Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 173: Religion und moderne Gesellschaft

Islamis­ti­sche Herrschaft als eine Form des Totali­ta­rismus

Die Symbiose von Religion und Diktatur im Iran,

aus: vorgänge Nr. 173 (Heft 1/2006), S. 45-53

Mit dem neu gewählten iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinejad ist der Iran in eine neue Phase der Stabilisierung der khomeinistischen Diktatur eingetreten. Hashemi Rafsanjani hatte dies während seiner Präsidentschaft 1989-1997 durch die Stärkung der iranischen Wirtschaft mittels begrenzter Marktöffnung für ausländische Investitionen zu erreichen versucht, was als wirtschaftliche Liberalisierung gefeiert wurde (Fürtig 1996: 9). Der als „Reformer“ geltende Mohammad Khatami setzte dann die ideologische Waffe der „islamischen Zivilgesellschaft“ und der „islamischen Demokratie“ ein, um die Demokratieforderungen aus der Gesellschaft zu neutralisieren, indem er die Begriffe Demokratie, Zivilgesellschaft, Menschenrechte, Gleichberechtigung islamisierte und inhaltlich aushöhlte. Khatami wollte einerseits durch die wirtschaftliche Öffnung nach Europa die Diktatur stabilisieren und gleichzeitig mit zivilgesellschaftlichen Parolen den demokratischen Willen der Bevölkerung nach Freiheit neutralisieren. Auch er galt als Hoffnungsschimmer der Nation (Kermani 2001: 226). Aber schon bei der Wahl Khatamis 1997 waren alle totalitären Strukturen der staatlichen Macht intakt. Daher lässt sich die reformislamistische Strategie der Modernisierung der Diktatur lediglich als ideologische Stabilisierung der vorhandenen Machtstrukturen analysieren (Wahdat-Hagh 2003: 380f.).
Die neue Regierung von Ahmadinejad ist ideologisch revolutionär und militaristisch (vgl. Memri 28. Juni 2005). Während Khatami von städtischen Mittelschichten und wohlhabenden Teilen des Basars getragen wurde, wurde Ahmadinejad wieder von den Massen der Armen gewählt. Tatsächlich sind die sozialen Probleme des Landes heute größer denn je: Massenarbeitslosigkeit, Drogen, Prostitution wachsen stetig. Khatami bezog sich auf Khomeinis Parolen von Demokratie und Zivilgesellschaft – doch eben diese lassen sich im Rahmen einer Diktatur nicht verwirklichen.
Ralf Dahrendorf hat jüngst festgestellt, dass „neue Fundamentalismen islamisch sein [können], aber auch protestantisch und sogar von einem Marktfundamentalismus sprechen manche nicht zu unrecht.“ (Dahrendorf 2005: 13) Im Folgenden geht es aber weniger um die Herausarbeitung der globalen Zusammenhänge der Totalitarismen, sondern um eine neue Spielart der totalitären Diktatur, die sich religiös verbrämt und legitimiert. Während beispielsweise die nationalsozialistische Weltanschauung von einem biologischen Lebenskampf von Rassen und Völkern ausging, strebten Anhänger eines kommunistischen Messianismus eine utopische Humanisierung der sozial-ökonomischen Probleme der Moderne an. Um es vorwegzunehmen: Die khomeinistische Diktatur zeichnet sich durch einen politischen eliminatorischen Antizionismus aus und schließt alle Nicht-Islamisten aus ihrem Herrschaftsbereich aus.
Folgende Kriterien gelten in der Totalitarismustheorie als ausschlaggebend für eine totalitäre Herrschaft: Massenmobilisierung, staatliche Überwachungsorgane, Führerideologie, staatlicher Terror nach innen und nach außen und eine apodiktische Staatsideologie (vgl. Maier 1996, 1997, 2003; Eisenstadt 1998, 2000). All dies sind Faktoren, die auch die neue totalitäre Herrschaft, die sich im islamischen Gottesstaat religiös legitimiert, determinieren.

