Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 173: Religion und moderne Gesellschaft

Religion als neue gesell­schaft­liche Ressource

Warum wir einen religionsfreundlichen Staat brauchen*,

aus: vorgänge Nr. 173 (Heft 1/2006), S. 3-20

 Am 18. September des vergangenen Jahres wurde ein neuer Bundestag gewählt. Als Neuberliner, noch keine zwölf Wochen in der Stadt ansässig, machten meine Frau und ich uns gemeinsam mit den Kindern auf den Weg zum Wahllokal, einer kleinen evangelischen Kirche in Lichterfelde. Bald bemerkten wir zunehmend amüsiert, dass immer mehr Menschen, die uns entgegen kamen, ein Marmeladenglas in den Händen hielten. War es etwa eine uns bisher unbekannte Berliner Schrulligkeit, sonntags mit einem Marmeladenglas spazieren zu gehen? Das Rätsel löste sich bald auf, nämlich im Foyer von Kirche und Gemeindehaus, wo Stände mit selbstgemachten Lebensmitteln und Dritte-Welt-Produkten aus fairem Handel die Wähler empfingen. Leicht ergab sich daraus das eine oder andere Gespräch jenseits der offiziell höchst verschwiegenen Routine der Stimmabgabe. Natürlich kehrten auch wir nicht ohne ein Glas Marmelade in den Händen und eine Tafel „fairer Schokolade“ in der Tasche nach Hause zurück.
Diese Episode ist so erhellend, dass man es sich leicht machen und von hier unmittelbar zur Schlussfolgerung springen könnte. Die kleine Kirchengemeinde packt den abstrakten Staatsbürger bei Ausübung seiner Pflichten und zieht ihn in persönliche Netzwerke ebenso wie in moralisches Engagement hinein – alles beruhte ja auf ehrenamtlicher Tätigkeit, und die Kasse klingelte für einen guten Zweck. Die von Gemeindegliedern aus der Nachbarschaft des Kiezes selbst produzierte Marmelade steht als Symbol für lokale Netzwerke, die Schokolade als Symbol für globale Solidarität. Und der Kirchenraum selber fungierte als ein lebhafter Community Meeting Point, in dem es vermutlich lebhafter und weniger anonym zuging als im Wahlraum einer staatlichen Schule.
Aber hat, was wir hier beobachten, überhaupt seine Berechtigung, und auf welchen Voraussetzungen beruht es? Verfechter eines puristischen Laizismus, einer unmissverständlichen Separierung von Kirche und Staat mögen bereits argumentieren, dass die Verwendung von Gemeindehäusern als Wahllokale eine Grenze überschreite und prinzipiell unzulässig sei. Darf man Staatsbürgern zumuten, bei der Ausübung ihres Wahlrechts in einen religiös konnotierten Raum – den physischen ebenso wie den sozialen Raum – hineingezogen zu werden und, ich will es gar nicht verschweigen, am Ausgang auch noch freundlich ein Blatt mit den Terminen von Kinderchor und Bastelkreisen in die Hand gedrückt zu bekommen? Auf der anderen Seite können die staatlichen Behörden vielleicht von Glück sagen, dass diese Gemeinde noch nicht aus akuter Finanznot mit anderen zusammengelegt, das Gebäude möglicherweise aufgegeben werden musste. Dann hätte der Staat selber einen Raum zur Verfügung stellen, umräumen, vielleicht heizen, hinterher putzen müssen, und Marmeladengespräche hätte es trotzdem nicht gegeben. Vielleicht hätte sogar der Wahlakt selber eine andere, reduziertere Bedeutung erhalten, denn der gerade skizzierte Kontext scheint mir nicht bloß einen religiös-moralischen Hobbyraum gebaut zu haben, sondern auch in den Kern des staatsbürgerlichen Aktes ausgestrahlt zu haben: In dieser Situation erfuhr man unmittelbar und auf sehr konkrete Weise, warum man in einer Demokratie seine Stimme abgibt.
Hinter diesen konkreten Überlegungen verbergen sich diffizile Probleme, denen im folgenden nachgegangen werden soll. Zunächst frage ich, auf welche Weise und warum wir seit einigen Jahren jene Rückkehr von Religion auch in den öffentlichen und politischen Raum erleben. War Religion nicht im Zuge von Modernisierung und Säkularisierung zum Aussterben im Namen des Fortschritts verurteilt? Und haben wir es mit einer Renaissance zu tun oder doch mit einem neuen Phänomen, auf den etwa der Begriff der „postsäkularen Gesellschaft“ verweist? Danach diskutiere ich Grundlagen und Grundprobleme von Religion in einer solchen postsäkularen Gesellschaft. Warum kann Religion überhaupt beanspruchen, die säkulare Öffentlichkeit zu beeinflussen, erst recht in einer Umwelt, in der religiös geprägte Bürgerinnen und Bürger eine Minderheit bilden, die möglicherweise auch in Zukunft weiter schrumpft? Wie kann Religion politische Geltungsansprüche erheben, ohne den säkularen Staat und ohne sich selbst als Religion zu gefährden? Damit soll die Voraussetzung geschaffen werden für weitere Überlegungen, zur Bedeutung von Religion als Faktor der Bürgergesellschaft. Insofern der Staat, das Gemeinwesen in Zukunft nicht weniger, sondern mehr auf diese Bürgergesellschaft angewiesen ist, muss er sich als ein religionsbewusster, ja als ein religionsfreundlicher Staat verhalten. Wie man diese These ausbuchstabieren kann, wird wiederum an ganz praktischen Beispielen ausgeführt.

