Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 173: Religion und moderne Gesellschaft

Das Grundgesetz im Glaubens­kampf

Rechtspolitische Dialektik: Kopftuchverbote können das Grundrecht der Religionsfreiheit wiederbeleben,

aus: vorgänge Nr. 173 (Heft 1/2006), S. 63-70

   

In vielen deutschen Bundes­län­dern dürfen Lehrerinnen gegenwärtig keine Kopftücher tragen. Das verbieten die refor­mierten Schul- und Beamten­ge­setze dieser Länder. Eine solche Politik schwächt die Religi­ons­frei­heit und kann verfas­sungs­recht­lich wenig überzeugen. Zugleich aber verleihen Muslime der Religi­ons­frei­heit neue Vitalität, indem sie sie für ihre religiös bedingten Verhal­tens­weisen in Anspruch nehmen. Das könnte am Ende die Religi­ons­frei­heit stärken. Diese Veränderung der Religi­ons­frei­heit durch Muslime soll im Folgenden genauer betrachtet werden.

Die rechtspolitischen Folgen des Falls Ludin

2003 entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), dass Baden-Württemberg das Recht habe, Fereshta Ludin wegen ihres Kopftuches für das Lehramt abzulehnen (BVerfG 2003: 3111ff.). Allerdings müsse zunächst das baden-württembergische Parlament eine gesetzliche Grundlage für ein Kopftuchverbot schaffen. Baden-Württemberg änderte daraufhin das Schulgesetz, so dass dort Lehrkräften im Unterricht nicht erlaubt ist, Bekundungen abzugeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülern und Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören. Ebenso ist ihnen ein Verhalten untersagt, welches bei Schülern oder Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass sie gegen Menschenwürde, Gleichberechtigung des Menschen nach Art. 3 Grundgesetz (GG), Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung auftreten (§ 38 baden-württembergisches Schulgesetz). Die Ablehnung von Fereshta Ludin wegen des Kopftuches auf der Grundlage dieses Gesetzes bestätigte das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) 2004 (BVerwG 2004: 1178ff.). Bayern, Berlin, Bremen, Hessen, Niedersachsen und Saarland folgten Baden-Württemberg und reformierten in ähnlicher Weise ihre Schul- und Beamtengesetze. [1] Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein diskutieren gegenwärtig ein Kopftuchverbot (taz vom 7. Februar 2006). In Rheinland-Pfalz beschloss das Landesparlament ausdrücklich, kein Gesetz gegen das Kopftuch zu erlassen. Die übrigen Länder sind bislang untätig geblieben.