Khomei­nis­ti­sche Bewegung und Mobili­sie­rung der Masse

Der iranische Klerus war nicht nur beim Sturz der Pahlavi-Dynastie 1979 erfolgreich. Nach der Machtergreifung begann zudem eine Geschichte der staatlich organisierten Mobilisierung der Massen, die bis heute die Bevölkerung zur Partizipation an dem Herrschaftssystem bewegen soll (Wahdat-Hagh 1999: 330ff.). Schon in der Etablierungsphase des Regimes waren die Islamisten in ihrem Kampf gegen das „westliche“ Schahregime aktiv (vgl. Backes/Jesse 2002: 17). Sie nutzten den politischen Druck aus, den der damalige US-Präsident Carter auf den Iran ausübte, damit Iran seine Menschenrechtssituation verbessert. In Abgrenzung zum Westen und dessen Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten mobilisierten die Islamisten die Massen, um eine islamische Herrschaft zu errichten.
Im September 1977 hielt Khomeini eine Rede im irakischen Exil und sprach von „Möglichkeiten eines Protestes“, die sich neu eröffnet hätten (Kurzman 2004: 21). Er forderte den Klerus auf, sich der Kritik, die aus dem Lager des rudimentär vorhandenen liberalen Bürgertums erwuchs, anzuschließen.
In Moscheen wurde immer lauter der Sturz des Regimes und die Rückkehr Khomeinis, der von einigen als Messias gepriesen wurde, gefordert. Die religiösen Rituale wandelten sich im Dezember 1977 zum politischen Protest. Dazu wurden schon im Januar 1978 gewalttätige Demonstrationen durchgeführt. Ab 1978 gewann die Massenbewegung über die Organisation der Moschee Netzwerke eine organisierte Gestalt. Diese Netzwerke sollten die Infrastruktur für die Proteste der Jahre 1978 bilden. Die Moscheen und die religiösen Zentren wurden täglich aktiver und mobilisierten die Massen. Die revolutionäre islamische Bewegung argumentierte islamisch und schiitisch, wobei die kulturellen Elemente vollkommen modifiziert wurden: Die revolutionäre Ungeduld Khomeinis warf die schiitische Vorstellung des Wartens auf den verschwundenen Imam über Bord. Er forderte die Mobilisierung der Massen zur sofortigen Gründung des islamischen Staates.
Heute können nicht nur die Pseudo-Wahlen als weiteres Beispiel für die staatliche Mobilisierungsstrategie angeführt werden, sondern auch die Mobilisierung für die „Bassiji-Woche“, in der der minderjährigen Kämpfer, die gegen den Irak in den Krieg zogen, gedacht wird, oder für den Al-Quds-Tag, an dem jährlich zur Zerstörung Israels aufgerufen wird (vgl. Memri 20. Dezember 2005, 2. November 2004). Immerhin demonstrierten Ende November 2005 landesweit ca. neun Millionen Menschen für Ahmadinejad und das iranische Atomprogramm.

Totalitäre Insti­tu­ti­onen im Iran

Der Wächterrat, der Rat zur Erkenntnis der Staatsinteressen und der Expertenrat sind Beispiele für totalitäre Organe, die die Macht des religiösen Führers stärken.
Der aus sechs Kleriker und sechs Juristen bestehende Wächterrat ist eine so genannte ewige Einrichtung; nur die Mitglieder werden für einen begrenzten Zeitraum von sechs Jahren gewählt. Während das Majless, das Pseudo-Parlament, zu dem nur Khomeinisten zugelassen sind, für vier Jahre gewählt wird, wird der Expertenrat, der den religiösen Führer wählt, für acht Jahre gewählt. Der Wächterrat wählt den Expertenrat. Dieser den Führer. Und der Führer wählt wieder den Wächterrat. Dabei kontrolliert der Wächterrat das Majless. So entsteht eine Karussel der Macht; sie klont sich selbst. Alle sich zur Wahl stellenden Kandidaten werden durch den Wächterrat abgesegnet oder ausgeschlossen (Wahdat-Hagh 2003: 287). Dadurch bekommt das Majless eher den Charakter einer Ersatz-Staatspartei als den eines Parlaments, zumal die verschiedenen islamistischen Splittergruppen keine frei gewählten Parteien darstellen (Wahdat-Hagh 1999a: 325ff.; Ders.: 2003: 325-407).
Majmae Tashkhisse Masslehate Nesam (MTMN), wegen seiner ursprünglichen Aufgabe der Schlichtung von Konflikten zwischen dem Wächterrat und dem Majless auch Schlichtungsrat genannt, ist ein weiteres totalitäres Organ des khomeinistischen Gottesstaates. Der religiöse Führer des Iran, Ali Khamenei, hat Anfang Oktober 2005 wichtige Teile seiner politischen Verantwortlichkeiten an MTMN übergeben. Zwar behält Khamenei die Führungsbefugnisse, seine Position wird aber nun durch ein neues Kontrollorgan gestützt. Vorsitzender des Schlichtungsrates bleibt Hashemi Rafsanjani und damit weiterhin der zweitmächtigste Mann im iranischen Gottesstaat. Auch Ex-Präsident Mohammad Khatami und Hassan Rohani, der ehemalige Unterhändler in Atomfragen, arbeiten mittlerweile unter Rafsanjani in der Forschungsabteilung für strategische Fragen des MTMN (vgl. Memri 22. November 2005, 7. November 2005).

