt, ist dort gleichfalls vernichtet, weil sich die Gegenstände, die ,gebratenen Tauben‘ selbst ,senden`, nämlich in die bereits offenen Mäuler hineinfliegen. Da die Stücke dieser Welt keinen anderen Zweck haben als den, einverleibt, verzehrt und assimiliert zu werden, besteht der Daseinsgrund der Schlaraffenwelt ausschließlich darin, ihren Gegenstandscharakter zu verlieren; also nicht als Welt dazusein. Und damit ist die heutige ,gesendete` Welt beschrieben.” (Anders 1980I: 195).

Verbie­de­rung, Phantom, Matrize

Verbiederung, Phantom, Matrize – das sind die Stichworte, mit denen Anders die entfremdete, falsche Welt des Fernsehens beschreibt, die als Ganze zur Lüge wird.

Verbiedert ist die Fernsehwelt in der Scheinvertrautheit, mit der sie in unser Zuhause kommt, in der nun auch das Ferne so nah liegt und den konzentrischen Aufbau von Nah und Fern des natürlichen Weltverhältnisses neutralisiert (Anders 1980 I: 110). Inder anbiedernden Heuchelei der Moderatoren, die uns begrüßen wie gute Freunde und sich verabschieden mit der Hoffnung, uns in der nächsten Sendung wieder zu sehen, als sähen sie uns wirklich und nicht nur wir sie, werden Fremde zu Schein-Bekannten. In der konsumgerechten Zurichtung zum gut verdaulichen Serienprodukt ist die Welt scheinbar für uns da, wann immer wir es wünschen.

Als Phantome sind die Fernsehbilder weder Wirklichkeit noch Schein, weder Gegenwärtiges noch bloße Repräsentanten von Abwesendem, sondern in ihrer Phantomhaftigkeit zweideutig: Sie sind wirklich und scheinbar, gegenwärtig und abwesend. Wirklichkeit und lebendige Gegenwart erfordern direkte sinnliche Erfahrung und die Fähigkeit zur Stellungnahme; beides aber bleibt uns vor dem Fernsehbild versagt. Was wir sehen, sehen wir sozusagen aus zweiter Hand, unsere Stellungnahme findet vor dem Fernseher kein Gehör. Und dennoch ist das, was wir sehen und hören, wirklich im Sinn von etwas, „was uns treffen kann und wovon wir abhängen” (Anders 1980 II: 251), und es ist gegenwärtig im Sinn eines fast ohne Zeitdifferenz ablaufenden Geschehens.

Günther Anders hat seine Deutung der phantomhaften Fernsehwelt als einer dritten Qualität neben Wirklichkeit und Schein noch überboten mit der These, die Differenz zwischen Wirklichkeit und Schein selbst werde durch das Fernsehen schließlich aufgehoben. Weil im Fernsehen zwischen Ernst und Scherz, Information und Unterhaltung und unserer Rolle „als moralisch-politisches Wesen oder Mußekonsument” (Anders 1980 I: 143) nicht mehr unterschieden werden könne, würden wir systematisch „der Fähigkeit beraubt, Realität und Schein zu unterscheiden” (Anders 1980 II: 252). Als Beispiel führt er die „vereinsamten alten Damen” an, die an den Ereignissen der Familienserien so lebhaften Anteil nehmen, dass sich in den Rundfunkhäusern Pakete voll gehäkelter Jäckchen für die Fernsehbabys stapelten (Anders 1980 I: 144). In der neueren Literatur wird das gleiche Phänomen illustriert durch die Zuschaueranfragen, die an den Fernsehsender gerichtet werden, sobald in der Lindenstraße eine Wohnung frei geworden ist.

