Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 173: Religion und moderne Gesellschaft

Wege und Irrwege der Religion

Warum die Moderne einen anderen Glauben braucht,

aus: vorgänge Nr. 173 (Heft 1/206) S. 81-86

Schleiermacher hat Religion als das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit bezeichnet und Luther sagt im großen Katechismus: „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott.“ Geht man nicht von äußeren Formen, sondern von der das Leben bestimmenden religiösen Kraft aus, dürften das zutreffende Definitionen von Religion sein. Allerdings beschreiben diese Definitionen nicht mehr das, was wir landläufig als Religion ansprechen. In unserer westlichen säkularen Welt haben die christlichen Kirchen – von kleineren aktiven Gruppen abgesehen – kaum mehr derartige Bedeutung, dass Menschen von deren Botschaft und deren Riten „schlechthin“ bestimmt werden oder ihr Herz so daran hängen, dass Gott wirklich ihr Gott ist, für den sie selbst zum Martyrium bereit sind. Wofür sind Menschen bereit, ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre Familie in Frage zu stellen? Was ist ihnen heilig? Was bestimmt ihr Leben? Ohne Zweifel gab und gibt es Einzelne, die als Christen, Juden, Moslems oder Anhänger anderer Religionen so leben, dass solche Glaubensform auch in der modernen Welt mehr als ein Etikett ist: so für die Mitglieder der Weißen Rose, für Dietrich Bonhoeffer oder einzelne Ordensleute. Aber wie ist es mit der großen Mehrheit, die Weihnachten mit Märchenbildern in den Schaufenstern feiert und sich im Alltag kaum um Barmherzigkeit und Nächstenliebe kümmert, von Feindesliebe ganz zu schweigen?
Unsere Sprache nennt das, was gleichsam religiöse Bedeutung hat, „heilig“. Was ist uns heilig? Am häufigsten ist es – derzeit besonders deutlich in den USA, aber vor nicht allzu langer Zeit auch bei uns – die Nation, das „heilige Vaterland“, das der Dichter „über alles“ stellen will, wie es das Lied sagt, dessen dritter Vers unsere Nationalhymne ist. Der Nation werden das eigene Leben und fremde Leben als Menschenopfer dargebracht. Dem Nationalismus, der das Vaterland heilig spricht, werden anerkannte Regeln menschlichen Umganges geopfert, wurden und werden Menschen aus der eigenen Welt ausgeschlossen, diskriminiert und überfallen, im Extremfall sogar ihres Lebens, ja ihres Menschseins beraubt, wie es in vielen Diktaturen tausendfach geschah und geschieht, und wie es heute in Lagern wie Guantanamo Hunderte erleiden. Nationalismus kann alle sonstigen Regeln außer Kraft setzen. Es gilt nur noch das, was man dem säkularen Glauben an die Nation oder dem eigenen Volk schuldig zu sein meint. Und das wird zelebriert mit Hymnen und Fahnen, mit ehrfürchtigem Aufstehen und/oder Verbeugen vor diesen religiös geladenen Symbolen der Nation. Die Formen ähneln nicht zufällig klassischen religiösen Riten wie Prozessionen und Feiern, Andachten und Gebetsgesten. Manchmal kommt der Nationalismus auch ganz unscheinbar daher, wenn die Bundeswehr nicht auf das Grundgesetz, sondern auf „Recht und Freiheit des deutschen Volkes“ verpflichtet wird.
Ein anderer Bereich ist eng damit verbunden. Im Krieg gelten nur noch Gewalt, Zerstören, Töten, Verletzen, Erniedrigen, und alle normalen Rücksichten – auch die völkerrechtlich vereinbarten – werden nur zu schnell den Gesetzen des Krieges geopfert. Die Sprache, die mit einem ursprünglich religiösen Begriff vom Opfern spricht, ist verräterisch. Eigene Soldaten werden geopfert, dem Feind werden Schläge zugefügt, die mehr Opfer fordern und deshalb als erfolgreich gelten. Da wird vom „heiligen“ Kampf gesprochen. Da wird nicht etwa von den zerfetzten, umgebrachten oder gestorbenen Kämpfern, den Toten, mit Trauer Abschied genommen, sondern den „Gefallenen“ – so die traditionell feierliche Sprache – wird mit besonderen Riten wie Trauermarsch, Salut, Senken der Fahne oder Musikstücken Ehre erwiesen. Ihre Gräber werden auf Dauer erhalten, und dann werden Denkmäler errichtet. Dort wird fortan vom Militär regelmäßig das Andenken der Gefallenen besonders geehrt und in Erinnerung gehalten mit Aufmärschen, Kranzniederlegungen und Ansprachen. In vielen Staaten gibt es sogar besondere Feiertage, die den Kriegstoten gewidmet sind, und Stunden des feierlichen Gedenkens an ihr Opfer. Die Verbrechen, die regelmäßig in Kriegen verübt werden, sind dann wie weggewischt, und es bedarf größter Anstrengungen, wenigstens die schlimmsten später zu untersuchen. Krieg hat eben seine besonderen Gesetze, und die sind wichtiger als das eigene Leben.