Das Verhältnis von Führer, Gott und Volk

Im Iran gibt es keine Souveränität des Volkes, denn die Umma ist das Volk Gottes und hat Gott und seinem Vertreter zu gehorchen (Wahdat-Hagh 1999a: 336). Im Artikel 107 der iranischen Verfassung wurde festgelegt, dass der Expertenrat den religiösen Führer wählt. Der religiöse Führer wird vom Expertenrat per Akklamation (Entessabi) gewählt. Tatsächlich gibt es eine innerislamistische Auseinandersetzung über die Frage, ob „rationale Vernunft“ oder nur eine göttliche Vorbestimmung die Wahl des religiösen Führers ausmache. Für Ayatollah Amoli, führender Kleriker und Verfasser theoretischer Schriften über den Staat, spielt die von Gott geführte Vernunft des Expertenrates bei der Wahl des religiösen Führers eine relevante Rolle. Eine andere Position, die sich davon in Nuancen unterscheidet, vertritt Ayatollah Mesbahe Yasdi, der ideologische Mentor des Präsidenten Ahmadinejad: „Die Legitimität der Regierung in der Zeit der Abwesenheit des 12. Imam ist von Gott bestimmt. Die Legitimität wird nicht durch die Wahl der Bevölkerung, sondern durch ein göttliches Urteil definiert. [..] Wahlen haben lediglich die Funktion den Führer zu entdecken, verleihen ihm jedoch keine Legitimität.“ (zit. n. Feirahi 2003: 275) Die Legitimität des politischen Systems werde wiederum vom religiösen Führer bestimmt. Und alle Aufgaben der drei Gewalten, der Judikative, der Legislative und der Exekutive, werden ebenfalls ihre Gültigkeit erlangen, wenn diese vom religiösen Führer, der als Stellvertreter des verschwundenen Imam verstanden wird, abgesegnet werden. Mesbahe Yasdi geht davon aus, dass die Kleriker des Expertenrates den religiösen Führer lediglich entdecken. Tatsächlich wähle der verschwundene Imam seinen Stellvertreter und da die Menschen ihn nicht kennen, müssten die Experten ihn entdecken (vgl. Feirahi 2003: 278).
Mesbahe Yasdi zufolge bestimmt einerseits Artikel 110 die Aufgaben des religiösen Führers, andererseits hat aber der religiöse Führer eine „absolute“ Position, denn er ist Velayate Motlaqeye Faqih, d.h. er ist in der Position eines „absoluten klerikalen Herrschers“. Der Führer werde von Gott legitimiert, schreibt der islamistische Politikwissenschaftler Feirahi, dessen Buch vom iranischen Außenministerium herausgegeben worden ist (Feirahi 2003: 297). Die Logik der Diktatur ist so eindimensional wie zynisch: Der religiöse Führer wird von Gott ausgesucht. Dem Volk bleibt die Entscheidung überlassen, ob es sich für die göttliche Vorbestimmung entscheidet oder nicht.