An die These von der Aufhebung des Unterschieds zwischen Wirklichkeit und Schein knüpft Günther Anders‘ drittes Stichwort an, das der Matrize. „Wenn das Ereignis in seiner Reproduktionsform sozial wichtiger wird als in seiner Originalform, dann muss das Original sich nach seiner Reproduktion richten, das Ereignis also zur bloßen Matrize ihrer Reproduktion werden.” (Anders 1980 I: 111). Weniger abstrakt gesprochen: Wenn nicht mehr das Ereignis selbst zählt, sondern erst die Verbreitung seiner Bilder im Fernsehen, dann ist es nur konsequent, wenn das Ereignis gleich fernsehgerecht inszeniert wird. Wenn Studierende auf die dramatisch schlechten Bedingungen ihres Studiums aufmerksam machen wollen, dann tragen sie einen Sarg mit der Aufschrift „Studium” über den Campus, nicht ohne vorher das Fernsehen eingeladen zu haben. Und erst wenn diese Bilder in den abendlichen Nachrichten erscheinen, hat die Demonstration ihren Sinn gefunden. Die Welt als Matrize – damit bezeichnet Anders ein Phänomen, das Daniel Boorstin in seinem Buch Das Image einige Jahre später, 1961, unter dem Begriff der „Pseudo-Ereignisse” zusammengefasst hat, und das bis heute Gegenstand der Medienkritik und der empirischen Medienwirkungsforschung ist.

Zwischen Verpro­vin­zi­a­li­sie­rung und falscher Globa­li­sie­rung

Wie ist nun Günther Anders‘ Sicht auf das Fernsehen heute zu beurteilen? Seine Begriffe der ,Verbiederung`, der ,Phantom- und Matrizenwelt‘ bieten m.E. auch nach fünfzig Jahren einen geeigneten Rahmen für die Analyse der Fernsehwelt – wenn man auf den irreführenden Begriff des „Weltverlusts” verzichtet sowie auf die überzogene These, die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Schein selbst würde durch das Fernsehen aufgehoben.

Dass die Nivellierung von Nah und Fern, die er als „Verbiederung” kritisiert, auch positive Wirkungen haben könnte, hat Anders in der Antiquiertheit des Menschen zugestanden: Insofern die Gefahr der „Verprovinzialisierung” nicht geringer sei, als die der „falschen Globalisierung”, wären Techniken erforderlich, die unseren moralischen Gegenwartshorizont über den sinnlichen Umkreis hinaus erweitern könnten (Anders 1980 I: 134). Seine pessimistische Einschätzung, das Fernsehen sei für eine solche Erweiterung kein geeignetes Medium, hat Anders später teilweise revidiert. Unter dem Eindruck der weltweiten Proteste gegen den Vietnam-Krieg räumt er 1979 ein, „dass Fernsehbilder doch in gewissen Situationen die Wirklichkeit, deren wir sonst überhaupt nicht teilhaftig würden, ins Haus liefern und uns erschüttern und zu geschichtlich wichtigen Schritten motivieren können. Wahrgenommene Bilder sind zwar schlechter als wahrgenommene Realität, aber sie sind doch besser als nichts.” (Anders 1980 I: VIII)

Welche Konsequenz hat dieses Zugeständnis für Anders‘ Kritik? Greift seine Revision nicht zu kurz – sind wahrgenommene Fernsehbilder tatsächlich in jedem Fall schlechter als wahrgenommene Realität? Können wir nicht in manchen Fällen froh sein, manche Ereignisse nur als Bilder, aber immerhin als solche gesehen zu haben? Warum führt das Fernsehen in manchen Fällen zur Erweiterung unseres moralischen Horizonts und in anderen nicht? Hat Anders das Fernsehen, das nach seiner Überzeugung weit mehr als nur ein Mittel ist, in seiner Manipulationswirkung überschätzt, unsere Möglichkeiten der Mediennutzung hingegen unterschätzt?