Die Rückkehr der Religion

In den letzten Jahren konnte man viele Indizien sammeln, die sich unter die gemeinsame Überschrift einer – für viele überraschenden – Rückkehr der Religion stellen lassen. Die eher anekdotische Evidenz des „Wir sind Papst!“ muss man dabei nicht aussparen; das Interesse an Joseph Ratzinger reicht ganz offensichtlich über einen kurzlebigen Wahl – Hype weit hinaus, wie die Auflage seiner Bücher oder die Debatte um die von ihm verfasste Enzyklika Deus est caritas beweisen. Schon länger haben die Grenzverschiebungen des naturwissenschaftlichen Fortschritts ethische Fragen aufgeworfen, die auffällig häufig im Rückgriff auf religiöse und theologische Argumente zu beantworten versucht wurden; in Deutschland wahrscheinlich mehr als anderswo. In den Debatten über Gentechnologie und menschliches Klonen, über die biomedizinische Herstellbarkeit des Lebens ebenso wie über die medizinische und persönliche Verfügbarkeit des Lebensendes haben sich Bürgerinnen und Bürger sowie Politiker aller Parteien immer wieder auf religiöse Überzeugungen gestützt, nicht nur im privaten Gespräch, sondern auch in öffentlichen Diskursen bis hin zur Begründung politischer Entscheidungen (vgl. Geyer 2001). Sogar Theologen, sonst eher eine rare Spezies in der von Philosophen, Soziologen oder Historikern dominierten Intellektuellenfamilie, sind auf diese Weise an entscheidender Stelle in ihrer besonderen Kompetenz für die gesellschaftspolitische Debatte begehrt. Dadurch ist auch die säkulare Öffentlichkeit in eine Auseinandersetzung mit religiösen Begründungszusammenhängen „gezwungen“ worden, nicht zuletzt deshalb, weil das Reservoir alternativer Reflexionspotentiale offensichtlich sehr begrenzt ist.
Mit noch größerer Wucht haben wir im globalen Maßstab die Vitalität, die politische Kraft, teils auch die Radikalität und Zerstörungskraft von Religion erlebt. Der 11. September 2001 ist dafür das endgültige Fanal in der westlichen Diskussion geworden, doch die neuen politischen Ansprüche des Islam, und zumal seiner fundamentalistischen Radikalisierung, lassen sich mindestens bis zur Iranischen Revolution des Jahres 1979 zurückverfolgen. Immer klarer ist uns Europäern, und zumal uns Deutschen, dabei geworden, dass die Symbiose von Religion und Moderne keine bizarre Ausnahme, keinen Anachronismus darstellt, der sich am Ende doch von selbst erledigt. Vielmehr ist inzwischen der Eindruck überwiegend, dass es sich eher bei der vermeintlichen Religionslosigkeit der europäischen Moderne entweder um einen Sonderweg handelt oder um eine veritable Fehldiagnose. Die religiöse Revitalisierung der USA seit den 1970er Jahren ist jedenfalls ein eindrucksvoller Beleg, dass nicht einfach rückständige muslimische Gesellschaften unser religiöses Mittelalter nachholen, um am Ende ganz wie wir bei der Säkularisierung anzukommen. [1] In jedem Fall hat die Herausforderung des Islam als Glaubensbewegung, als kulturelle und als politische Kraft wie ein Weckruf gewirkt, wieder die Frage nach der eigenen Religion und nach der identitätsprägenden Kraft des Christentums zu stellen. Der Streit um den Gottesbezug in der europäischen Verfassung ist ein Indikator dafür.
Genauer besehen, hat sich die Renaissance der Religion und ihre Rückkehr als politische Gestaltungsmacht schon länger auch vor unserer eigenen Haustür vollzogen. Ohne virulente religiöse Energien wie im polnischen Katholizismus ist die Zerstörung der kommunistischen Diktaturen in Mittel- und Osteuropa kaum vorstellbar. Ebenso wie im Falle der evangelischen Kirche in der DDR hat Religion dabei nicht nur eine subversive Kraft gebildet, einen innerlichen und außerweltlichen Gegenentwurf zur weltlichen Herrschaft, sondern einen konstruktiven Beitrag zu dem höchst politischen Modell einer demokratischen Zivilgesellschaft geleistet. [2] Unter ganz anderen äußeren Bedingungen war das in den sozialen Bewegungen der alten Bundesrepublik seit den späten 1970er Jahren nicht einmal unähnlich; was wären die Grünen ohne Protestantismus? Und auch die deutschen Intellektuellen, denen Religion lange Zeit peinlich oder jedenfalls nicht diskussionswürdig war, haben das Thema mit Vehemenz entdeckt.
Diese Phänomenologie einer religiösen Renaissance könnte man noch lange fortsetzen. Wichtig ist der Hinweis, dass diese Bewegung mehr ist als eine Anhäufung von Zufällen; dass sie im Grunde seit mehr zweieinhalb Jahrzehnten im Gange ist; dass es sich einerseits um ein weltweites und auch im neuen Sinne des Wortes „globales“ Phänomen handelt; um ein Phänomen schließlich, das wir auch in unserem eigenen gesellschaftlichen und kulturellen Binnenraum immer wieder ganz konkret zu spüren bekommen. Man könnte fast sagen: Die größte Brisanz entfaltet Religion gerade in den Überlappungszonen von Globalität und Lokalität, von Interkulturalität und kultureller Identität. Dann diskutieren wir über muslimischen und christlichen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, über eigene und andere religiöse Symbole in der Öffentlichkeit bzw. in staatlichen Institutionen, über den Bau von Moscheen und die Schließung christlicher Kirchen. Diese Konflikte sind alles andere als abstrakt, vielmehr in einer Großstadt wie Berlin tagtäglich erfahrbar und umstritten.