Eigen­ge­setz­liche Lebens­be­reiche oder ganzheit­li­cher Glaube?

Gesetze, die das Leben prägen und tief greifend bestimmen, gibt es weniger tödlich, aber doch ähnlich wirksam, in vielen Lebensbereichen. Am deutlichsten gilt das für den Bereich der Wirtschaft, die in manchen Ländern, nicht zuletzt bei uns, noch vor dem Vaterland rangiert. Für sie gelten die Gesetze des Marktes und des Wettbewerbs, die man angeblich nicht außer Kraft setzen kann. Antrieb ist das Streben nach Macht und Geld. Meistens kommt dabei das Eine zum Anderen. Wer Macht hat, verdient bald auch mehr, und wer viel Geld hat, hat auch viel Einfluss und damit Macht. Staaten und ihre Regierungen, manchmal auch Kriege werden nicht selten den wirtschaftlichen Interessen dienstbar gemacht, wenn es um Öl oder andere wichtige Rohstoffe geht. Die Menschen, die in Armut und/oder Arbeitslosigkeit dabei auf der Strecke bleiben, werden bedenkenlos den angeblich nicht zu ändernden Gesetzen des Marktes geopfert.
Betrachtet man Lebensbereiche daraufhin, wie sie das Leben von Menschen bestimmen, merkt man schnell, dass auch andere solche Eigengesetzlichkeiten entwickelt haben und uns stärker als alle religiösen Traditionen bestimmen. Das gilt für den Sport wie für die Kunst, für das Sexualleben wie für die Unterhaltung. Eigengesetzlichkeiten machen die Medien geltend mit den Unterteilungen nach Fernsehen, Funk und Presse oder der Verkehr mit den Besonderheiten von Seefahrt, Straßen-, Bahn- und Luftverkehr. Oft kann man noch weiter trennen, etwa bei den verschiedenen Künsten oder den Wissenschaften, die zwischen Medizin und Jura, Geistes- und Naturwissenschaften, Technik und Wirtschaft deutlich unterscheiden. Die Menschen werden vom jeweiligen Bereich so in Anspruch genommen, dass sie gewöhnlich den dort geltenden Spielregeln wie göttlichen Geboten folgen.
Was bedeutet das für die Religion heute? Die Eigengesetzlichkeiten der Lebensbereiche sind ungeheuer stark geworden. Sie sind zwar säkular, aber entsprechen in vielem der antiken Welt und der griechisch-römischen Religion, die mit ihrer Verehrung verschiedener Göttinnen und Götter Lebensbereiche definiert hatte. Dabei kann man viele antike Aussagen ob ihrer Treffsicherheit geradezu bewundern. Dass Hermes/Merkur, nach dem sich moderne Versicherungen und Handelsunternehmen nennen, der Gott des Handels ist, hatte den beachtlichen Nebenklang, dass er auch der Götterbote und der Gott der Diebe war. Dass die jeweiligen Gründer eines Staates, etwa Romulus in Rom oder Theseus in Athen, als Götter verehrt wurden, war die antike Form des Nationalismus, zeigte die Heiligkeit der Nation. Dass Ares/Mars, wenn er losschlagen darf, gewaltige zerstörerische Kräfte entwickelt, gilt noch heute für jeden Krieg. So kann man Bereich um Bereich nehmen und in unsere Welt übersetzen. Poseidon/Neptun, der Erderschütterer, dessen Kräften Seefahrer und die Menschen in Erdbebengebieten ausgeliefert sind, fordert in seinem Herrschaftsbereich ebenso Beachtung seiner Kräfte, wie es Hera/Juno für Ehe und Familie fordert oder Aphrodite/Venus für die Liebe. Asklepios/Aeskulap war für die Heilkunst zuständig, Hephaistos/Vulkan für die Technik und Apoll für Weisheit, Weissagung und mit den Musen für die Künste. Oft wurde dann noch weiter unterteilt, wie auch unsere Welt immer mehr differenziert und für die verschiedensten Gebiete ihre Fachleute hat, die jeweils ihre Regeln durchsetzen wollen.
Der Repräsentant des Staates, Zeus/Jupiter, ist zwar der oberste Gott, der Göttervater, aber den göttlichen Kolleginnen und Kollegen gegenüber recht schwach trotz der Blitze, die er strafend schleudern kann. Seine Aufgabe ist es, die für die verschiedenen Bereiche zuständigen Göttinnen und Götter zum vernünftigen Miteinander zu bringen. Als seine irdischen Vertreter hatten die Herrscher der hellenistischen und römischen Welt entsprechende irdische Aufgaben in ihren Reichen, sie wurden selber als Götter verehrt und waren doch gezwungen, die Herrschaftsbereiche der verschiedenen Gottheiten zu achten. Das könnte – säkular übersetzt – auch ein Bild unseres Staates sein, der die verschiedenen Lebensbereiche zusammen halten soll, aber vor der Wirtschaft in die Knie geht und sein Handeln oft mehr von Fernsehbildern und heimlicher Lobby bestimmen lässt als von nüchterner Analyse und Planung. Die Antike hat das gespiegelt in den Intrigen der Gottheiten untereinander und ihrem Buhlen um Jupiters Wohlwollen.