Weil der Kulturkritiker Anders das Fernsehen zur beherrschenden Signatur der Gesellschaft erhebt, der alle anderen Weltverhältnisse untergeordnet werden, fallen Welt und Fernsehwelt, Mensch und Fernsehkonsument in falschen Totalisierungen zusammen. Im Stil einer paternalistischen Verblendungskritik verweist er auf die häkelnden Damen, die zwischen Fernsehwelt und wirklicher Welt nicht mehr unterscheiden können und damit symptomatisch für uns, aber nicht für ihn, den Kritiker stehen. Denn nur weil er zwischen Sein und Schein trotz allem unterscheiden kann, ist seine Kritik am Verschwinden dieser Differenz möglich. Wenn zumindest der Kulturkritiker in der Lage ist, sich dem suggestiven Schein der Fernsehbilder zu entziehen, dann muss das als Beleg dafür genommen werden, dass nicht das Medium Fernsehen selbst die Verblendung diktiert, sondern dass der falsche, nämlich unaufgeklärte oder missbräuchliche Umgang damit zum Realitätsverlust führen kann.

Heute, fünfzig Jahre später, sind die häkelnden alten Damen trotz der gesteigerten Verbreitung des Fernsehens, trotz der Zunahme der Sender und Sendungen und trotzdes aktuellen Beispiels aus der Lindenstraße eine Randerscheinung geblieben, mit der sich kein Fernsehkritiker und kein Leser fernsehkritischer Texte im Ernst identifiziert. Selbst wenn wir gelegentlich in den Irrtum verfallen mögen, einen Schauspieler mit seiner Rolle, einen Moderator mit seinem Image zu identifizieren, sind unsere Kategorien von Wirklichkeit und Schein doch noch soweit intakt, dass wir dies als Irrtum aufklären können. Anders‘ Kategorie der Phantomwelt als einer dritten Qualität zwischen Realität und Schein bietet dagegen eine viel überzeugendere Grundlage für die Interpretation unserer Medienwirklichkeit – eine Kategorie, die auch unser moralisches Dilemma in der Nivellierung zwischen Nah und Fern, zwischen „Verprovinzialisierung” und „falscher Globalisierung” beleuchten kann.

Die Flutkatastrophe in Südostasien im Dezember 2004, die in Europa ausschließlich als Fernsehbild erlebt wurde, ist für die Fernsehzuschauer weder wirklich erfahrbar gewesen, noch ließ sie sich als bloßer Schein, als bloßes Bild aus der Wirklichkeit ausgrenzen. Diese Bilder sind genau das, was Günther Anders als „Phantome” beschreibt: Sie sind keine wirkliche Erfahrung, sondern Erfahrung aus zweiter Hand und sind doch wirklich als etwas, was uns treffen kann; sie sind keine lebendige Gegenwart, weil wir in unseren Wohnzimmern gar nicht beteiligt sind, und sind doch gegenwärtig, weil wir wissen, dass etwas jetzt geschieht, das Handeln erfordert. Die Fernsehphantome erzeugen eine so unvermeidliche wie obszöne Gleichzeitigkeit von behaglicher Sicherheit und schreiender Not, die in manchen Fällen schwer auszuhalten ist, die wir aber in der Regel gleichmütig hinnehmen.

Wenn in den Tagen oder Wochen nach einer solchen Katastrophennachricht die Bilder der verwüsteten Landstriche und der verstörten Menschen sich nur noch zu wieder-holen scheinen, wenn schließlich alle erdenklichen Aspekte in allen einschaltbaren Fernsehrunden erörtert sind, haben wir unsere Möglichkeiten als Fernsehkonsumenten ausgeschöpft und gehen zu anderen Themen über – was sollten wir anderes tun? Sollten wir das Leid der Welt von Anfang an aus unseren Wohnzimmern verbannen, weil wir ihm doch nicht gerecht werden können? Das wäre, mit Anders gesprochen, der Weg der „Verprovinzialisierung”, der für niemanden heute mehr eine reale Option darstellt. Die Option kann nur sein, die „falsche Globalisierung” zu einer richtigen zu machen. Aus dieser Perspektive sind die Phantombilder des Fernsehens, die wir als eine eigene Medienwirklichkeit längst in unseren Alltag integriert haben, kein Weltverlust, sondern ein Gewinn für unsere Welt, mit dem umzugehen wir allerdings erst lernen müssen.