Die verfas­sungs­recht­liche Garantie der Religi­ons­frei­heit

Die Religionsfreiheit wird durch Art. 4 des Grundgesetzes garantiert. Dort heißt es in Abs. 1: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich“; in Abs. 2: „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ Die Auslegung der Religionsfreiheit wird maßgeblich vom Bundesverfassungsgericht geprägt. Bislang verstand das Bundesverfassungsgericht die Religionsfreiheit als umfassenden Schutz unterschiedlichen religiös motivierten Verhaltens. So durfte z.B. ein katholischer Landjugendverein mit Kanzelwerbung alte Kleider sammeln. Dem Urteil des Landgerichts, das die Kanzelwerbung als sittenwidrig einstufte, hielt das Bundesverfassungsgericht den Schutz der Religionsfreiheit für die karitative Tätigkeit „Lumpensammeln“ entgegen (BVerfG 1969: 31ff.). Ebenso hob das Bundesverfassungsgericht aus Gründen der Religionsfreiheit die Verurteilung eines Mannes wegen unterlassener Hilfeleistung auf. Der Mann hatte verhindert, dass seine Frau die dringend erforderliche Bluttransfusion erhalten konnte, indem er sie nicht zum Arzt gebracht hatte. Sein religiöser Glaube verbot ihm eine Bluttransfusion (BVerfG 1972: 327). Und einen evangelischen Pfarrer, der Zeuge im Strafverfahren war, befreite das Bundesverfassungsgericht aus religiösen Gründen von der Pflicht, den Zeugeneid zu leisten. Sein religiöser Glaube hatte ihm verboten, einen solchen weltlichen Eid zu leisten (BVerfG 1972: 1183ff.).
Mit dem Kopftuchurteil schwächte das Bundesverfassungsgericht aber die Religionsfreiheit. Zwar hob das Gericht hervor, dass die Religionsfreiheit auch für Beamte gilt. Zugleich räumte es aber den Landesgesetzgebern eine weitreichende Befugnis ein, die Religionsfreiheit der Lehrer im öffentlichen Schuldienst einzuschränken. Die Landesgesetzgeber könnten den mit der neuen religiösen Vielfalt möglicherweise verbundenen Konflikten begegnen, indem sie die staatliche Neutralitätspflicht als Pflicht zu strikter Neutralität verstünden. Einer solchen strikten Neutralitätspflicht entspreche es, Schüler vor sichtbarer Religiösität der Lehrkräfte zu schützen. Sofern die Landesgesetzgeber von dieser Möglichkeit, Lehrern das Tragen religiöser Kleidung grundsätzlich zu verbieten, Gebrauch gemacht haben, nehmen auch sie der Religionsfreiheit ihre bisherige Bedeutung als umfassender Schutz für individuelle Lebensführung.
Das Grundgesetz steht einer solchen Auslegung der Religionsfreiheit zwar nicht zwingend entgegen: Es ist unstrittig, dass die Religionsfreiheit, obwohl für unverletzlich erklärt, dennoch beschränkt werden kann. Der Grund für eine solche Beschränkung kann nur der Schutz anderer Verfassungswerte sein. Ein Gebot staatlicher Neutralität ist nicht ausdrücklich als Verfassungswert ins Grundgesetz geschrieben. Vom Bundesverfassungsgericht und einem Großteil des rechtswissenschaftlichen Schrifttums wird dem Grundgesetz aber ein solches Gebot entnommen (BVerfG 2002: 2626; Isak 1994: 194f.). Bislang wurde das Neutralitätsgebot überwiegend als ein Gebot offener Neutralität verstanden, das eine Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaften ebenso erlaubt wie private Religionsausübung in öffentlichen Institutionen (Jeand’Heur et. al. 2000: 37). In der Schule darf z.B. ein Gebet gesprochen werden (BVerfG 1980: 575). Nur selbst religiös aktiv zu werden, ist dem Staat nicht erlaubt. Ein Kreuz darf er deshalb nicht im Klassenzimmer aufhängen (BVerfG 1995: 2477ff.). Das Verständnis des Neutralitätsgebots hat sich aber in der rechtlichen Diskussion über das Kopftuchproblem gewandelt. Zunehmend wird das Neutralitätsgebot als Gebot distanzierter Neutralität verstanden, das eine strikte Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften und eine konsequente Verneinung aller religiösen Formen und Inhalte in staatlichen Institutionen verlangt (Fischer 1984: 50). Ein solches Verständnis des Neutralitätsgebotes vertrat das BVerwG in seinen beiden Entscheidungen im Fall Ludin (BVerwG 2003: 37ff; BVerwG 2004: 1178ff.). Das BVerfG hielt im Fall Ludin eine solche Interpretation des Neutralitätsgebotes jedenfalls für möglich. In der Tat liegt ein striktes Verständnis staatlicher Neutralität zumindest im Rahmen zulässiger Auslegung des Grundgesetzes. Dieses schreibt nämlich nur an einem Punkt eine Öffnung des Staates für die Religion vor: Religionsunterricht ist in öffentlichen Schulen ordentliches Lehrfach und wird in Überstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaft erteilt (Art. 7 Abs. 3 GG).

Religi­ons­frei­heit als Minder­hei­ten­recht – Schranken der                 Religi­ons­frei­heit