Staatlicher Terror nach innen und nach außen

Anti-Bahaismus und eine neue Form des eliminatorischen Anti-Zionismus gehören zu den weiteren totalitären Merkmalen der staatlichen Diskriminierung und Verfolgung im Iran. Aber auch die geschlechtsspezifische Apartheidpolitik gegenüber den Frauen und der Jugend gehören zu den diskriminierenden Spezifika der Diktatur (Ahmadi 2006).
Seitdem die islamische Regierung an die Macht gekommen ist, sind über 200 Bahai ermordet worden. Hunderte wurden ins Gefängnis gesteckt, die Besitztümer von Tausenden wurden konfisziert. Die heiligen Stätte der Bahai wurden zerstört und ihre administrativen Gemeindestrukturen aufgehoben. Die Bahai besitzen kein Recht, höhere Schulen und Universitäten zu besuchen. Es liegt auf der Hand, dass die Regierung die iranische Bahai-Gemeinde auslöschen will.
Zudem propagiert der Iran seit 27 Jahren einen eliminatorischen Antizionismus.

Der iranisch-islamistische Antisemitismus ist nicht rassisch bedingt und daher nicht mit der Geschichte des europäischen Antisemitismus zu verwechseln. Dennoch gibt es einen iranisch-islamistischen Antisemitismus, der sich politisch artikuliert. Die neue Form des Antisemitismus wird vom Mutterland des Islamismus, von der „Islamischen Republik Iran“ geschürt und fordert die Vernichtung Israels, betrachtet gar den einzigen demokratischen Staat im Nahen und Mittleren Osten als ein „Krebsgeschwür“, das notfalls militärisch eliminiert werden muss. Das Existenzrecht Israels wird nicht anerkannt. Der khomeinistische Antisemitismus fordert die Zerstörung eines legitimen Staates, der nach der Barbarei des Nationalsozialismus eine Heimstätte für alle Juden der Welt darstellt. Der khomeinistische Antisemitismus ist daher auch eine neue Form des eliminatorischen Antisemitismus. Vor dem Grund der iranischen Aufrüstungspolitik und der iranischen Mittelstreckenwaffen, die Israel längst erreichen können, bekommt diese Form des Antisemitismus einen besonderen politischen Stellenwert.
Die Glorifizierung des Terrorismus gehört auch zur staatlichen Ideologie und zur Realität des iranischen Revolutionsexports, also dem Staatsterrorismus. Tatsächlich rief Khomeini schon im August 1979 zur Vernichtung Israels auf. Die islamische Revolution sollte als Modell für die gesamte islamische Welt dienen. Khomeini forderte die Gründung einer Partei, der Hesbollah, die die Einheit aller Muslime in der islamischen Welt verwirklichen sollte. Seitdem marschieren iranische Reformislamisten und Hardliner am letzten Freitag des Monats Ramasan, also am Ende der Fastenzeit, überall in Teheran, aber auch in London und in Berlin und rufen zur Zerstörung Israels auf (vgl. Memri 12. November 2004, 26. Oktober 2005). Insofern gehören die jüngsten antisemitischen Forderungen des iranischen Präsidenten und dessen Holocaustleugnung zum traditionellen Ton der iranischen Regierung.
Es sollte auch nicht vergessen werden, dass die libanesische Hesbollah von einem iranischen Reformislamisten gegründet worden ist und Jihade Eslami eine proiranische Terrorbewegung ist. Auch zur Hamas verfügt der Iran über gute Kontakte. Der iranische Führer traf sich am 13. Dezember 2005 mit Khaled Mashal, dem Repräsentanten der Hamas in Teheran und versprach ihm seine volle Unterstützung.
Den Grundstein für diese Entwicklungen legte schon Khomeini: Laut Feirahi müsse der Iran seine internationale Politik so gestalten, dass die aktiven politischen Akteure kein Interesse an der militärischen Feindschaft mit dem Iran finden. In diesem Zusammenhang zitiert er Khomeini: „Unser Krieg, ist ein Krieg der Überzeugungen. Dieser Krieg kennt keine Geographie und Grenzen. Wir müssen in unserem Kampf der Überzeugungen muslimische Soldaten weltweit mobilisieren.“ (Feirahi 2003: 264) Und tatsächlich sind die Iraner auch aktiv beim Aufbau von freiwilligen paramilitärischen Einheiten (Memri 6. Juli 2005, 18. August 2005, 7. November 2005). Khomeini schrieb schon damals, dass der Iran sich zu einer „unangreifbaren militärischen Bastion entwickeln“ müsse, „in der die muslimischen Soldaten ideologisch und religiös ausgebildet werden müssen. Sie müssten in Methoden und Prinzipien des Kampfes gegen ungläubigen Systeme ausgebildet werden.“ Khomeini betonte, dass die Muslime „gegen die Ausbeuter bis zu ihrer Vernichtung kämpfen werden. Entweder werden wir alle frei sein oder wir werden in einem höheren Sinne, des Märtyrertodes frei sein.“ (zit. n. Feirahi 2003: 264) Ähnlich äußerte sich nun auch Ahmadinejad.