Die virtuelle Öffent­lich­keit der Masse­n­e­re­miten

Die Frage nach unseren Umgangsformen mit dem Fernsehen im Dienst einer richtigen Globalisierung, nämlich einer real gestalteten und moralisch vertretbaren Globalisierung, verweist auf eine weitere Facette der Kritik von Günther Anders, für die sein Stichwort des Masseneremiten steht. Auch der „Masseneremit” ist bei Anders das Produkt eines Verlusts, nämlich des Verlusts der lebendigen Gegenwart der Welt, in der Erfahrung und Stellungnahme ein gegenseitiges Verhältnis bilden.

Masseneremiten, die massenhaft aber jeweils allein in ihren Wohnzimmern mit Nachrichten über die Welt beliefert werden, sind wir in der Tat erst durch das Fernsehen geworden. Zwar konfrontieren uns auch Zeitung oder Radio als vereinzelte Medienkonsumenten mit Nachrichten über die Welt, ohne eine Möglichkeit zur direkten Stellungnahme zu bieten. Aber erst das Fernsehen als Bild- und Tonmedium mit der Möglichkeit zu sogenannten „Live-Übertragungen” hat die Suggestion eines echten Kommunikationserlebnisses so gesteigert, dass es mehr und mehr als Ersatz realer Kommunikation fungiert.

„In politisch brenzlichen [sich] Zeiten eilen wir nachhause, um durch die Medien zu erfahren, was es ,draußen` gibt”, konstatiert Anders (Anders 1980 II: 84). Und er ergänzt in diesem Zusammenhang seine Diagnose der Verbiederung durch die These von der „Zellenmentalität” der Masseneremiten (Anders 1980 II: 82), die auch in der Außenwelt ihr Solistentum nicht mehr ablegen: „So wie die Außenwelt durch die Medien ins Haus gebracht wird, so wird umgekehrt die Zuhause-Mentalität in die Außenwelt mithinausgenommen.” (Anders 1980II: 85)

Nicht die Tatsache, dass durch das Fernsehen „Meinungen heute genauso geliefert werden wie alle anderen Fertigwaren”, entzieht den bestehenden Demokratien die Basis, wie Anders meint, sondern die Tatsache, dass es neben diesem Supermarkt der Fertigwaren allenfalls noch elitäre Nischen des Kunsthandwerks für Meinungen gibt, aber keinen politisch relevanten, als öffentlich erfahrbaren Raum lebendiger Auseinandersetzung. Der eigentliche Verlust, oder weniger rückwärtsgewandt formuliert: die eigentlich gravierende Lücke, die das Fernsehen geschlagen hat, liegt hier, in der politischen Öffentlichkeit. Nicht das Verschwinden der Differenz von Wirklichkeit und Schein ist das Problem, das wir durch die verwirrende Mixtur von Ernst und Unernst der Fernsehbilder zu bewältigen haben, sondern der fließende Übergang von der moralisch-politischen Teilhabe zum unterhaltungsorientierten Konsum. Dies ist aber nicht, wie es u.a. die Thesen Neil Postmans nahe legen, in erster Linie ein Problem der Qualität der Sendungen und ihrer Neigung zum infotainment. Es ist vielmehr ein strukturelles Problem der Situation, in die wir uns als Fernsehzuschauer gebracht haben.

