Die demokratische Verantwortung der Medien
Warum die Rückbesinnung auf einen aufklärerischen Journalismus Not tut*,
aus: vorgänge Nr. 173 (Heft 1/2006), S. 106-113
I. Einleitung
Vor einigen Monaten teilte ich mit einigen Journalisten eine Taxi-Fahrt vom Flughafen zu einer Konferenz. Ihr lebhaftes Gespräch – sie waren alle in sog. kritischen Medien tätig – drehte sich durchweg um Quoten, Aufmacher und eye catcher. Dabei ging es durchaus differenziert um ästhetische Fragen und um den Zusammenhang zwischen Aufmacher und Quote – und je höher sie war, desto mehr leuchteten die Augen und desto mehr wuchs der kollegiale Respekt. Das Gespräch wirkte sehr professionell, und man bezog sich auf einen breiten Fächer empirischer Veranschaulichungen. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Priorität der Quote und der demokratischen Verantwortung der Medien stellten sich die Journalisten nicht, sie hätte auch in diesem Zusammenhang ziemlich deplatziert gewirkt – zu grundsätzlich, abstrakt, theoretisch abgehoben. Die Diskrepanz zwischen dem, was diese ganz und gar sympathischen Journalisten offensichtlich vorrangig bewegte und dem, was mich selbst umtrieb, die Diskrepanz nämlich zwischen den Bedingungen des täglichen Erfolgs, der zum individuell-professionellen wie zum institutionellen Überleben der Medien notwendig ist, und dem, was ich als die zentrale und überaus wichtige Verantwortung der Medien in der Demokratie halte, beschäftigt mich nicht erst seit dieser Flughafenfahrt.
Denn kein Mensch würde bestreiten, dass die Medien in der Demokratie eine überaus wichtige Rolle spielen. Aber können sie sich darum angesichts der harten Konkurrenz auf dem Markt überhaupt noch kümmern? Müssen sie nicht in erster Linie eben auf jene Quoten und Absatzzahlen achten, um sich zu behaupten? Sind dazu nicht alle Mittel, die wir im Kampf der Medien beobachten, erforderlich? Kann man infolgedessen die Kluft zwischen der allgemein akzeptierten Grundannahme ihrer demokratischen Verantwortung und den Bedingungen des Geschäfts überhaupt noch überwinden? Oder sollten wir das schöne demokratische Postulat einfach beiseite legen und uns statt dessen auf die insbesondere ökonomisch erfolgreiche Bewältigung des Medienalltags konzentrieren?
Ich meine nicht und möchte diese Ablehnung mit einigen Thesen und Beobachtungen erläutern. Zuvor aber möchte ich mich an einer genaueren Formulierung dessen versuchen, was ich die demokratische Verantwortung der Medien nenne. Ob es am Ende, wie man das immer möchte, Lösungsvorschläge geben wird, das kann ich noch nicht versprechen. Zunächst also mein Versuch genauer zu bestimmen, worin die demokratische Verantwortung der Medien liegt.
II. Demokratietheoretische Überlegungen
Die moderne Demokratie entstand – auf der Grundlage eines vorher entwickelten Rechtsstaates – nicht als direkte Demokratie, sondern bedurfte seit dem 19. und erst recht im 20. Jahrhundert der Vermittlung durch Medien, die für eine breitere Öffentlichkeit Informationen und Diskussionen von politischen Vorstellungen und Parteien aufbereiteten und verbreiteten. Das hat einen technischen und einen demokratietheoretischen Aspekt.