Religion als Störfall

Was hat all das nun zu bedeuten? Werden Menschen, werden ganze Gesellschaften religiöser, kehrt sich etwa der lange Trend zur Säkularisierung und Entkirchlichung um? Dafür gibt es in der Tat manche Anzeichen. Jedenfalls für Teile der amerikanischen Gesellschaft trifft das zu, auch offensichtlich für den Islam, in den überwiegend muslimischen Ländern ebenso wie in seiner europäischen Diaspora in Frankreich oder Deutschland. Man müsste also eine sehr sorgfältige, differenzierte Bestandsaufnahme betreiben, für die mir Zeit und Kompetenz fehlen. Das hiesige Christentum muss sich damit begnügen, dass der weihnachtliche Kirchenbesuch wieder zunimmt. In unserer Gesellschaft kann von einer massenhaften religiösen Revitalisierung keine Rede sein – ein katholischer Weltjugendtag und ein paar zehntausend euphorische Papstpilger sind da noch kein Gegenbeweis. Was sich in Deutschland aber beobachten lässt, ist eine massive Rückkehr von Religion in den öffentlichen Raum, ist die Entstehung eines neuen Religionsbewusstseins und die Reflexion eines möglichen Religionsbedarfs nicht nur im Hinblick auf die eigene, private Lebensführung, sondern auch im Hinblick auf Grundfragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der kulturellen Identität.
An dieser Stelle würden manche Säkularisten wohl einhaken und sagen: „Da haben wir den Schlamassel.“ Je mehr wir in der Öffentlichkeit mit Religion zu tun haben, je öfter sich Menschen öffentlich auf ihre Glaubensüberzeugungen berufen und sie im Hinblick auf gesellschaftliche Ziele – im weitesten Sinne verstanden – geltend machen, desto mehr Konflikte entstehen, bis hin zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Verursacht nicht erst die kulturelle Gegenwart von Religion und ihre öffentliche Präsenz Konflikte wie den „Kopftuchstreit“, wie die Debatte über den Gottesbezug in der Europäischen Verfassung, über den Berliner Religionsunterricht? Gäbe es diese Fanatiker gleich welcher Provenienz nicht, oder behielten sie ihre Religion wenigstens im stillen Kämmerlein – so könnten Säkularisten argumentieren –, dann entstünden diese Konflikte erst gar nicht, und ihre zentrifugale Wirkung müsste nicht mühsam wieder eingefangen werden. Nun lässt sich in der Tat gar nicht leugnen, dass Religion Konflikte produziert und das neuerdings wieder in größerem Maße tut, so wie das in der Geschichte immer wieder der Fall gewesen ist: bis hin zu Religionskriegen und der religiösen Rechtfertigung von Gewalt. Doch diese Antwort führt nicht weit genug, denn Religion lässt sich nicht verdrängen oder verbieten, sie entspricht einem menschlichen Grundbedürfnis und ist überdies in liberalen Gesellschaften durch den Grundsatz der Religionsfreiheit geschützt. Man kann aber auch noch einen Schritt weiter gehen: Religion wird auch und vielleicht gerade in der modernen Gesellschaft der Gegenwart zu einem Medium, um kulturelle Konflikte, die sie selber gar nicht erzeugt hat, thematisieren und diskursiv, öffentlich, gegebenenfalls auch politisch bearbeiten zu können. Religion ist nicht die Ursache für die Verstörung, die wir angesichts des Fortschritts von Wissenschaften häufig verspüren. Aber sie kann mit dieser Vorstörung umgehen, sie reflektieren und zu Antworten beitragen. Religion ist nicht die Ursache des Aufeinandertreffens von Kulturen in einer Welt der Migration und der daraus resultierenden Kollision von Identitäten. Aber sie kann kulturelle Identität festigen und Sprachfähigkeit zwischen den Kulturen herstellen, wo sonst Sprachlosigkeit wäre. Ist Religion also ein Störfall der Moderne – oder eine ihrer wichtigsten Ressourcen?