Das moralisch Anstößige der Gleichzeitigkeit unserer behaglichen Sicherheit im Fernsehsessel und der schreienden Not, die uns manche Phantombilder des Fernsehens liefern, liegt nicht darin, dass es auf der Welt gleichzeitig glückliche und unglückliche Menschen gibt. Auch das erleben wir durchaus als moralisch anstößig, wenn wir uns verantwortlich fühlen für das allgemeine Wohl. Aber das ist keine Anstößigkeit, die das Medium verursacht. Die vom Fernsehen verursachte moralische Anstößigkeit liegt darin, dass wir vor dem Fernseher zu bloßen Voyeuren des Unglücks anderer werden, und zwar auch dann, wenn die Journalisten sich um einen seriösen und respektvollen Stil der Berichterstattung bemühen. Ohne die konkrete Gegenwart der Situation, ohne die Gegenseitigkeit der Kommunikation und damit die Möglichkeit, auf das phantomhaft Erlebte zu reagieren, sind wir, wie Günther Anders es ausdrückt, „der Lieferung ausgeliefert” (Anders 1980 II; 130, 197).

Das Internet als Massenmedium hat diese „Einwegkommunikation” in mancherlei Hinsicht durchbrochen und mit der Möglichkeit der massenhaften Teilnahme an globalen Kommunikationsprozessen eine ,virtuelle Öffentlichkeit‘ geschaffen, die nicht an die Identität von Raum und Zeit gebunden ist. Im Verbreitungsgrad allerdings kann das Internet mit dem Fernsehen noch nicht konkurrieren — und deshalb bleibt bis auf weiteres das Fernsehen das Leitmedium der politischen Öffentlichkeit.

Spenden­samm­lung, Verbre­cher­jagd und die Lust am Handeln

Die Flutkatastrophe in Südostasien ist ein außergewöhnliches Beispiel einer Fernsehnachricht, die uns beeindruckt und den moralischen Impuls zum Handeln weckt. Die meisten Informationen und Bilder des Fernsehens hinterlassen keinen in seiner Wirksamkeit vergleichbaren Eindruck. Es gelingt ihnen gar nicht erst, die Aufmerksamkeit einer relevanten Gruppe von Zuschauern zu bündeln. Bei Naturkatastrophen in fernen Gegenden sind außerdem nicht nur unsere unmittelbaren Handlungsmöglichkeiten begrenzt, auch die Suche nach Schuldigen und die Resignation vor unüberschaubaren politischen Verhältnissen bleiben begrenzt. So gelingt es dem Fernsehen in diesem Fall sogar, durch Spendenaufrufe und Berichte über die Arbeit der Hilfsorganisationen vor Ort uns nicht nur Phantombilder, sondern auch reale Handlungsoptionen zu zeigen. Betrachten wir aber die verschiedenen langfristigen Probleme, die durch eine solche Naturkatastrophe und mehr noch durch andere Ereignisse wie zum Beispiel gewalttätige Konflikte aufgeworfen werden, wird das Feld der Handlungsmöglichkeiten wieder unübersichtlich. Diese Unübersichtlichkeit selbst ist sicher keine neue, die uns erst das Fernsehen beschert hätte. Die Wirkung des Fernsehens besteht darin, dass es uns handlungsrelevante Nachrichten liefert, ohne einen Raum zu eröffnen, in dem unsere Reaktionen darauf stattfinden könnten.