Der technische liegt in der Notwendigkeit, Kommunikation auch zwischen den Bürgern herzustellen, die sich nicht direkt miteinander austauschen können. Vermittlung ist also aus rein praktisch-empirischen Gründen notwendig. Solche Vermittlung ist aber nicht als neutral-transparente Übergabe denkbar, sondern wirkt notwendig auf den Inhalt und die Art der Kommunikation ein. Denn genauso wie es keine Erkenntnis als sog. objektive Wiedergabe einer sog. objektiven Wirklichkeit gibt – die Lenin’sche Widerspiegelungstheorie gehörte im übrigen zu den erkenntnistheoretisch vielleicht naiven, aber jedenfalls philosophisch unhaltbaren Elementen eines totalitären Kommunismus –, genauso gibt es keine „objektive“ Kommunikation, Mitteilung, Weitergabe von Nachrichten oder Meinungen. Eine Auswahl aus der prinzipiell unendlichen Zahl von Nachrichten und eine damit einhergehende Perspektivität mit wertenden Implikationen über ihre Wichtigkeit bzw. Bedeutung ist unvermeidbar.
Dieses Dilemma kann in einer modernen pluralistischen Demokratie, die nicht nur faktisch eine Vielfalt von Interessen enthält, sondern sie auch als legitim akzeptiert, nicht prinzipiell überwunden, sondern nur demokratiekonform gestaltet werden. Die Grundmaxime dafür liegt in der Forderung, das Spektrum der Interessen breit zu halten, ihr Gewicht vor Einseitigkeit zu schützen und den Raum für eine kontroverse Diskussion zu sichern. Sie bietet die Chance, die einzelnen Interessen und Prioritäten mit Kriterien des Gemeinwohls zu vergleichen, etwa gemäß dem Habermas’schen Kriterium der Verallgemeinerbarkeit der Interessen, und damit zugleich argumentativ die Vielfalt der Lösungsmöglichkeiten und gewollten bzw. ungewollten Folgen und Implikation möglicher Entscheidungen auszuloten, was der Solidität und der Gemeinwohlorientierung der Entscheidung zugute kommen soll. Damit führt bereits der technische Aspekt der Vermittlungsaufgabe von Medien zum zweiten demokratietheoretischen, d.h. zur demokratischen Verantwortung der Medien.
Denn wenn Demokratie die gleichberechtigte Teilhabe aller Bürger an der Politik bedeutet und Politik im Wesentlichen die Vorbereitung und Durchführung von Entscheidungen – oder auch Nicht-Entscheidungen bzw. Blockaden – in Bezug auf Angelegenheiten meint, die kontrovers beurteilt werden und alle Bürger betreffen und binden, dann haben gemeinwohlorientierte Ziele nur eine Chance, wenn sich die Bürger darüber verständigen, wenn sie möglichst erschöpfend darüber argumentieren und die Implikationen von Entscheidungen offen legen können. Öffentlichkeit wurde so Jahrzehnte lang demokratietheoretisch als eine Art Filter angesehen, der partikularistische oder willkürliche Politik herauszufinden hilft und das demokratische Gemeinwohl befördert. Immanuel Kant hat es ganz im gleichen Sinne als eine Art Test für die Gerechtigkeit von Entscheidungen bezeichnet, wenn sie zu ihrer Verwirklichung der Öffentlichkeit bedürfen, wozu gehört, dass die Öffentlichkeit dem zustimmen und eine gerechte Interessenabwägung durchführen kann. Wenn man dagegen im Dunkeln munkelt, bleibt die Gerechtigkeit leicht auf der Strecke.
Damit ist zugleich gesagt, dass Demokratie, wie ich sie hier verstehe, nicht einfach ein wertmäßig neutrales Entscheidungsverfahren meint. Vielmehr begreife ich sie als eine normativ gestaltete politische Verfassung und Lebensform. Entsprechend ihrer ideengeschichtlichen wie grundgesetzlichen Bestimmung dient sie dem Ziel, die gleiche Würde aller Menschen im Sinne ihres gleichen Rechts und ihrer gleichen Pflicht zur Freiheit, d.h. zur selbstbestimmten und verantworteten Lebensführung und solidarischen Teilhabe am Gemeinwesen, zu verwirklichen. Zu ihrer Realisierung und Festigung braucht es nicht nur Gesetze und organisierte Institutionen, sondern auch eine politische Kultur, die die die angemessene Handhabung der Institutionen unterstützt. Wir kennen die Maxime, dass Gesetze ihrem Geiste und Buchstaben gemäß angewendet werden sollen. Wir wissen auch, dass man sie immer missbrauchen oder pervertieren kann, weil sich die Wirklichkeit, auf die sie angewendet werden sollen, in kein Gesetz ganz einfangen lässt. In Bezug auf die Gerechtigkeit hat Aristoteles deswegen in seiner berühmten Nikomachischen Ethik am Ende seiner Ausführungen zur Gerechtigkeit das „Gütige“ als ihren Gipfel gerühmt. Es besteht darin, auf ein eigenes Recht zu verzichten, wenn seine Einforderung eine größere Ungerechtigkeit nach sich ziehen würde. Das Gütige als Grundhaltung brauchen wir, so Aristoteles, in einem freiheitlichen Gemeinwesen, weil sich die Gerechtigkeit nie ganz in eine Gesetzesregelung umsetzen lässt.
