Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 173: Religion und moderne Gesellschaft

Editorial

aus: vorgänge Nr. 173 (Heft 1/2006), S. 1-2

Als vor fünf Jahren Jürgen Habermas in seiner Dankesrede für den Friedenspreis des deutschen Buchhandels den Glauben als gesellschaftliche Macht entdeckte, überraschte der Theoretiker der Moderne damit seine Zuhörer in der Frankfurter Paulskirche. Dennoch trafen seine Worte vier Wochen nach dem 11. September 2001 den Nerv der Zeit. Seither erleben wir hierzulande eine permanente Diskussion über die Zusammenhänge von Religion, Politik und Öffentlichkeit, in Deutschland, im Verhältnis zu islamisch geprägten Ländern, aber auch in der Selbstbefragung westlicher Gesellschaften. Kopftuch und Karikaturen, der Papst und die Präambel der gescheiterten EU-Verfassung: Die Religion scheint in den säkular-aufgeklärten Gesellschaften des Westens mitnichten den langsamen Tod gestorben zu sein, der ihr viele Jahrzehnte prophezeit wurde. Doch kann man angesichts dieser zahllosen – oft medial inszenierten – Phänomene von einer Renaissance der Religion sprechen? Vieles spricht eher dafür, dass das gesellschaftliche Subsystem Glauben heute, in einer ansonsten ideologiearmen Zeit, in den öffentlichen Debatten einspringen muss, um den Auseinandersetzungen prinzipielle Würde zu verleihen. Dennoch: Religion als politischer Faktor wurde hierzulande zu lange ignoriert, in abgeklärt aufklärerischer Manier. Doch welche Macht darf sie in einer Demokratie bekommen, ohne diese zu gefährden? 
  Die vorgänge, die mit diesem Thema auch einen zentralen Impuls ihrer Gründerzeit vor vier Jahrzehnten aufgreifen, stellen die Gretchenfrage: Wie hält es die moderne Gesellschaft mit dem Glauben? Der Historiker (und Pastorensohn) Paul Nolte plädiert – nach Betrachtungen über die gegenwärtige Bedeutung von Religion – für einen religionsfreundlichen Staat, der die Bürgergesellschaft auf diese Weise fördern solle. Der Beitrag des Soziologen Markus Schroer zeigt, wie fragwürdig die Rede von der Rückkehr der Religion ist: vielmehr unterliege sie einem permanenten Formwandel. Einen soziologischen Grundbegriff analysiert Matthias Pohlig kritisch aus der Sicht des Historikers: Auch die Säkularisierung, Bestandteil fast jeder Großtheorie über gesellschaftliche Modernisierungsprozesse, ist real schwer nachzuweisen. Der Philosoph Gunnar
Hindrichs interpretiert die Rückkehr der Religion vor allem als deren Politisierung auf der Grundlage eines säkularen Staatsverständnisses: Der Glauben wird politisiert, zumindest in den USA. Anders im Iran: Wahied Wadhat-Hagh präsentiert die dort herrschende Verbindung von islamistisch-theokratischer Herrschaft und politischer Diktatur als Form von Totalitarismus. Gewichtige Unterschiede innerhalb der Religiosität junger Migranten in Deutschland hat der Soziologe Jan Fuhse festgestellt: Mit zunehmender Anerkennung und Integration verliert sie ihre Bedeutung als Identitätsressource. Für eine stärkere Beachtung des Grundrechts der Religionsfreiheit als Minderheitenrecht plädiert die Juristin Kirsten Wiese in der Kopftuchdebatte: Gesetzliche Kopftuchverbote würden dieses Recht zu stark einschränken. Auch die moderne Kunst hat den Glauben wiederentdeckt, wie die Kunsthistorikerin Maren Ziese anhand zweier deutscher Ausstellungen vorführt. Ulrich Finckh, Pfarrer im Ruhestand und seit langen Jahren Redaktionsmitglied, verfolgt die verschlungenen Pfade, die die Religion im Laufe der Jahrtausende genommen hat, Verbrechen und Irrtümer inklusive. Der Journalist Carl-Wilhelm Macke erinnert sich an seine katholische Kindheit und spätere Beschäftigung mit Glaubensfragen, während am Ende des Thementeils eine ganz persönliche Rückkehr der Religion – oder eben gerade nicht? – steht: das Pilgertagebuch des ehemaligen Bertelsmann-Mitarbeiters Philipp Schwörbel, verfasst auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela.
     Der Essay von Gesine Schwan engagiert sich für den zunehmend an Boden verlierenden aufklärererischen Journalismus. In den Kommentaren und Kolumnen veröffentlichen wir Aphorismen unseres im vergangenen Jahr verstorbenen Redaktionsmitglieds Jürgen Seifert aus dem Jahr 1958 sowie eine kritische Analyse des Historikers Martin Kohlrausch zum politischen Amtsverständnis von Bundespräsident Horst Köhler.
Anregende Lektüre wünschen aus Berlin 
                                                                         

Alexander Cammann und Dieter Rulff

nach oben