In Fällen wie der Flutkatastrophe, in denen es dem Fernsehen gelingt, uns nicht allein als Zuschauer anzusprechen, sondern auch zum Handeln zu bringen, eröffnen sich allerdings neue Probleme: Das Fernsehen wird selbst zum Akteur im politischen Prozess, der eine bestimmte Strategie vertritt und seine Berichte und Sendungen dieser Strategie unterordnet. So werden Berichte über ineffektive Verwendungen von Spendengeldern vermutlich eher vermieden. Zudem mündet die politische Strategie unvermeidlich auf das Feld, auf dem das Fernsehen immer schon Akteur ist, nämlich auf den Markt der Konkurrenz um Aufmerksamkeit. Die Zählung der Spenden, der Charity-Count, verselbständigt sich parallel zum Body-Count zum Aufmerksamkeitsmagnet. Die fortgesetzte Berichterstattung über die Katastrophenregion auf allen Kanälen er-zeugt bei den Zuschauern den gleichen Effekt wie Reality-Serien: Wir schalten uns ein, um zu sehen, wie es dort unten nun weitergeht. Trotzdem ist gerade die Spendensammlung durch das Fernsehen sicher ein Beispiel, das nicht Kritik, sondern Unterstützung verdient. In anderen Fällen, in denen das Fernsehen zum Handeln aufruft, ist die Kritik eher angebracht, z.B, wenn XY ungelöst die Zuschauer zur Verbrecherjagd animiert. Letztlich kann es nicht darum gehen, dem Fernsehen selbst abzuverlangen, uns auch noch die Arena zu bereiten, in der wir real handeln könnten, und uns die Optionen vorzugeben, nach denen wir handeln sollen — das Ergebnis solcher Verknüpfung ist, wie Günther Anders gezeigt hat, die Welt der Matrize, die fernsehgerecht inszenierte Wirklichkeit.

Es geht aber umgekehrt auch nicht um die Forderung nach Abschaffung des Fernsehens, die Günther Anders nahe legt. Auch geht es nicht allein um seine Verbesserung oder Ergänzung durch andere Technologien wie das Internet, um die Einseitigkeit der Kommunikation und die erzwungene Sprachlosigkeit der Zuschauer aufzuheben. Wenn wir nicht dem fatalistischen Tenor eines Weltverlustschmerzes verhaftet bleiben wollen, müssen wir das demokratische und globalisierende Potential der neuen Medienwirklichkeit nutzen und ihr eine lebendige politische Öffentlichkeit zur Seite stellen. Worauf es heute wie damals vor allem ankommt, ist die Ergänzung der technisch vermittelten durch eine lebendige Kommunikation, die sich als öffentliche erfahren kann.
Im Prozess der richtigen, also realen und moralisch vertretbaren Globalisierung ist das Fernsehen nicht nur ein Gewinn, sondern bis auf weiteres unverzichtbar. Den Zeitpunkt des Absprungs zu bestimmen, den Moment, bevor die Medienkommunikation beginnt, als Ersatz statt als Vermittler lebendiger Kommunikation zu fungieren, diese Leistung müssen wir selbst erbringen. Es bleibt zu hoffen, dass das von Hannah Arendt so emphatisch hervorgehobene Charakteristikum des Menschen als eines zur Politik begabten Wesens, nämlich die Lust am Handeln, zumindest hin und wieder dafür sorgen wird, dass uns dieser Absprung gelingt.

Weil es praktisch nicht um die Abschaffung des Fernsehens geht, sondern um seine richtige Nutzung und Ergänzung als Medium der Öffentlichkeit, greift der philosophische Ansatz der Kulturkritik allein zu kurz. Die Kulturkritik fragt nach den strukturellen Auswirkungen eines solchen Massenmediums auf unsere Kultur. Ergänzt werden muss sie um die gesellschaftstheoretische Perspektive, die die Massenmedien als Institution in das übergeordnete Gefüge der gesellschaftlichen Institutionen einordnet. Beide Perspektiven bedürfen drittens der Ergänzung durch empirische Medienforschung und durch Medienethik, die die praktischen Voraussetzungen und Normen der Mediengestaltung und -nutzung in den Blick nimmt. Günther Anders‘ Kategorien der Verbiederung, der Phantom- und Matrizenwelt und des Masseneremiten können für diese verschiedenen Ebenen der Medientheorie einen übergreifenden Rahmen bieten, der dazu beitragen mag, dass wir unsere Welt nicht verlieren, sondern verstehen und gestalten.

Literatur

Anders, Günther 1980 [1956]: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution; Bd. II: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München

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