Wenn Demokratie also auf kulturelle Unterstützung angewiesen ist, dann betrifft das einerseits die Grundhaltung der Bürger. Autoritäre Persönlichkeiten, die ihr individuelles Urteilsvermögen ungefragten Autoritäten unterordnen, die ihren Mitbürgern eher misstrauisch begegnen und nicht leicht mit ihnen kooperieren, die also – das gehört ins Bild – weder Fremd- noch Selbstvertrauen und infolgedessen auch keine Zukunftszuversicht aufbringen, Bürger, die ungeniert ihre partikularen Interessen verfechten, ihre Macht ausnutzen und sich um Fairness nicht scheren, Menschen, die sich abgewöhnt haben, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden oder die die Lüge für ein vertretbares Mittel halten, Gegner auszuschalten – können eine Demokratie nicht aufbauen oder bewahren. Sie zerstören dass Grundvertrauen, das Menschen sowohl für die mutige Gestaltung ihres privaten Lebens als auch für das Gelingen eines freiheitlichen Gemeinwesens, das eben grundsätzlich auf freiwilligen Gehorsam und freiwillige Kooperation baut, brauchen. Vertrauen ist die kulturelle Nahrung, ohne die eine Demokratie verkümmert, ohne die sich die Bürger und Interessengruppen gegenseitig im Wege stehen und blockieren, anstatt die Kraft zur Gemeinsamkeit aufzubringen und etwas zu ihrem gemeinsamen Wohl aufzubauen.
Diese Grundhaltung ihrerseits wird aber – und dies ist das zweite – nicht gedeihen, wenn die Medien ihr zuwiderhandeln, anstatt sie ihrerseits zu fördern. Wenn Bürger einseitig informiert werden, dann fördert dies Misstrauen, weil es der Komplexität der Wirklichkeit und der gesellschaftlichen Wahrnehmungen, Ansprüche und Interessen nicht gerecht wird. Wenn Medien jenseits der oben kurz skizzierten grundsätzlich-philosophischen Schwierigkeit, angemessen, d.h. in pluralistischer Breite zu kommunizieren, einer ganz anderen Logik folgen, wenn sie um ihres Überleben willen vor allem auf Gewinn aus sein müssen und deswegen verzerrende Kampagnen betreiben, anstatt aufzuklären, dann werden sie ihrer demokratischen Grundverantwortung, an einer gemeinwohlorientierten Öffentlichkeit mitzuarbeiten und damit das gesellschaftliche Vertrauen, das die Demokratie braucht, mitzuschaffen, nicht gerecht.
III. Kritische Thesen
Vor dem so skizzierten demokratietheoretischen Hintergrund möchte ich nun zur gegenwärtigen Situation der Medien sechs kritische Thesen vorstellen und erläutern, um am Ende, anknüpfend an mein Taxierlebnis, einige Schlussfolgerungen zu ziehen.
Der Medienberichterstattung, besonders dem Fernsehen, wohnt ein Hang zum Negativismus und zugleich zur Vereinfachung komplizierter Zusammenhänge inne, der sich gerade in der momentanen Situation umfassender gesellschaftlicher Reformen destruktiv auswirkt.
Dies stellt die Verlässlichkeit in die Zurechenbarkeit des Medienhandelns in Frage.