Im Gefolge der Säkula­ri­sie­rung: Formen von Ersatz­re­li­gi­onen

Die These vom „Störfall Religion“ hat in unterschiedlichen Varianten die großen Erzählungen des westlichen Modernisierungsprozesses geprägt. Die Säkularisierung erschien in diesem Bild als ein notwendiges Korrelat der Modernisierung, ganz so wie der Weg von der Agrar- in die Industriegesellschaft, oder von der Massenarmut zum Massenwohlstand in den letzten zweihundert Jahren. Religion war ein Traditionsbestand, ein Überhang der alten Welt, der zwar noch von Generation zu Generation weitergegeben wurde, aber dabei doch immer mehr von seiner Kraft einbüßte. Im Prozess der Aufklärung ersetzte Vernunft den Glauben, und die Wissenschaft schien dem Fundament der Religion endgültig den Garaus zu machen, von Galilei bis Darwin und darüber hinaus. Wenn Religion noch weiter existieren konnte, dann allenfalls im privaten Raum. So definierte der Soziologe Niklas Luhmann Säkularisierung als die „gesellschaftsstrukturelle Relevanz der Privatisierung religiösen Entscheidens“ (Luhmann 1977: 232). Religion muss nicht „absterben“; es reicht, wenn sie zur vollkommenen Privatsache wird, damit sie ihre gesellschaftsprägende Kraft verliert. Dieser Verlust konnte dann als ein Fortschritt verbucht werden. In einem noch grundlegenderen Sinne ermöglichte der Rückzug von Religion, oder genauer: ihre Einkapselung in spezifisch religiöse Reservate, sogar erst die Herausbildung institutioneller Ordnungen der Moderne. Angefangen vom Investiturstreit des 11. Jahrhunderts zieht sich eine lange Linie der Trennung von weltlicher und geistlicher Macht durch die europäische Geschichte, an deren Ende die Ausdifferenzierung des modernen Staates als Sieger im konfessionellen Bürgerkrieg, der Laizismus der Amerikanischen und Französischen Revolution, ja die Freiheitsgarantien des Staates stehen, die im Verlaufe des 19. und 20. Jahrhunderts, à la longue gesehen, weiter ausgebaut worden sind. Genau das ist der historische und systematische Ort des oft zitierten Diktums von Ernst-Wolfgang Böckenförde, wonach der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne (Böckenförde 1976: 112; vgl. auch Lübbe 1965). Darin liegt ebenso sehr das „Wagnis“ der Freiheit wie es eine Leerstelle bezeichnet, die die Säkularisierung im öffentlichen und politischen Raum gelassen hat.
Es ist diese Leerstelle, in die eine zeitlang säkulare Ersatzreligionen eingetreten sind. Diese Ersatzangebote schienen geradezu prädestiniert, jenseits der im engeren Sinne religiösen Privatsphäre gemeinschaftlichen Religions- und Spiritualitätsbedarf zu übernehmen und den rationalen Staat damit emotional aufzubessern. An erster Stelle ist dabei an das Konzept der „Zivilreligion“ zu denken, das sich im Gefolge republikanischer Revolutionen, vor allem in den Vereinigten Staaten und in Frankreich, etabliert hat (vgl. klassisch Bellah 1970; für Deutschland Schieder 2001). Während die jakobinische Ersatzreligion schnell in eine Sackgasse führte, hatte die amerikanische civil religion einen durchschlagenden Erfolg, und zumal nach dem Zweiten Weltkrieg schien sie zum Modell einer gesellschaftlich tief verwurzelten Demokratie dazuzugehören. Die Zivilreligion stiftete jenseits der privatisierten religiösen Pluralität einen verbindlichen, integrativen Wertebezug einer Nation und ihrer demokratischen Kultur; zugleich schien sie das Angebot einer „vernünftigen“, aufgeklärten Religion des Bürgers und der bürgerlichen Gesellschaft zu sein.
Inzwischen ist aus mehreren Gründen fraglich geworden, ob das Verhältnis von Religion, Staat und Gesellschaft noch der zivilreligiösen Entwicklungsrichtung entspricht. Die empirische Bestandsaufnahme spricht dagegen: In den USA hat die Zivilreligion die „eigentliche“ Religion nicht abgelöst, sondern bleibt von dieser abhängig. In Deutschland hat sich eine Zivilreligion im amerikanischen Sinne nie ausgebildet. Aber auch grundsätzliche Überlegungen stimmen eher skeptisch: Gegen das zivilreligiöse Versöhnungs- und Integrationsdenken steht die prinzipielle Differenz von religiöser und weltlicher Sphäre, eine Differenz, die nicht so schnell eingeebnet werden sollte. Dies auch deshalb, weil die Homogenität von Wertüberzeugungen, die sich mit dem Konzept der Zivilreligion verbindet, für eine offene Gesellschaft weder erreichbar noch überhaupt wünschenswert ist. Sie birgt die Gefahren eines kulturellen Konformismus ebenso wie der politischen Instrumentalisierung religiöser Bedürfnisse. Ob die Zivilreligion in einem neuen Gewande der „Leitkultur“ zurückkehrt, mag man deshalb bezweifeln, auch wenn man die Notwendigkeit republikanischer Grundüberzeugungen anerkennt.
Neben der Zivilreligion stand ein zweites ersatzreligiöses Konzept, das die moderne Gesellschaft als solche zu charakterisieren schien, nicht zuletzt in Deutschland: Die Rede ist von der religiösen Qualität politischer Ideologien mit ihrer Verknüpfung von „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“ (Löwith 1953). Viel ist von Nationalismus und Sozialismus als „politischen Religionen“ die Rede gewesen; oder von der „Bildungsreligion“, die im 19. Jahrhundert vor allem das protestantische Bildungsbürgertum in Deutschland nachhaltig geprägt hat. Die religiöse Dimension des Marxismus, aber auch des Nationalsozialismus, von der Heilslehre bis zu „Gemeindebildung“ und kultischen Praktiken, ist zu offensichtlich, um längerer Erläuterung zu bedürfen. Es ist aber genauso offensichtlich, dass diese Formen der säkularen Ersatz- oder Pseudoreligion im 20. Jahrhundert ausnahmslos gescheitert sind, und zwar auf eine radikale Weise. Die politischen Ersatzreligionen der Moderne haben sich als nicht definitiv nicht zivilisierungsfähig erwiesen.
Man könnte diese Bilanz um einen dritten Aspekt erweitern. Neben die gemeinschaftsbezogene, ja staatsorientierte Ausrichtung der Zivilreligion wie der politischen Ersatzreligion sind im letzten Jahrhundert immer wieder Formen des radikal privatisierten Religionsersatzes getreten. In dem Bedürfnis nach Esoterik, in den westlichen Anleihen bei asiatischen Religionen oder Meditationspraktiken lassen sich Ausdrucksformen jener „vagierenden Religiosität“ erkennen, wie der Historiker Thomas Nipperdey das vielfach heimatlos gewordene Transzendenz- und Sinnbedürfnis in der Moderne so schön genannt hat (Nipperdey 1988: 143ff.). Doch ist diese Form der scheinbar modernisierten Religiosität weithin im Raum der individuellen Lebensführungskonzepte verblieben und konnte kaum gesellschaftliche Durchschlagskraft entwickeln. Denn im Gegensatz zur „klassischen“ Religiosität sei sie christlicher, jüdischer oder muslimischer Provenienz fehlt ihr die Gemeinschaftsfähigkeit ebenso wie die Sprachfähigkeit, zumal die Fähigkeit zur Reflexion komplexer Probleme. Diese Einsicht verweist bereits grundsätzlich auf eine Leistung von Religion in modernen Gesellschaften, die sich weder aufgelöst hat noch leicht ersetzbar ist: ihre Fähigkeit, intersubjektive Verständigung über Grundfragen der Moral und des menschlichen Zusammenlebens zu betreiben.
Worauf läuft die Zwischenbilanz damit hinaus? Wir hatten von der Rückkehr der Religion gesprochen oder von ihrer Renaissance und gezeigt, dass Religion sich nicht länger als „Störfall“ der Moderne, als bloß noch abzuwickelnder Traditionsbestand, erklären lässt, weder historisch noch systematisch. Doch was heißt das genau? In einem ersten Modell hätte Säkularisierung, vereinfacht gesagt, nie stattgefunden; wir sind einer historischen Fehlinterpretation aufgesessen. In einem zweiten Modell wird diese Entwicklung prinzipiell nicht geleugnet, sondern die Geschichte macht, wiederum ganz zugespitzt, eine Kehrtwende, die eine Zeit der „Desäkularisierung“ einläutet (vgl. Berger 1999). Damit können dann immer noch sehr unterschiedliche Phänomene beschrieben sein, von einer Zunahme der Frömmigkeit oder der Kirchlichkeit bis hin zu einer religiös sensibleren Öffentlichkeit oder einem „religionsbewussten“, statt die eventuelle Religion seiner Bürger ausklammernden, Staat. Für beide Modelle gibt es Argumente und Indizien, ebenso wie Streiter in der gegenwärtigen Debatte. Das erste Modell, also das Kontinuitätsargument, erhält Nahrung zum Beispiel durch die Entdeckung, dass das 19. Jahrhundert als Durchbruchzeit der Moderne und vermeintliche Schubphase der westlichen Säkularisierung eher eine besonders religiös geprägte Epoche, geradezu ein „zweites konfessionelles Zeitalter“ gewesen sei (Blaschke 2000).
Dennoch scheint es mir plausibler, dem anderen Modell den Vorzug zu geben: einerseits wiederum aus historischen Gründen, weil man die realen Prozesse der Entkirchlichung, des Glaubensverlustes, des Rückzugs von Religion aus dem öffentlichen Raum in einer langen Phase der Moderne nicht unterschätzen sollte. Andererseits aber auch aus sehr grundsätzlichen Erwägungen. Denn die Vorstellung einer Kontinuität, in der alte Religionspotentiale nur wiederbelebt werden müssten, ignoriert möglicherweise die tiefgreifenden Veränderungen in Religion und Gesellschaft sowie in beider Wechselverhältnis während der letzten zweihundert Jahre. Mit anderen Worten: Es gibt kein Zurück in eine vermeintlich heile Welt der unhinterfragten Religionsmächtigkeit, keinen Weg zurück hinter Aufklärung und Säkularisierung: schon deshalb, weil diese Prozesse auch die Religion einem durchaus heilsamen Veränderungsdruck unterworfen haben. Deshalb halte ich den Begriff der „postsäkularen Gesellschaft“, den Jürgen Habermas vor einigen Jahren so einflussreich geprägt hat, für prinzipiell treffend und weiterführend. Wenn wir nicht in eine neue Konstellation von Religion und Öffentlichkeit eingetreten wären, sondern nur eine alte reanimiert hätten, würden wir schnell auf Reflexionspotentiale verzichten und die Grundlagen einer freiheitlichen Gesellschaft gefährden. Sehen wir uns deshalb diese postsäkulare Konstellation etwas näher an.