Die Auslegung des Grundgesetzes hin zu einer strikten staatlichen Neutralität und damit einer Schwächung der Religionsfreiheit kann aber nicht überzeugen: Grundrechte haben eine wichtige Bedeutung für den Schutz gefährdeter Minderheiten. Im demokratischen Prozess haben sie die Funktion, der Herrschaft der Mehrheit Schranken zu setzen und auf diese Weise Schutzwirkungen zugunsten von Minderheiten zu entfalten (Kutscha 1998: 674). Der Religionsfreiheit kommt eine besondere Bedeutung für den Schutz von Minderheiten zu (Kutscha 1998: 676; Schnapp 1985: 861). Ihre Festlegung an vorderer Stelle im Grundrechtekatalog gilt als Antwort auf die Judenverfolgung im „Dritten Reich“ (Böckenförde 2003: 724). Dass die Religionsfreiheit also gerade dann beschränkt werden soll, wenn Muslime sie für sich in Anspruch nehmen wollen, ist nicht nur rechtspolitisch anrüchig. Es ist auch dogmatisch kaum haltbar, weil die Religionsfreiheit ihrer Aufgabe als Minderheitenschutzrecht so nicht gerecht werden kann. Gerade beim Schutz von Muslimen als gefährdeter Minderheit muss die Religionsfreiheit sich aber bewähren. Zudem kann dem Grundgesetz kaum eine Rechtfertigung für ein grundsätzliches Zurückdrängen privater Religionsausübung aus staatlichen Institutionen entnommen werden. Nur ein verfassungsrechtlich verankertes striktes Neutralitätsgebot könnte ein derartiges Vorgehen rechtfertigen. An die argumentative Herleitung eines solchen Gebotes, das die Religionsfreiheit einschränken kann, sind erhöhte Anforderungen zu stellen, weil die Religionsfreiheit vom Wortlaut her unbeschränkt gilt, und aufgrund ihrer besonderen Bedeutung für den Minderheitenschutz. Die gegenwärtige Herleitung eines solchen Gebotes aus dem Grundgesetz kann diesen Anforderungen nicht genügen. Die Gesamtschau der Verfassung spricht sehr stark für ein Gebot offener Neutralität. So zeigen eine Religionsfreundlichkeit des Grundgesetzes u.a. die Präambel, in der sich das Deutsche Volk seiner Verantwortung vor Gott vergewissert, die Möglichkeit zum Religionsunterricht an öffentlichen Schulen und die staatliche Unterstützung der Kirchen durch die Erhebung von Kirchensteuern. Für einen strikten Ausschluss religiöser Bezüge aus staatlichen Institutionen spricht dagegen ausschließlich das im Grundgesetz verankerte Verbot einer Staatskirche (Art. 140 GG i.V. mit Art. 137 Abs. 1 Weimarer Reichsverfasung).
Gegen die Ausweitung dieses Staatskirchenverbotes zum allgemeinen Trennungsprinzip der Verfassung ist aber einzuwenden, dass sich eine solche Trennung von Staat und Religion historisch weder im Allgemeinen Preußischen Landrecht noch in der Weimarer Reichsverfassung findet. Die Begründung einer strengen Trennung von Staat und Religion würde zudem die Verfassungslage in Richtung Laizität verschieben. Laizität ist eine Staatsstrukturbestimmung, die die völlige Enthaltsamkeit des Staates in Weltanschauungsfragen bezeichnet. Religionsfreiheit wird tendenziell auf den privat-persönlichen Bereich begrenzt. Eine solche Laizität findet sich in Frankreich. Dort ist nicht nur Lehrerinnen, sondern auch Schülerinnen das Tragen religiöser Kleidung in der Schule verboten. Die französische Konstruktion kann aber die Richtung für eine Neubestimmung des Neutralitätsgebots in Deutschland nicht weisen, weil die gewachsenen historischen Strukturen und rechtswissenschaftlichen Traditionen auf diesem Sektor hierzulande andere sind. In der französischen Verfassung ist – anders als im Grundgesetz – die Trennung von Staat und Religion als Laizität ausdrücklich verankert. [2]
Eine Absage an ein Verfassungsprinzip der Laizität bedeutet aber keinesfalls, dass die Freiheit der Religionsausübung nicht beschränkt werden kann. Vielmehr darf religiöses Verhalten nicht die übrigen Verfassungswerte verletzten. Auch der Schutz von Muslimen als gefährdete Minderheit in Deutschland führt nicht dazu, dass ihrer Religionsausübung keine Grenzen gesetzt sind. Der Staat muss deshalb z.B. dafür Sorge tragen, dass auch muslimischen Frauen die Chancen der durch Art. 3 GG garantierten Geschlechtergleichberechtigung zukommen. Muslimische Religionsgemeinschaften müssen die Grundprinzipien der Verfassung achten und können – wenn sie das nicht tun – verboten werden. Ebenso dürfen Muslime, die Beamte werden wollen, sich nicht durch ihr Verhalten in Widerspruch zum Grundgesetz stellen. Gefahren, die von einer Religionsausübung möglicherweise ausgehen, kann aber jeweils im Einzelfall begegnet werden.