Der „Code der Medien“ macht es für den Zuschauer schwierig, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.
Journalisten arbeiten nicht nur für ihr Publikum, sondern orientieren sich immer stärker an der Medienkonkurrenz. Ausschlaggebend für die Berichterstattung ist oftmals nicht mehr, welches Informationsbedürfnis die Zuschauer oder Leser haben, sondern wie die Kollegen und vor allem die Konkurrenz eine vermeintlich exklusive Nachricht bewerten.
Medien werden selbst zunehmend zu politischen Akteuren und schaffen die von ihnen gespiegelten Diskurse selbst.
Dies wirft die Frage nach der gesellschaftlichen Legitimation des Journalismus auf.
Ich beginne mit dem Hang zum Negativismus und zur Vereinfachung. Wir alle wissen, dass sich Medienberichterstattung an bestimmten Nachrichtenfaktoren orientiert. Das garantiert ihre Aktualität und die richtige Priorisierung der eingehenden Nachrichten, macht die Medien aber gleichzeitig anfällig für politische Inszenierungen, die auf genau diese Nachrichtenfaktoren abzielen. Der Zwang zur Personalisierung und zur Eindeutigkeit macht es sehr schwer, mit bestimmten Inhalten durchzudringen. Man rennt als Wissenschaftler manchmal wie gegen eine Wand, wenn man ein neues, als wichtig erachtetes Thema in den Mediendiskurs einführen will. Es gibt offensichtlich eine Komplexitätsdimension, die in den Mainstream-Medien nur schwer abbildbar ist. Vor allem aber stört mich der Nachrichtenfaktor des Negativismus. Nachrichten sind offenbar nur solange gut, wie sie schlecht sind. Wo ist denn das im Dezember 2004 überall prophezeite Chaos auf den Arbeitsämtern in den ersten Tagen von Hartz IV geblieben? Warum gab es einen kollektiven Medien-Aufschrei, als die Arbeitslosenstatistik im Februar 2005 die Fünf-Millionen-Marke nahm? Die Politik hatte diesen Anstieg klar vorausgesagt und auch so kommuniziert. Nur wurde dies vor dem Eintreten des Ereignisses nicht zur Kenntnis genommen. Warum sieht man denn im Fernsehen so wenig darüber, dass die Gesetzliche Krankenversicherung im letzten Jahr ein Plus von vier Milliarden Euro gemacht hat? Ich möchte behaupten: weil in der journalistischer Logik gute Nachrichten keinen rechten Platz haben.
Das führt mich zum zweiten Punkt, der Verlässlichkeit in die Zurechenbarkeit des Medienhandelns. Medien müssen kurzfristig ihre Zuschauer und Leser für sich gewinnen, brauchen täglich die Neuigkeit. Konsistenz wird unwichtig, der laute Skandal hingegen zur Erfolgsbedingung. Daraus ergeben sich zum Beispiel in der Berichterstattung über politische Reformen problematische Muster: Erst werden die Reformen abstrakt gefordert, dann werden ihre konkreten Nebenwirkungen beklagt, dann technische Umsetzungsmängel moniert und noch vor bevor sie in Kraft treten, wird ihr Scheitern verkündet. Wenn im Zuge einer solchen Entwicklung die Entkoppelung von politischer Thematisierung und medialer Spiegelung zum Dauerzustand wird, besteht die Gefahr, dass umfassendere Reformprozesse schon allein deswegen nicht gelingen können, weil durch die Berichterstattung das in der Bevölkerung nötige Vertrauen in die Wirksamkeit der Reformen zerstört wird. Zudem hat man den Eindruck, dass die rapide Reduktion fest angestellter Mitarbeiter in den Medien die Qualität der Recherche und der Analyse erheblich beeinträchtigt. Oft wirkt es so, als ob ein Journalist vom anderen abschreibt und, weil einfach die Zeit zur gründlichen Vorbereitung nicht da ist, sicherheitshalber das wiederholt, was sich schon als öffentlich akzeptiert bewährt hat. Man geht dann kein Risiko ein, aber es fehlt für eine gründliche öffentliche Sachdebatte die begründete Kontroverse, die hilft, die Tragfähigkeit von Argumenten auszuloten. Staat dessen gehen Meinungsmoden wie hohe Wellen über uns her, und es scheint am klügsten, einfach unter ihnen durch zu tauchen.