Ideologie und Propaganda: die Herrschaft des Klerus

Nach Hannah Arendt setzen totalitäre Diktaturen ihre ideologischen „Doktrinen und die aus ihnen folgenden praktischen Lügen mit Gewalt in die Wirklichkeit“ um (Arendt: 1986: 546). Die herrschende Ideologie im Iran geht von der Legitimität einer Herrschaft des Klerus aus. Dank eines gewaltigen Propagandaapparates, unzähliger Internetportale, die jedoch keine systemfremden Informationen vermitteln, Fernsehsendungen für In und Ausland und einer gleichgeschalteten Presse sowie der erfolgreichen Arbeit des Repressionsapparates konsolidiert sich die Mullah-Herrschaft. Zwar konnte sich im Verlauf des 20. Jahrhundert nirgendwo der totalitäre Anspruch der Diktatur in einer Gesellschaft gänzlich durchsetzen. Das ist heute nicht anders: Die iranische Gesellschaft ist so gespalten wie nie zuvor – zwischen der vom Westen gesteuerten Informationstechnologie und der staatlichen Propaganda. Dennoch unterliegt die Gesellschaft dem permanenten totalitären Anspruch und seiner Ideologie.
Der Kern der khomeinistischen-iranischen Idee ist die klerikale Herrschaft, die einhergeht mit der Vorstellung einer messianischen Gesellschaft, die durchaus als Parallele zu einer „gerechten“ kommunistischen Gesellschaft zu verstehen ist (vgl. Memri 29. August 2005). Sie stützt sich direkt auf die Idee der Herrschaft des Klerus als Stellvertreter Gottes, bis der Messias erscheint.
Tatsächlich ist der innerislamische Streit über die Frage nach der Form der islamischen Herrschaft im Iran mindestens 100 Jahre alt. Feirahi erklärt, dass schon um die Wende zum 20. Jahrhundert der religiöse Gelehrte Haji Mirsa Hussein Naini eine islamische Herrschaft in Form eines Konstitutionalismus gefordert habe (Feirahi 2003: 242). Er schloss die Herrschaft eines Königs ein. Eine reine klerikale Herrschaft sei nur dann erlaubt, wenn der verschwundene 12. Imam, der im schiitischen Islam als Messias gilt, wiedergekommen sei. Khomeini widersprach Naini in seiner Staatslehre.
In seinem Hauptwerk Hokumate Eslami pochte Khomeini auf die „Herrschaft des Klerus“ und war der Meinung, dass lediglich die soziale Lage der Muslime und des Klerus ihnen nicht erlaube, eine islamische Herrschaftsform zu errichten. Die Kleriker, die sich als Vertreter des verschwundenen Imam verstehen, müssten jetzt schon die politische Macht ausüben. Nach der khomeinistischen Lehre geht es in der islamischen Herrschaft um die „Herrschaft des göttlichen Gesetzes“.
Feirahi zufolge gibt es im Iran, unter Islamisten wohlgemerkt, drei Vorstellungen, wie eine islamische Herrschaft auszusehen hat. Während Nationalreligiöse (Wahdat-Hagh 1999b: 25) der Meinung sind, dass, solange der von Schiiten erwartete Messias nicht erschienen sei, die Regierung sich eher um nationale Ziele kümmern sollte, gäbe es eine zweite Gruppe, die den Revolutionsexport als erste Pflicht der islamischen Regierung ansehe. Dazu zählen traditionell linksislamistische Strömungen. Die dritte Strömung, die von Mohammad Javad Larijani geführt werde, geht ideologisch einen Schritt weiter und betrachtet die islamische Welt als eine einzige Ummat, also als vermeintliche islamische Nation, die unter die Führung der Velayate Faqih, also unter die Herrschaft des Klerus gebracht werden müsse. Dies ist prinzipiell das erklärte Ziel der iranischen Politik und wird heute mehr diskutiert als je zuvor. Feirahi zufolge ist die Bedingung für eine solche Führung eine aktive Einflussnahme des Mutterlandes auf die islamistischen Bewegungen. Iran sei heute technologisch in der Lage, seine nationalen Strategien global umzusetzen. Khomeini jedenfalls habe den Kurs vorgegeben, als er den iranischen Staatsklerus verpflichtete, die Führung der Ummat zu übernehmen. In diesem dialektischen Verhältnis sei die gesamte Ummat verpflichtet, die iranische Führung zu verteidigen (Feirahi 2003: 261)