Die Grundlagen der postsä­ku­laren Gesell­schaft

Religion verschwindet nicht, religiöse Gemeinschaften lösen sich nicht auf, obwohl weite Teile der Gesellschaft auch weiterhin religionsfern bleiben, ja der Säkularisierungsprozess in vielerlei Hinsicht offenbar weiterläuft: Das war eine Ausgangsbeobachtung in Jürgen Habermas’ viel beachteter Rede bei der Entgegennahme des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im Oktober 2001, nur wenige Wochen nach dem „11. September“. Doch lief diese Beobachtung nicht darauf hinaus, der Religion einen Schutzraum zuzuweisen, eine Art Nationalpark oder Reservat, in dem sie auch weiterhin, aber hinter gut gesicherten Zäunen, überleben könne. Vielmehr richtete sich Habermas’ Interesse auf den Grenzraum zwischen religiöser und weltlicher, zwischen religiöser und bürgergesellschaftlicher Sphäre, weil ihm unverkennbar schien, dass religiöse Begründungen in öffentlichen und politischen Kontexten nicht nur empirisch gesehen ein größeres Gewicht erhielten, sondern auch normativ einiges in die Waagschale zu werfen hatten: Argumente und Reflexionspotentiale, auf die „Risikogesellschaften“ des 21. Jahrhunderts in ihren typischen kulturellen und sozialen Konflikten nicht weniger, sondern mehr als früher zurückgreifen müssen.
Die postsäkulare Gesellschaft bedeutet, folgt man Habermas, eine Zumutung nicht nur für die religiösen Bürger, die ihren Glauben und daraus resultierende Werte mit den Werten der demokratischen Gesellschaft und des Verfassungsstaats in Übereinstimmung bringen müssen. Vielmehr mutet sie auch ihren nicht-gläubigen Bürgern etwas zu. Religion lässt sich in der postsäkularen Konstellation nicht mehr aus der Öffentlichkeit ausschließen, und beide Seiten sind aufgefordert, die Grenze zwischen Religion und säkularer Gesellschaft zu beachten und kontinuierlich zu bearbeiten. „Die Grenze zwischen säkularen und religiösen Gründen ist ohnehin fließend“, so schreibt Habermas. „Deshalb sollte die Festlegung der umstrittenen Grenze als eine kooperative Aufgabe verstanden werden, die von beiden Seiten fordert, auch die Perspektive der jeweils anderen einzunehmen.“ (Habermas 2001: 22) Es geht dabei jedoch nicht darum, die Trennung zwischen religiöser und weltlicher Sphäre, zwischen privatem Glauben und öffentlichem Handeln, einzuebnen oder historisch rückgängig zu machen – in dieses Grundproblem des Islams ebenso wie seiner eigenen Geschichte vor Investiturstreit, Reformation und Aufklärung wird sich der postsäkulare Westen nicht freiwillig zurückbegeben wollen. Es geht vielmehr darum, die Bearbeitung dieses Grenzraums nicht nur der religiösen Privatheit oder kirchlichen Sonderkulturen zu überlassen, sondern in der Mitte des Gemeinwesens zu verankern.
Damit werden nicht nur die „religiös Unmusikalischen“, zu denen Habermas sich selber zählt, aufgefordert, religiöse Argumente auch in zivilgesellschaftlichen Debatten und staatlichen Entscheidungsprozessen – denken wir etwa an das Beispiel der Reproduktionsmedizin – ernst zu nehmen, anstatt von den religiösen Bürgern zu verlangen, ihre Überzeugungen an der Eingangspforte öffentlicher Diskurse abzugeben. Habermas geht noch einen Schritt weiter und deutet an, dass die religiösen Bürger sogar einen intellektuellen und ethischen Vorsprung vor ihren nichtreligiösen Mitbürgern besitzen können. Denn sie sind permanent dazu gezwungen, das Spannungsverhältnis zwischen Glauben und Wissen, zwischen religiöser Absolutheit und dem Konsens der demokratischen Gemeinschaft, auszuhalten und kompatibel zu machen. Das religiöse Bewusstsein ist damit kein Ausdruck minderer Intellektualität oder Aufgeklärtheit, sondern ist, jedenfalls in der westlichen Moderne seit der Aufklärung, einem massiven „Reflexionsschub“ unterworfen worden (ebd.: 14). Dieser Reflexionsschub resultiert aus der kognitiven Bearbeitung der Grenze zwischen Eigenem und Anderem, zwischen Kirche und Staat, zwischen Glauben und Wissen, auch: zwischen transzendentalem Wertebezug und demokratischem Wertekonsens. Religiöse Bürger sind nicht nur verpflichtet, wollen sie keine Fundamentalisten sein, sich den Prinzipien der säkularen Wissensgesellschaft, oder der säkularen politischen Ordnung, zu öffnen und diese mit der Gesamtheit aller Bürger zu teilen. Sie leisten darüber hinaus einen Beitrag zu einer Art kognitiver und ethischer Meta-Reflexion, die der anderen Seite nicht abverlangt wird. In diesem Reflexionsraum, der sich gerade aus der Spannung, aus der Heteronomie von Religion und Bürgergesellschaft, von Glauben und Wissen ergibt – nicht aus ihrer voraufklärerischen Einebnung! –, können komplexe Erkenntnis- und Handlungshorizonte entstehen, auf die moderne Gesellschaften insgesamt schlecht verzichten können.
Mit anderen Worten: Religion kann zu einem wichtigen Potential, zu einer wichtigen Ressource für die Bürgergesellschaft werden – aber nur dann, wenn sie eine Stufe der kritischen Selbstreflexion erreicht, die der Säkularisierung nicht ausweicht, sondern sie vielmehr voraussetzt. Deshalb scheint mir auch die Gegenüberstellung von „religiösen Bürgern“ einerseits, „säkularen Bürgern“ andererseits, wie Habermas sie in seinen neueren Überlegungen zur Religion vornimmt, irreführend zu sein (Habermas 2005). Man muss doch davon ausgehen, dass der Begriff des „Bürgers“ in einer demokratischen und zivilen Gesellschaft in sich schon die Idee des säkularen – was ja nicht heißen muss: ungläubigen oder areligiösen – Mitglieds eines säkularen Unternehmens, nämlich des demokratischen Staates in sich trägt; insofern ist der „säkulare Bürger“ eine unnütze Tautologie. Andernfalls wäre die Vorstellung eines „religiösen Bürgers“ eine Unmöglichkeit, denn es kann keine Bürger geben, die ihr Bürger-Sein von ihrer Religion oder ihrem Glauben ableiten oder dadurch in erster Linie definiert sehen. In einer postsäkularen Gesellschaft müssen auch „religiöse“ Bürger als Christen, Juden oder Muslime immer zugleich und zuerst säkulare Bürger sein. Vielleicht hilft diese Klarstellung auch in dem aktuellen Konflikt über die Karikaturfähigkeit Gottes weiter. Man kann sehr wohl ein Spannungsverhältnis zwischen Meinungsfreiheit und Religionsschutz anerkennen, aber nicht die Meinungsfreiheit vom Plateau eines „religiösen Bürgerstatus“ leugnen; das ist bloß Fundamentalismus. [3]