Politikerinnen und Politiker, die für ihre Sache einstehen, haben es schwer, dagegen anzukommen. Aber es ist nötig, dass sie es schaffen. Denn die Anpassung an die medialen Stimmungsschwankungen ist gefährlich: Nur eine davon unabhängige Politik ist in der Lage, mittel- bis langfristige Prozesse zu gestalten und das Vertrauen der Bürger zu gewinnen. Das gilt z.B. angesichts des Aufschreis, den Franz Münteferings ja durchaus zutreffende Anmerkungen zum Zustand unseres Wirtschaftssystems ausgelöst haben. Er hat eine Debatte angestoßen, die wir führen müssen, schon lange hätten führen müssen. Skandalgeschrei aus eigener strategischer Erwägung ist da fehl am Platz. Auch hier findet sich – allerdings nicht nur bei den Medien, sondern auch bei vielen anderen Verantwortungs- und Entscheidungsträgern in unserer Gesellschaft – die Gefahr einer unverantwortlichen Vereinfachung, auch einer unredlichen Zuspitzung des jeweils Gesagten.
Bedacht werden müssen – damit komme ich zum dritten Punkt – auch die spezifischen Bedingungen, unter denen die Medien, und hier auch wieder besonders das Fernsehen ihre Botschaften verbreiten. Denn politische Kommunikation findet hier vor dem Hintergrund ständig aufsteigender und absinkender Spannungen, wechselnder Gefühlsaufwallungen und immer neuer Reize sowie einer merkwürdigen Abfolge von Wichtigem und Unwichtigem statt. Der „Code der Medien“, vor allem die Programmierung des Fernsehens mit ihrem Wechsel aus Information und Unterhaltung, Sport, Dokumentation und Fiktion, lässt einen Brei entstehen, der sich im Kopf des Zuschauers zu einem Gesamtbild verrührt. Dort, wo der politische Diskurs direkt an die soap opera anschließt, wo Räsonnement und Geballer sich berühren, entsteht nur selten ein optimales Rezeptionsumfeld. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Menschen über Spitzenpolitiker nicht nur genauso reden wie über Derrick, sondern sie auch nach den selben Kriterien beurteilen.
Vor allem aber frage ich mich, ob die Medienberichterstattung unter dem verschärften Konkurrenz- und Aufmerksamkeitsdruck der Berliner Republik es nicht oft übersieht, danach zu fragen, was nun für die Öffentlichkeit wirklich relevant ist. Vielfach scheint es mir, dass Journalisten primär für andere Journalisten berichten. Hier sehe ich ein Qualitätsproblem erwachsen: Wenn Berichterstattung nicht mehr für das Publikum gemacht wird, sondern für die Kollegen und die Konkurrenz. Ich habe ein paar Mal Interviews gegeben, die mir eigentlich nicht besonders provokant erschienen. Ich habe aber gemerkt, dass die jeweiligen Interviewer an nur einer einzigen Aussage aus dem ganzen Kontext interessiert waren. Und die haben sie dann sofort zu einer Agenturmeldung gemacht: „Schwan kritisiert Schröder“ oder „Schwan greift Merkel scharf an“. Da ging es eigentlich in dem ganzen Gespräch nur darum, eine Aussage aus mir herauszukitzeln, mit der man dann von anderen Zeitungen zitiert wird. Der kommunikative Mehrwert solcher Aktionen scheint mir gering. Sie blieben in meinen Umgang mit Journalisten freilich auch die Ausnahme.