Die totalitäre Identität

Der Machtanspruch des Staates und dessen Wille zur Beherrschung der gesamten Gesellschaft ist totalitär. Totalitäre Herrscher versuchen eine gemeinsame Identität mit den Beherrschten herzustellen. Ein solcher Voluntarismus der Macht ist zwar von den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts nicht realisiert worden. Der islamisch verbrämte Staat bleibt ungeachtet dessen entschlossen, alle staatlichen Organe zu instrumentalisieren, um seine Macht durchzusetzen. Auch wenn es bislang keinen Staat gab, der auf Dauer seine Allmacht der Gesellschaft aufzwingen konnte, reichen die beschriebenen totalitären Ansprüche aus, um im Falle des Iran von einer dritten Spielart totalitärer Herrschaftsformen zu sprechen.
Während die nazistische Ideologie teilweise mit sozialistischem Vokabular arbeitete, versuchen islamistische Ideologen demokratische und sozialistische Versatzstücke in ihre Dogmatik einzubauen. Dies kann hier nicht näher analysiert werden; ein Hinweis auf das Paradebeispiel der Wahlen soll hier genügen. Für Islamisten aller Schattierungen ist die Islamische Republik Iran das beste politische System in der Welt. Und die Wahlen im Iran gelten ihnen prinzipiell als demokratisch. Beispielsweise gratulierte Ex-Präsident Khatami den neuen Präsidenten Ahmadinejad und betonte in seinen Kommentaren, dass man akzeptieren müsse, dass Ahmadinejad nun mal demokratisch gewählt worden sei. Zwar unterstellte beispielsweise der unterlegene Präsidentschaftskandidat Karrubi Wahlmanipulation. Dennoch zweifeln die Islamisten prinzipiell nicht an der herrschende Demokratie im Iran, auch wenn dann und wann Mängel eingestanden werden. Dabei waren die vom Wächterrat kontrollierten und diktierten Pseudo-Wahlen in der „Islamischen Republik“ von Anbeginn eine Parodie von demokratischen Wahlen. Denn nur islamistische Kandidaten können gewählt werden (Wahdat-Hagh 2003: 302). Der Justizchef Ayatollah Mahmud Haschemi-Schahroudi hatte bei den letzten Präsidentschaftswahlen im Juni 2005 die iranischen Wähler sogar vor einem Wahlboykott gewarnt. Dies käme einem Staatsverrat gleich. Tatsächlich hatten sich alle islamistischen Strömungen, vom religiösen Führer bis zu den Reformislamisten, für die Teilnahme an den „Wahlen“ ausgesprochen.
Der unbedingte Wille, der alle Islamisten verschiedener Schattierungen zusammenhält, ist die Sicherung der Macht des totalitären Staates. Die Khomeinisten bedienen sich rigider Methoden, wenn es eine Machtverteilung zu verhindern gilt, wenn es um die Sicherung der religiös verbrämten, vermeintlich von Gott gegebenen Macht geht. Beide islamistische Fraktionen, sowohl die Reformislamisten als auch die sogenannten Hardliner, haben dieselbe antipluralistische Weltanschauung. Beide Fraktionen schließen konsequent andere Ideologien aus, denn sie pochen auf die khomeinistische Verfassung, die den Ausschluss des „Anderen“ garantiert. Wie alle Totalitarismen bekämpfen auch die Islamisten den Liberalismus. Auch Khomeinisten verfolgen prinzipiell in ihrer Bewegung und nach der staatlichen Machtergreifung das Ziel der radikalen Umwälzung und Umgestaltung der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen.
Der moderne Machtapparat des khomeinistischen Staates wird zur Mobilisierung der Masse eingesetzt, um eine scheinbare Einheit zwischen dem Führer, seinen Machtorganen und dem vermeintlichen Volk herzustellen. Die neue totalitäre Identität wird durch die Aufhebung einer vielfältigen pluralistischen Identität der Gesellschaft versucht herzustellen. In der Praxis der Diktatur gibt es dann den Versuch, die politischen und kulturellen „Feinde“ der Massendiktatur zu eliminieren. Auch der islamistische Staatsklerus versucht Ideen in die Tat umsetzen, die propagandistisch dem Volk Sicherheit geben, eine vermeintlich von Gott sakralisierte Sicherheit. Totalitäre Ideologien geben ihren Anhängern eine quasi-religiöse Orientierung, die dem Menschen eine überhöhte Gewissheit gibt.
Die Machtorgane sollen das politische System der Diktatur in jeglicher Hinsicht stabilisieren. Dies erfordert eine technologische Modernisierung der Wirtschaft und des Militärs und der gesamten staatlichen Strukturen. Vor dem Hintergrund des iranischen Raketenprogramms und des Atomprogramms wird die dritte Spielart des Totalitarismus, trotz aller Wirtschaftsinteressen im gewinnbringenden iranischen Markt, somit auch ein Problem für Europa.
 