Zwischen Selbst­li­mi­tie­rung und Trans­gres­sion: Religion in der        Gegenwart

Spätestens an dieser Stelle dürfte deutlich sein, worauf mein Argument hinausläuft: Ich plädiere für die Möglichkeit einer öffentlichen Rolle von Religion und am Ende sogar für den „religionsfreundlichen Staat“. Doch bevor ich das am Ende meiner Überlegungen tue, errichte ich gewissermaßen Hürden, über die eine solchermaßen öffentlichkeitsfähige Religion erst springen muss. Ich formuliere Voraussetzungen für das Selbstverständnis und die innere Verfasstheit religiösen Denkens und religiöser Institutionen, die Religion in einer postsäkularen Gesellschaft erfüllen muss. Dabei bin ich zuversichtlich, dass diese Hürden von großen Religionsgemeinschaften wie den christlichen Kirchen und dem Judentum im Prinzip längst genommen sind und auch für den Islam kein unüberwindbares Hindernis darstellen.
Moderne Religion in der säkularen und aufgeklärten Bürgergesellschaft existiert in einem Spannungsfeld, in einer Dialektik von Selbstlimitierung und Transgression. Was ist damit gemeint? Selbstlimitierung: Religiöse Gemeinschaften wissen ebenso wie einzelne Gläubige um die Grenzen, die dem Geltungsbereich – man könnte auch sagen: dem Funktionssystem – der Religion gezogen sind. Das gilt etwa für die ethischen Gebote der Religion. Man kann sich individuell entscheiden, so radikal wie möglich den Geboten der Nächsten und Feindesliebe nachleben zu wollen. Doch wird man nicht erwarten können, dies zu einem allgemeinen Gesetz zu machen, wenn nicht die Mehrheit der Bürger überzeugt ist, dass dies so sein sollte – aber dann wäre es wieder ein staatliches, ein säkulares, und kein religiöses Gesetz. Mit dieser Last der Selbstlimitierung haben religiöse Bürger in westlichen Gesellschaften umzugehen gelernt. Sie steht in einem unauslöslichen Spannungsverhältnis zu dem, was ich hier Transgression nennen möchte: den unverzichtbaren Anspruch von Religion, Grenzen zu überschreiten; auf fundamentale und radikale Weise in das Leben von Menschen einzugreifen; damit auch unmittelbar und „in der Welt“ praktisch handlungsleitend zu wirken, ja die Welt – und nicht nur den einzelnen Menschen, den einzelnen Gläubigen – zu verändern.
Religion wäre nicht Religion, sondern bloß privatistischer Erlösungs – oder Befriedungsglaube, wenn sie diesen Anspruch auf Grenzüberschreitung, auf Intervention in die private und bürgerliche Lebenssphäre aufgäbe – auch in der modernen Gesellschaft. Aber beides, Selbstbegrenzung und Grenzüberschreitung, gehört unauflöslich zusammen, jede Seite verweist permanent auf die andere zurück. Im Blick auf die beiden großen christlichen Konfessionen könnte man zugespitzt vielleicht sagen: Während der Protestantismus mit seinem Akzent auf die „innere“ und individuelle Religion eher die Grenze zwischen religiösen Geboten und ihrer öffentlichen und „zivilen“ Wirksamkeit betont, geht vom Katholizismus gegenwärtig ein stärkerer Anspruch auf Grenzüberschreitung aus. Die Entwicklung in den letzten Monaten, von der Wahl des neuen Papstes bis zur jüngsten Enzyklika Deus caritas est, scheint das zu bestätigen. Aber auch der Protestantismus hat in der allerjüngsten Geschichte, gerade auch in Deutschland, seinen Anspruch auf weltliche Generalisierung religiöser Normen geltend gemacht, wenn man etwa an die Friedens- und Umweltbewegung der 1980er Jahre, gleichermaßen in Ost und West, denkt.
In diesem Sinne produziert Religion in der modernen Gesellschaft eine grundlegende „Sinndifferenz“ zur säkular-bürgerlichen Sphäre, die überbrückt werden muss, ohne je ganz überbrückt werden zu können. Noch einmal: Sie muss überbrückt werden, weil sonst die Spaltung in säkulare Bürger und religiöse Anti-Bürger droht; die Falle von Fundamentalismus und radikalem Laizismus. Aber sie kann und darf nicht überbrückt werden, weil sich Religion sonst entweder in rein privatistische Bedeutungslosigkeit auflöst oder – zweifellos die bedenklichere, die gefährlichere Alternative – die säkulare Sphäre, die Freiheitsrechte, das demokratische Mehrheitsprinzip usurpiert. Um diese Spannung auffangen zu können, hat Religion in der europäischen Geschichte der vergangenen Jahrhunderte auf mühsame Weise, und in schmerzhaften, keineswegs immer freiwillig vollzogenen Lernprozessen verschiedene Mechanismen, gleichsam Sicherungsprinzipien ausgebildet.