Ich komme zu meinem fünften Punkt, der These, dass die Medien mehr und mehr zu politischen Akteuren aus eigenem Recht werden. Das muss man differenziert sehen. Natürlich haben Medien schon immer politischen Einfluss gehabt (nicht umsonst gründete Napoleon in jedem von ihm besiegten Land eine eigene Zeitung), und die Wissenschaft hat die Idee, dass die Presse das politische Geschehen nur spiegele, ohne auf es zurückzuwirken, schon 1908 auf dem Berliner Historikertag ad acta gelegt, als der Geschichtswissenschaftler Martin Spahn einen viel beachteten Vortrag über die problematische Rolle der Zeitung als Quellengattung hielt. Und trotzdem lässt sich für den größten Teil des 20. Jahrhunderts feststellen, dass die Medien den Primat des Politischen akzeptiert haben, dass Dinge, die im politischen Raum geschahen, ihren Weg in die Medien fanden und dort – gemäß den medialen Eigengesetzlichkeiten – bearbeitet wurden. Diese traditionelle Trennung scheint mir mehr und mehr abhanden zu kommen. In dem Maße, in dem die Mediengesellschaft sich entwickelt, werden Medien zu eigenständigen politischen Spielern – und damit zu den wichtigsten Orientierungsgrößen für die Politik. Das heißt auf der einen Seite, dass sich die Politik – wie es Thomas Meyer in seinem Buch über die „Kolonisierung der Politik durch die Medien“ beschrieben hat – immer mehr der medialen Darstellungs- und Verwertungslogik anpasst. Politische Ereignisse werden im Hinblick auf die zu erwartende Medienberichterstattung geplant, politisches Personal aufgrund seiner Medientauglichkeit ausgewählt, politische Inhalte den – in der Regel recht geringen – Möglichkeiten der Medien, Komplexität zu verarbeiten, angepasst. Mediale Präsenz wird vielfach zur Ersatzhandlung für im Zeitalter der Globalisierung schwindende Handlungsmöglichkeiten der Politik. Dies ist die Qualitätsveränderung auf Seiten der Politik.
Doch auch an den Medien selbst geht der gewachsene Einfluss des Medialen natürlich nicht vorbei. Für mich drückt sich das vielfach in einer geradezu kampagnenartigen Behandlung einzelner Themen und Sachfragen aus. Offensichtlich wird in den großen Redaktionen heute strategisch kalkuliert, wie lange sich ein Thema am Laufen halten lässt, und danach wird der Ressourceneinsatz und die Intensität der Berichterstattung bemessen. Dies kann legitim sein, kann aber auch zu Disproportionen und Verzerrungen führen. Ein harmloses Beispiel: die Berichterstattung über die Tsunami-Katastrophe in Südostasien. Hier haben die Medien den news-value der Katastrophe dadurch verlängert, dass sie ab etwa Mitte Januar die von ihnen selbst angestoßene Spendenkampagne zum Hauptthema ihrer Berichte machten. Das bedeutet, dass die Medien ihr eigenes Handeln extensiv thematisieren und ihm durch eben diese Thematisierung realitätsverändernde Kraft zusprechen.
Im Falle der Tsunami-Spenden scheint mir dies auch unproblematisch. Man kann daran aber gut die Mechanismen ablesen, wie die Medienwelt heute funktioniert. Da eben nur das relevant ist, was in den Medien auftaucht, ist die Versuchung für Medienmacher groß, ihre eigene Agenda zu setzen und damit den Diskurs zu bestimmen. Die Art und Weise etwa, wie Joschka Fischer im Frühjahr 2005 von verschiedenen Medien angegriffen und systematisch niedergeschrieben wurde, das muss ich hier in aller Deutlichkeit sagen, finde ich wirklich unangemessen und auch die Art, wie Angela Merkels Outfit thematisiert und in modischen Schwankungen photographisch dargestellt wurde, ließ oft Ausgewogenheit und Fairness vermissen. Gerade bei kampagnenhaften Aktionen wie der oft hämischen Attackenserie gegen Joschka Fischer scheinen manche Medien für sich in Anspruch zu nehmen, auf eigene Faust Politik machen zu können. Bei einem Redaktionsgespräch vor einiger Zeit haben mir die dort versammelten Redakteure ganz unverblümt erklärt, dass sie darauf aus seien, die aktuelle Regierung „wegzuschreiben“ und dass ich als Sympathieträgerin von Rot-Grün ihnen dabei im Wege stehe. Deswegen werde man, obwohl ich ja klug und sympathisch sei, nicht positiv über mich berichten. Hier ist eindeutig der Punkt erreicht, wo die demokratisch dafür nicht legitimierte Medienmacht missbraucht wird. Ich will damit keine handzahme Presse fordern und auch kein Plädoyer für meinungsfreien Journalismus halten, sondern nur auf die Verantwortungsdimension des Medienhandelns hinweisen und für eine ausgewogene Berichterstattung plädieren, welche die Dinge beim Namen nennt, ohne sie maßlos zu übertreiben.