Literatur  
Ahmadi, Jale 2005: Die iranische Gesellschaft und die „islamische“ Geschlechtermaskerade; in:   Bad Boller Skripte H. 6, S.33-41    
Arendt, Hannah 1986, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München
Backes, Uwe/Jesse Eckhard (Hg.) 2002: Jahrbuch Rechtsextremismus & Demokratie Baden-Baden
Dahrendorf, Ralf 2005: Versuchungen der Unfreiheit, Erasmus-Intellektuelle im Zeitalter des Totalitarismus, WZB-Vorlesungen, Berlin
Ders. 1988:  The Modern Social Conflict, London
Eisenstadt, S.N. 1998: Antinomien der Moderne, Frankfurt/Main
Ders. 2000: Die Vielfalt der Moderne, Frankfurt/Main
Feirahi, Dawud 2003: Nesame Siasiye wa Dowlat dar Eslam (Politisches System  und Staat im Islam), Teheran
Fürtig, Henner 1996: Liberalisierung als Herausforderung: Wie stabil ist die Islamische Republik Iran? Berlin
Kermani, Navid 2001: Iran, Die Revolution der Kinder, München
Kurzman, Charles 2004: The Unthinkable Revolution in Iran, Cambridge
Maier, Hans (Hg.)  1996, 1997, 2004: Politische Religionen, Band I, II, III, München
Memri: http://www.memri.de/uebersetzungen_analysen/index_iran.html
Pfahl-Traughber, Armin 2004: Kritische Totalitarismuskonzepte auf dem Prüfstand; in: Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Baden-Baden
Wahdat-Hagh, Wahied 1999a: Die Herrschaft des politischen Islam als eine Form des Totalitarismus, „Die Islamische Republik Iran“; in: PROKLA, H. 115, S. 317-342
Ders. 1999b: Die zynische Diktatur im Iran; in: vorgänge, 38. Jg., H. 3, S. 22-26
Ders. 2002: Islamistisches Charisma und totalitäre Herrschaft; in: vorgänge, 41. Jg., H. 4, S. 56-58
Ders. 2003: „Die Islamische Republik Iran“. Die Herrschaft des politischen Islam als eine Spielart des Totalitarismus, Berlin
Ders. 2006: Europäische Diplomatie in der Sackgasse; in: Internationale Politik, H. 3, S. 67-73    

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