Die Erfolgs­re­zepte postsä­ku­larer Religion und ihre proble­ma­ti­schen Grenzen

Drei solcher Prinzipien scheinen mir besonders wichtig zu sein. Erstens, so paradox es auf den ersten Blick klingen mag: die Vernunft. Religion hat sich rationalisiert und auf die aufklärerische Vernunft eingelassen. Sie hat die Spannung zwischen „Glauben und Wissen“ nicht als eine Außengrenze bestehen lassen, sondern als eine poröse, flexible Binnengrenze sich selber implantiert. Deshalb, um nur ein Beispiel zu nennen, können Christen längst nur noch mit der Achsel zucken, wenn sie auf vermeintliche Widersprüche von Schöpfungsbericht und Evolutionslehre angesprochen werden. Das zweite Prinzip ist die institutionelle Ausdifferenzierung, konkret gesprochen: die Kirchenbildung. Das dritte ist die innerreligiöse Reflexion, die wir in ihrer verwissenschaftlichten, wiederum auch institutionell verfestigten Form gemeinhin als Theologie bezeichnen. In der jüdisch-christlichen Tradition haben Kirche und Theologie für die Einbettung der Religion in die allgemeine Kultur eine besonders wichtige Funktion gehabt, und diese Funktion hat sich auch heute noch nicht überlebt. Kirche und Theologie haben Religion zugespitzt und sichtbar gemacht, sie sind mächtige Agenten einer religiösen Durchdringung der Gesellschaft gewesen. Aber sie haben zugleich die Religion gebändigt und gegenüber der zivilen Sphäre eingehegt: die Theologie durch intellektuelle Rationalisierung, die Kirche durch institutionelle Grenzziehung.
Man könnte auch sagen: Moderne Religion lässt sich in Kirche und Theologie, trotz ihrer prinzipiellen Heteronomie, auf die Organisationsformen der bürgerlichen Gesellschaft – die Kirche als Interessenverband des Pluralismus neben Gewerkschaften, ADAC und Unternehmerverbänden – ein, und auf die Reflexionsbedingungen der modernen, säkularisierten Wissenschaft – und doch geht sie darin nie ganz auf, sondern überschreitet beides immer wieder (zur Funktion der Theologie vgl. Graf 2004). In mancher Hinsicht ist dafür übrigens die besondere Staatsnähe der christlichen Kirchen in Deutschland, so verhängnisvoll sie in vielen Aspekten war, auch ein Vorteil gegenüber einer reinen Laizität des Staates gewesen. Denn sie hat die Religion einem enormen Rationalisierungs- und Säkularisierungsdruck ausgesetzt. Die Tatsache, dass Theologie von Staatsbeamten an staatlichen Universitäten betrieben wird, die sich gegenüber den Vertretern säkularer Fächer auf intellektueller Augenhöhe bewegen müssen, ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür. Vor allem aber sind Theologie und Kirche für die Sicherungsfunktion, von der ich gesprochen habe, und die ja nicht zuletzt einen Schutz der Gesellschaft vor der unkontrollierten Wucherung von Religion bildet, weiterhin unverzichtbar. Diese Eigenschaften sind zugleich Pfunde, mit denen das Christentum gegenüber anderen Religionen wuchern kann, die über solche eingebauten (das heißt natürlich: historisch erst erworbenen) Grenzziehungen nicht verfügen, wie es beim heutigen Islam, vielleicht sogar in zunehmenden Maße, der Fall zu sein scheint.
Zwei andere Fragen der „Grenzziehung“ tauchen an dieser Stelle auf. Sie können hier nicht schlüssig beantwortet werden, sollen aber wenigstens skizziert werden, weil sie beide auf ebenso fundamentale wie konkrete Probleme der öffentlichen Geltung von Religion in postsäkularen Gesellschaften verweisen. Die erste Frage klang gerade schon an: Wie konstituiert sich religiöser Pluralismus – nicht als Bekenntnisfreiheit, sondern als Vielheit der „Grenzüberschreitungen“ im eben diskutierten Sinne – angesichts der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, also angesichts ganz unterschiedlicher Entwicklungsstufen und Reflexionspotentiale von Religionen in einem konkreten Gemeinwesen? Darf man den christlichen Gott karikieren und verspotten, den muslimischen aber nicht? Wird staatlicher Religionsunterricht manchen Konfessionen zugebilligt, anderen aber nicht? Wenn eine Renaissance der öffentlichen Bedeutung von Religion auf so komplexen Voraussetzungen der binnenreligiösen Rationalisierung beruht, wie sie vorhin skizziert worden sind, wie verhält sich dazu dann der Geltungsanspruch einer Religion, die diesen Kriterien der postsäkular modernisierten Religion nicht entspricht, auch gar nicht entsprechen will; und wer entscheidet über diese Kriterien? Die Antwort auf die letzte Frage dürfte noch am leichtesten fallen: Die Definitionsmacht liegt gewiss nicht auf der Seite der Religion, geschweige denn der einzelnen Gläubigen, sondern bleibt dem zivilen Gemeinwesen, seinen demokratischen Regeln und seinen Grundwerten vorbehalten.
Die zweite Frage ist ganz anders gelagert, bezieht sich aber ebenso auf die öffentliche Geltung von Religion in einer pluralen Gesellschaft. Doch ist diese Gesellschaft bei uns nicht nur eine der zunehmenden religiösen Vielfalt, sondern auch eine der fortschreitenden Säkularität, der Entkirchlichung, des inneren und äußeren Verlusts religiöser Bindungen. Genauer gesagt: Es scheint sich bei der viel diskutierten Rückkehr der Religion jedenfalls in Deutschland – anderswo ergibt sich ein durchaus anderes Bild –, und jedenfalls bisher weithin um ein Elitephänomen zu handeln, nicht dagegen um eine Frömmigkeitsbewegung an der Basis. Die Intellektuellen haben die Religion wiederentdeckt, und Politiker versuchen sich ihrer in komplizierten ethischen Entscheidungssituationen vermehrt zu vergewissern. Im einem etwas weiteren Sinne könnte man auch von einer neuen Verbürgerlichung von Religion sprechen; für den Protestantismus gilt das sicher noch mehr als für den Katholizismus. Mündet die neue Rolle von Religion also in die religiöse Bevormundung einer größtenteils areligiösen Gesellschaft? Und tut sich möglicherweise die Gefahr einer sozialen Spaltung auf, bei der ein zunehmend religionssensibles und wertebewusstes Bürgertum religiös entfremdeten unteren Schichten, oder einfach Normalbürgern, gegenübersteht? Dahinter verbirgt sich wohl eine allgemeinere Diskrepanz zwischen gestiegenem Religionsbedarf auf der einen, der säkularisierten gesellschaftlichen Realität auf der anderen Seite.