Im Grundsatz für die Religi­ons­frei­heit: Das Kopftuch im Unterricht

Demnach kann nur eine Lösung des Kopftuch-Problems wirklich überzeugen: Muslimische Lehrerinnen genießen für das Tragen ihres Kopftuches im Unterricht die Religionsfreiheit. Ihr Recht kann nicht durch ein pauschales Verbot des Kopftuches zurückgedrängt werden. Zugleich ist zu berücksichtigen, dass das auch innermuslimisch stark umstrittene Kopftuch ein Symbol mit religiöser und geschlechterspezifischer Bedeutung ist. Im Einzelfall ist denkbar, dass das Kopftuch einer Lehrerin Konflikte mit Schülern und Eltern verursacht und die Lehrerin durch ihr Kopftuch in deren Grundrechte eingreift. So könnte die Lehrerin mit Kopftuch Eltern, die ihre Töchter entgegen deren Willen zu einer traditionell-muslimischen Lebensweise erziehen wollen, als Argument für deren Vorhaben dienen. Damit würde die Lehrerin diese Mädchen zumindest mittelbar in ihrer Religionsfreiheit beinträchtigen, weil diese sich bei einer Entscheidung gegen ein Leben gemäß traditioneller Auffassungen über den Druck der Eltern hinwegsetzen müssten. Die Lehrerin mit Kopftuch könnte auch die an einer Schule ohnehin schon vorhandenen religiösen Spannungen verstärken. Von Schulen mit einem hohen Anteil muslimischer Schüler in Berlin wird z.B. berichtet, dass Jungen Mädchen ohne Kopftuch als „Schlampen“ bezeichnen. Das kann eine Gefahr für den Schulfrieden bedeuten. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Jungen sich durch das Kopftuch der Lehrerin in ihrem Handeln bestärkt sehen.
Sollten sich diese Gefahren im Einzelfall verwirklichen, muss der Schuldirektor und letztlich die Schulbehörde tätig werden. Der Schuldirektor muss Gespräche zwischen Lehrerin, Eltern und Schülern über das Kopftuch anstreben und der Lehrerin die Möglichkeit geben, ihre Motivation, das Kopftuch zu tragen, zu erklären. Wenn solche konsensualen Lösungsversuche nicht greifen und die Gefährdung einzelner Schülerinnen oder des Schulfriedens anhalten, muss die Schulbehörde von der Lehrerin verlangen, das Kopftuch abzulegen. Weigert sie sich das zu tun, kann sie entlassen werden. Ihre Religionsfreiheit gilt eben nicht unbeschränkt.
Der gegenwärtige Stand der Gesetzgebung, Verwaltungspraxis und Rechtsprechung ist von einer solchen Lösung leider weit entfernt: Die reformierten Schul- und Beamtengesetze der Länder erlauben, Lehrern religiöse Symbole und Kleidung pauschal zu verbieten, ohne dass im Einzelfall eine Gefahr nachgewiesen werden muss. Fereshta Ludin wurde deshalb in Baden-Württemberg nicht in den öffentlichen Lehramtsdienst eingestellt, obwohl aus ihrer Referendarstätigkeit mit Kopftuch keine nennenswerten Probleme bekannt waren. In Niedersachsen wurde Iyman Alzayed, die ihren Fall ebenfalls vor das Bundesverwaltungsgericht gebracht hatte, erst eine Lehramtsstelle angeboten, als sie zusagte, auf ihr Kopftuch zu verzichten. Am Ende verzichtete sie aber statt des Kopftuches auf die Stelle und unterrichtet nun mit Kopftuch in Österreich. Bremen hinderte eine Referendarin mit Kopftuch daran, das Fach Bibelkunde zu unterrichten. Das Bremer Oberverwaltungsgericht bestätigte diese Entscheidung (OVG Bremen 2005). In Schleswig-Holstein wird wegen einer Referendarin, die mit Kopftuch das Lehramtsreferendariat begonnen hat, ein gesetzliches Kopftuchverbot diskutiert.