Der Anspruch des Chris­ten­tums

Die griechisch-römische Welt hatte erstaunlich genau beobachtet, wie es in den verschiedenen Lebensbereichen zugeht und wie autonom diese in vielem sind. Trotzdem hatte das Christentum diese ausgeklügelte heilige Weltordnung aus den Angeln gehoben. Die Losung war, dass es nur einen Gott gibt, der alle Lebensbereiche bestimmt und dem gegenüber man immer und überall verantwortlich ist. Diesen Maßstab hatte für die Christenheit Jesus von Nazareth in Anknüpfung an die mosaische Tradition verkündet und gelebt. Das bedeutete einheitliche Verantwortung für alles Tun, gelebt in Nächsten- und Feindesliebe, in der Bereitschaft zum Helfen für Kranke oder unter die Räuber Gefallene und zum Vergeben selbst gegenüber dem Zöllner, der seine Möglichkeiten betrügerisch missbraucht hatte. Es bedeutete Gewaltlosigkeit und das Durchbrechen der Eigengesetzlichkeiten der Herrschaftsbereiche aller bis dahin verehrten Gottheiten, deren göttlicher Anspruch schlicht bestritten wurde.
Mit der Demo in Jerusalem, der Reinigung des Tempels von den wirtschaftlich und organisatorisch so wichtigen Bankern und Händlern, missachtete Jesus unter Berufung auf den einen, alle Lebensbereiche beherrschenden Gott, zugleich die kirchliche (priesterliche) und staatliche (jüdische und römische) Ordnung und die des Tempels, der dank des jüdischen Zehnten nach heutigen Begriffen eine der größten, wenn nicht die größte Bank im ganzen Reich war. Das konnte nicht gut gehen, aber es war – ohne Gewalt – ein Anspruch, der menschliches Leben wieder zu einem einheitlich verantworteten Leben machte. Deshalb setzte die christliche Gemeinde gegen die vielen angeblichen Gesetzmäßigkeiten und ihre Gottheiten, auch gegen den Staat und seinen göttlich verehrten Kaiser ihren „Herrn“, den „König des Gottesreiches“ (Christus), den „Sohn Gottes“, der zwar vom römischen Prokurator gefoltert und gekreuzigt werden konnte, dessen Ansage eines neuen, allein dem einen Gott und seinen Weisungen folgenden Lebens aber mächtiger war als selbst die Macht Roms und auch vom Tod nicht zu bezwingen. Die göttlichen Attribute wurden auf den Gekreuzigten übertragen.
Die christlichen Kirchen haben diesen Anspruch vertan, als sie sich selbst mit staatlicher Macht umgaben, statt den Menschen zu dienen, sie mit der Androhung von Höllenstrafen beherrschten und bis hin zur Inquisition regelrecht unterdrückten, sich naturwissenschaftlichen Entdeckungen und damit verbundenen geistigen Entwicklungen ebenso verschlossen wie den Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit oder persönlicher Freiheit. Sie haben auch die historisch-kritische Arbeit und die Aufklärung nicht umfassend aufgegriffen und Rudolf Bultmanns Forderung einer Entmythologisierung weitgehend negiert. Die Botschaft Jesu wurde nicht wirksam übersetzt, geschweige denn gelebt. Heute erleben wir, dass die Aufteilung der Welt in lauter unterschiedliche Bereiche herrschender Eigengesetzlichkeiten die Menschen zerreißt, die mal hier diese, mal dort jene Rolle spielen sollen. Man muss nur an den pingeligen Buchhalter denken, der daheim ein interessanter Ehepartner und liebevoller Vater sein soll, oder an den Soldaten, der im Dienst in einer Welt von Befehl und Gehorsam lebt und daheim als Partner in gegenseitiger Achtung erwartet wird, ganz zu schweigen von den vielen Menschen, die aus dienstlichen Gründen von ihren Familien weg versetzt werden.
Die Suche nach einer einheitlichen Verantwortung des Lebens ist mit mythologischen Formeln und/oder Verweis auf ein Jenseits nicht zu beantworten. Die Menschen haben nicht mehr Angst vor einem Gericht nach dem Tod, sondern vor den Qualen des Sterbens. Es ist kein Problem, sie über das nahende Ende hinweg zu täuschen. Ihre Welt ist das Diesseits, aber hier sind sie gegenüber den vielen Ansprüchen der unterschiedlichen Lebensbereiche allein gelassen und oft ratlos. Das vergebliche Warten auf Hilfe führt dann zu Kurzschlüssen und ebnet den Weg zu Diktatoren oder zu fremden Religionen oder autoritären religiösen Führern, die man bewundert, weil sie scheinbar Antworten wissen, aber denen man deshalb noch lange nicht folgt. Manchmal gibt man sich auch schon zufrieden, wenn mit liturgischen oder sonstigen religiösen Formen das künstlich aufgemotzt wird, was zwar Tradition ist, aber die Menschen nicht mehr bindet.