Medien und Medienmacher müssen akzeptieren, dass sie, demokratietheoretisch gesehen, mit geliehener Macht und geborgtem Einfluss als Sachwalter der Gesellschaft fungieren. Sie genießen eine Vielzahl von Privilegien, haben aber – anders als die Politik – keine demokratische Legitimation aus eigenem Recht. Dies zwingt sie nicht zu Meinungslosigkeit, im Gegenteil, verpflichtet sie aber, sehr genau zu reflektieren, wie sie Ereignisse und Prozesse abbilden und welche Wirkungen dies auslöst. Die breite Debatte um die Qualitätssicherung des eigenen Programms und um die Entwicklung einer journalistischen Berufsethik, welche die öffentlich-rechtlichen Medien und die journalistischen Berufsverbände seit einigen Jahren führen, ist ein wichtiger Beitrag von Seiten der Akteure.
IV. Notwendigkeit einer öffentlichen Diskussion
Wünschenswert wäre es, wenn die Gesellschaft als ganze das Thema Medienpolitik wieder stärker als einen zentralen Bereich der politischen Auseinandersetzung auffassen würde, und wenn Medienkritik wieder zu einer akademischen Disziplin würde, der sich die besten Köpfe des Landes widmen. Das allgemeine Desinteresse an der ordnungspolitischen Regulierung und der inhaltlichen Ausgestaltung der Medien scheint mir eines der größten Defizite der gegenwärtigen Demokratie zu sein. Merkwürdigerweise haben z.B. die Diskussionen um die politische Macht und die kulturelle Wirkung des Fernsehens nach der Einführung des Privatfernsehens 1984 nicht an Intensität zugenommen, sondern sind – im Gegenteil – an den Rand der gesellschaftlichen Debatte gerückt.
Der (selbst)kritische Impetus, mit dem Journalisten noch in den 1970er und 80er Jahren ihr eigenes Handeln reflektierten, scheint mir nicht vollständig ausgestorben, in vielen Redaktionen aber doch nachhaltig wegrationalisiert worden zu sein. Dies verwundert um so mehr, da die gesellschaftliche Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren eindeutig weiter in Richtung der viel beschworenen „Mediengesellschaft“ gegangen ist. Nur mit einer breiten gesellschaftlichen Diskussion, in der die Öffentlichkeit ihre eigene Kritikfähigkeit schärft und unter Beweis stellt, so dass sich Manipulation und Kampagnen Journalismus weniger auszahlen, besteht die Chance, dass die Medien als generalisierte Vertrauensunternehmer der Gesellschaft ihre demokratische Verantwortung wahrnehmen. Nur so kann die Logik der gemeinwohlorientierten demokratischen Verantwortung der Logik der ökonomischen Marktrentabilität, die die meisten der genannten Missstände auslöst oder bestärkt, entgegen wirken. Das aufgeklärte Publikum muss sich wehren. Nur so kann es gelingen, die skizzierten Defizite und bedrohlichen Tendenzen auszubalancieren. Damit sind wir alle aufgerufen, das Unsere dazu beizutragen.
*Der überarbeitete Beitrag beruht auf einem Vortrag anlässlich einer Feier zum 60sten Gründungsjubiläum der Frankfurter Rundschau im September 2005.