Die ideelle Renaissance der Religi­ons­frei­heit

Dennoch bietet der Gesamtkontext des Kopftuchproblems Chancen für die Religionsfreiheit: Muslime haben eine neue Diskussion über die Religionsfreiheit bewirkt. Zuvor war es für die noch christlich geprägte Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung kaum notwendig, sich auf die Religionsfreiheit zu berufen, weil das Christentum die Mehrheitskultur geformt hat und christliches Verhalten demnach unhinterfragt erlaubt ist. Für Muslime ist das anders. Muslimische Verhaltensweisen wie Schächten, Kopftuchtragen und Moscheebau sind gerade nicht kulturelles Gemeingut, sondern stoßen auf die Ablehnung der Mehrheitsbevölkerung. Muslime müssen sich also, wollen sie gemäß ihrem Glauben leben, auf die Religionsfreiheit berufen. Die über Bedeutung und Reichweite der Religionsfreiheit nun sehr lebhaft geführte Diskussion ruft zunächst Existenz und Wert dieser Grundfreiheit erneut ins öffentliche Gedächtnis. Das alleine ist bereits positiv zu werten.
Die im rechtswissenschaftlichen Schrifttum geführte Diskussion stärkt im Ergebnis auch die Religionsfreiheit. Zwar wird zum Teil die Meinung verfochten, dass die Grenzen der Religionsfreiheit enger zu ziehen und schärfer zu konturieren seien, damit dieses Recht den Herausforderungen einer multireligiösen Gesellschaft genügen könne. Die Religionsfreiheit, verstanden als Schutz für eine religiös bedingte Lebensführung, werde diesen Herausforderungen nicht mehr gerecht (Mückl 2001: 97ff.). Überwiegend machen sich die Autorinnen aber für die Geltung der Religionsfreiheit in dem bisherigen Umfang stark. Die Religionsfreiheit könne in ihrer bisherigen Interpretation auch den veränderten religionssoziologischen Bedingungen genügen. Es sei an die Tradition des deutschen Staatskirchenrechts zu erinnern, den religiösen Frieden über freiheitliche und gleichberechtigte Teilhabe zu garantieren (Heinig et. al. 2003: 785).
Anders verhalten sich aber Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltungspraxis zu Lehrerinnen mit Kopftuch. Sie statuieren ein an Lehrerinnen im öffentlichen Dienst gerichtetes Verbot, sich sichtbar religiös zu verhalten und schränken damit ihre Religionsfreiheit unverhältnismäßig ein. Zudem kann man künftig erwarten, dass die Länder, soweit das nicht wie in Berlin und Hessen bereits geschehen ist, dieses Verbot auch auf andere Staatsbedienstete ausweiten. Das würde zu einer sehr weitreichenden Einschränkung der Religionsfreiheit von Staatsbediensteten führen. Trotzdem gibt es in dieser Situation zumindest Hoffnungen für die Geltung der Religionsfreiheit im verfassungsrechtlich erforderlichen Umfang, wie der Umgang Baden-Württembergs mit dem Kopftuch exemplarisch zeigt: Baden-Württemberg wollte von dem Verbot religiöser Bekundungen im öffentlichen Dienst christliche Bekundungen ausnehmen. So ist nach dem Wortlaut des reformierten Schulgesetzes die Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen durch Lehrkräfte von dem Neutralitätsgebot ausgenommen. Das Bundesverwaltungsgericht legte diese Formulierung im Sinne eines Kulturchristentums aus. Der Begriff des „Christlichen“ bezeichne eine Wertewelt, die unabhängig von ihrer religiösen Fundierung Geltung beanspruche (BVerwG 2004: 1181). Das Gericht sah in dem Gesetz deshalb keinen Verstoß gegen das Gebot der Gleichbehandlung aller Religionen. Die damalige baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan erklärte aber noch nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes, dass Nonnen in Baden-Württemberg in ihrer Ordenstracht unterrichten dürften.
Die umfassende Reichweite der Religionsfreiheit von Christinnen im öffentlichen Dienst scheint das Land demnach nicht in Frage stellen zu wollen. Dem steht aber das verfassungsrechtliche Gebot strikter Gleichbehandlungen aller Religionsgemeinschaften entgegen. Dieses erlaubt keine Ausnahme für christliche Religionsausübung. Sollte Baden-Württemberg seinen Lehrkräften also weiterhin das Zur-Schau-Stellen christlicher Religiosität im Unterricht erlauben wollen, so kann das Land dem Gleichheitsgebot nur dann genügen, wenn es auch Musliminnen das Tragen des Kopftuches gestattet. Dieses Recht könnten Musliminnen nämlich dann unter Berufung auf das religiöse Gleichheitsrecht vor den Gerichten einklagen. Gegenwärtig sieht sich das Land einer solchen Situation noch nicht gegenüber. Zwar unterrichten wohl an einer Schule Nonnen im Habit. Hier handelt es sich aber um eine Übergangssituation, weil eine ehemals private Schule vom Staat übernommen wurde. Zudem ist kein Fall bekannt, indem sich Schüler oder Eltern gegen die – z.B. in Form eines Kreuzes – demonstrativ zur Schau getragene Religiosität einer christlichen Lehrperson wenden. Ebenso wenig hat sich bislang eine muslimische Lehramtsbewerberin gegen die Nicht-Einstellung in den öffentlichen Dienst wegen ihres Kopftuches mit dem Argument gewendet, dass christliche Lehrerinnen Kreuze oder Habit tragen dürften. Es ist aber denkbar, dass es zu einer Situation kommt, in der das Land, um dem Gleichheitsgebot zu genügen, entweder auch Christinnen sichtbare Religionsausübung im öffentlichen Dienst verbieten oder sie aber Musliminnen erlauben muss. So massiv wie Baden-Württemberg bislang an der Möglichkeit zur Religionsausübung von Christinnen in der Schule festgehalten hat, ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass das Land eher die Muslimin mit Kopftuch in Kauf nimmt.
Um den Zustand der Religionsfreiheit steht es hierzulande gegenwärtig nicht gut. Sie wird nicht ausreichend zum Schutz der muslimischen Minderheit eingesetzt. Ein Hoffnungsschimmer für eine verfassungsrechtlich angemessene Geltung der Religionsfreiheit existiert aber dennoch: Die Auffassung, dass der Staat alles Religiöse aus seinen Institutionen heraushalten müsse, ist noch nicht zur Mehrheitsmeinung geworden.
 