Die Akzeptanz der Moderne als Chance für den Glauben

Scheinbare Möglichkeiten zur Einheit des Lebens zurückzukehren, bieten dann fundamentalistische Kreise in der Christenheit und im Islam (und nicht nur dort), die moderne Erkenntnisse leugnen und an den Buchstaben der heiligen Texte sich klammernde Gesetzlichkeit fordern. Das verspricht klare Ordnungen. Aber damit geraten die, die sich darauf einlassen, in offene Konfrontation mit der modernen Welt, weil sie vor Jahrhunderten Gesagtes buchstäblich als Gesetz in unsere ganz andere Zeit übernehmen wollen. Manchmal geradezu blindwütige Angriffe auf die Moderne, etwa auf die Gleichberechtigung und Autonomie von Frauen, sollen dann die Einheit des Lebens durch Regeln wieder herstellen, die in andere soziale Verhältnisse und menschlich/mitmenschliche Zusammenhänge gehörten. Die Bibel berichtet von einer langen Geschichte der zunehmenden Erkenntnis Gottes. Sie kennt Veränderungen und sagt nicht ohne Grund, dass der Buchstabe tötet und der Geist lebendig macht. Es geht ihr um den rechten Weg, nicht um statische Lehre. Verantwortung vor Gott bedeutet deshalb in der christlichen Tradition der Nachfolge Jesu, unterwegs zu sein und mit den verschiedenen Lebensbereichen und ihren Gesetzen so umzugehen, dass deren Erkenntnisse dienstbar gemacht werden. Sie sollen den Menschen dienen, sie nicht knechten. Sie dürfen nicht unmenschlich werden. Sie gelten nicht absolut. Mit dem Glauben der frühen Christenheit gesagt, sie sind keine Götter. Wer sie anbetet, ist auf dem Irrweg. Sie sind vielmehr dienstbare Geister und können hilfreich sein. Wer sich allerdings wissenschaftlichen Erkenntnissen fundamentalistisch verschließt, hilft nicht dem Glauben, sondern versinkt in falscher Gesetzlichkeit und mittelalterlicher Bevormundung des Denkens.
Der Streit, ob die abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam mit ihrem Monotheismus die Menschen überfordern, ob sie der Vielfalt der Welt nicht gerecht werden, ob sie mit ihrem moralischen Anspruch zu Unduldsamkeit und letztlich zu Gewalt und Krieg führen, ist für Christen ein Anlass, sehr genau neu zu fragen, was unser religiöses Erbe heute bedeutet. Leiten wir aus dem Gebot der Nächsten- und Feindesliebe die Achtung der Menschenrechte unserer Mitmenschen ab und unsere Verpflichtung zu weltweiter Solidarität? Leiten wir aus der Freiheit und der Gewaltlosigkeit Jesu in seiner Nachfolge den Aufruf zu eigenem freiem Denken, gewaltfreiem Diskurs, Frieden, Toleranz und aktiver, sozial engagierter Mitmenschlichkeit ab? Können wir unsere Traditionen und überkommenen zeitbedingten Aussagen korrigieren und haben wir den Mut dazu? Ähnlich müssen sich wohl auch Muslime fragen, wie sie der Toleranz und Menschlichkeit des Propheten gegenüber anderen Religionen und seinem Verweis auf die Barmherzigkeit Gottes in der modernen Welt gerecht werden können. Oder soll man wie der bekannte Ägyptologe Jan Assmann sagen, dass die Anerkennung vieler Gottheiten eine friedlichere Welt ermöglichen würde? Sollen die alten