   
 1   Vgl. Art. 59 II Gesetz über das Bayerische Erziehungs- und Unterrichtswesen, Gesetz zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin, § 59b IV Bremer Schulgesetz, § 68 II Hessisches Beamtengesetz, § 86 III Hessisches Schulgesetz, § 51 III niedersächsisches Schulgesetz, § 1 XIX a Saarländisches Schulordnungsgesetz.
 2    Die seit 1958 geltende französische Verfassung legt in Art. 2 fest: „Frankreich ist eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik“.

 
Literatur  

Böckenförde, Ernst-Wolfgang 2001: „Kopftuchstreit“ auf dem richtigen Weg?; in: Neue Juristische Wochenschrift, 54. Jg., H. 10, S. 723-728
Fischer, Erwin 1984: Trennung von Staat und Kirche. Die Gefährdung der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft in der Bundesrepublik, Frankfurt/Main
Heinig, Hans Michael/Morlok, Martin 2003: Von Schafen und Kopftüchern; in: Juristenzeitung, 48. Jg., H. 15/16, S. 777-785
Isak, Axel 1994: Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften und seine Bedeutung für die Auslegung staatlichen Rechts, Berlin
Jeand’Heur, Bernd/Korioth, Stefan 2000: Grundzüge des Staatskirchenrechts, Stuttgart u.a.
Kutscha, Martin 1998: Grundrechte als Minderheitenschutz; in: Juristische Schulung, Jg. 38, H. 8, S. 673-679
Mückl, Stefan 2001: Religionsfreiheit und Sonderstatusverhältnis – Kopftuchverbot für Lehrerinnen?; in: Der Staat, Jahrgang?, H. 1, S. 97-121
Schnapp, Friedrich E. 1985: Toleranzidee und Grundgesetz; in: Juristenzeitung, 40. Jg., H. 19, S. 858-863

Urteile

BVerfG 2003: Neue Juristische Wochenschrift 2003, S. 3111-3122
BVerfG 2002: Neue Juristische Wochenschrift 2002, S. 2626-2632
BVerfG 1995: Neue Juristische Wochenschrift 1995, S. 2477-2482
BVerfG 1980: Neue Juristische Wochenschrift 1980, S. 575-579
BVerfG 1969: Neue Juristische Wochenschrift 1969, S. 31-33
BVerfG 1972: Neue Juristische Wochenschrift 1972, S. 1183-1187
BVerfG 1972: Neue Juristische Wochenschrift 1972, S. 327-330
BVerwG 2004: Juristenzeitung 2004, S. 1178-1181
BVerwG 2003: Zeitschrift für Beamtenrecht 2003, S. 37-39
OVG Bremen 2005: Beschluss vom 26. August, Az. 2B 158/05

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