Göttinnen und Götter fröhliche Urständ feiern und säkularisiert als Gesetzmäßigkeiten die Vielfalt der modernen Welt tragen und erklären? Mit ein paar Korrekturen an Liturgien und Gesangbüchern, mit neuer Spiritualität, mit ein paar mehr Exerzitien, Fernsehgottesdiensten oder Prozessionen wird die Krise der überlieferten Religion jedenfalls nicht beendet, mit fundamentalistischer Rückkehr in ferne Vergangenheit erst recht nicht. Anleihen bei religiösen Traditionen, die die Aufklärung noch vor sich haben, helfen sicher auch nicht auf Dauer. Was derzeit als neues Interesse an Religion behauptet wird, scheint mir eher der Hinweis auf eine Krise zu sein, deren Lösung noch aussteht.
Dabei brauchen Menschen Religion mindestens zur ethischen Orientierung. Was sind die Werte, die ein gedeihliches Miteinander ermöglichen? Die vielen unterschiedlichen Spielregeln und Gesetze der Lebensbereiche, mit denen wir es zu tun haben, machen es schwer, überall verantwortlich im Blick auf die Mitmenschen zu handeln. Oft geht das nur, wenn man auch bereit ist, zurückzustecken, zu verzichten, anderen, die etwas besser können, den Vortritt zu lassen. Wie findet man friedliche Lösungen, wenn Interessen auseinander gehen oder gar strikt gegeneinander stehen? Wie überwindet man die Gefühle, die „aus dem Bauch“ kommen und mal nur den Nutzen der eigenen Gruppe (Familie, Nation, Firma) sehen, mal mit Empörung auf Fehler anderer reagieren? Angesichts der Entwicklung der Waffentechnik wären große Kriege katastrophal. Katastrophal ist aber auch der Zustand der Welt mit ihren ungeheuren Gegensätzen zwischen Reich und Arm. Religionen und Ideologien können ausgenutzt werden, um die Probleme zu verschärfen. Wie kommt man dagegen an und führt zu der Aufgabe der Religion zurück, den Menschen hilfreiche Orientierung zum Guten zu geben?
 Sicher sind viele organisatorische Regelungen hilfreich von den Vereinten Nationen und regionalen Organisationen, den Verträgen zum Schutz von Menschenrechten und anderen internationalen Vereinbarungen bis zur Einigung auf internationale Gerichte. Aber was begründet die dabei zu Grunde gelegten Maßstäbe? Was transzendiert die irdischen Fakten und Regeln? Bisher war das die Aufgabe der Religion jeweils in den Gebieten, in denen sie gemeinsam war. Es gibt auch im ökumenischen Gespräch der Kirchen das Bemühen um Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Aber heute haben wir weltweite Bezüge und damit unterschiedliche Religionen, die sich gegenüber stehen. Wenn sie ihre Riten, ihre Traditionen betonen und gar bewusst aufpolieren, dann helfen sie nicht, sondern kommen in die Gefahr, Gegensätze zu verstärken. Neues Interesse an Religion ist gut, wenn es hilft, das Gespräch über Gerechtigkeit und Friedensverantwortung, über soziales Handeln und ethisch verantwortbare politische Maßstäbe in Gang zu bringen: über das Gute im Sinne der Ringparabel aus Lessings Nathan der Weise als allen Menschen geltende Verpflichtung. Aber nur dann.

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