Für moralischen Mehrwert: Bürger­ge­sell­schaft und                          religi­ons­freund­li­cher Staat

Dieses „Elitedilemma“ der Religion führt in den letzten Teil meiner Überlegungen hinein, der von den praktischen Konsequenzen handelt: dem Verhältnis von Religion zu Bürgergesellschaft und Staat. Denn die neu gewonnene öffentliche Geltung von Religion, das Phänomen der Public Religions in the Modern World, um mit dem berühmt gewordenen Buchtitel von José Casanova zu sprechen (Casanova 1994), vollzieht sich nicht nur auf dem Marktplatz der Debatten, nicht nur in der diskursiven Kultur, obwohl man diese Seite nicht gering schätzen sollte: Die „Entprivatisierung“ von Religion bedeutet auch die Rückeroberung eines öffentlichen Diskursraumes, aus dem über Jahrzehnte verdrängt, jedenfalls an den Rand gedrängt worden war. Insofern hat das Religiöse eine elementare „Sprachfähigkeit“ wiedergewonnen, muss aber unter Beweis stellen, dass es sich dabei um mehr als den Rückgriff auf ältere religiöse Redeformen handelt. – Aber der eigentliche Prüfstein der öffentlichen Geltung von Religion ist ihre institutionelle Kraft, den Begriff der Institution dabei in einem ganz weiten Sinne verstanden, der Organisationsbildung und Vergemeinschaftung ebenso einschließt wie die Vermittlung und Verankerung gesellschaftlich bindender Werte.
Gerade in diesem Sinne ist Religion auch hierzulande zweifellos nie aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen worden. Aber wir haben unser Sensorium geschärft, und erkennen Religion als einen Faktor der Bürgergesellschaft vielleicht präziser als zuvor. Man könnte unter der Überschrift „Religion als Faktor der Bürgergesellschaft“ einen langen Katalog empirischer Beobachtungen zusammenstellen. Vor kurzem haben intensive Untersuchungen des Spendenverhaltens der Bundesbürger ergeben, dass die Zugehörigkeit zu einer Kirche die Wahrscheinlichkeit des Spendens ganz erheblich erhöht. Demnach spendeten in den letzten Jahren zwei von drei Konfessionellen, während es nur jeder dritte Konfessionslose tat. Das ist für Sozialforscher ein enorm signifikanter Unterschied, auch wenn andere Variablen wie Alter und sozialer Status mit hineinspielen. Gerade eine solche Beobachtung wirft ein Schlaglicht auf die Schnittstelle, auf den Überlappungsraum von religiösen Werten, moralischer Verpflichtung, institutioneller Verdichtung und materiellen Konsequenzen.
In erster Linie müsste man natürlich, wenn von Religion und Bürgergesellschaft die Rede ist, auf das dichte institutionelle Netzwerk kirchlicher Organisationen verweisen, vor allem im sozialen und im Bildungsbereich. Vielleicht tritt in letzter Zeit nur schärfer ins Bewusstsein – paradoxerweise auch wegen der Gefährdung dieses Sektors durch Ressourcenschrumpfung –, dass es sich dabei um mehr handelt als um ein innerkirchliches Imperium, das in Konkurrenz zu staatlichen Institutionen des gleichen Aufgabenbereichs stünde. Kirchliche Schulen und Kindergärten stehen im öffentlichen Raum ebenso wie die großen sozialen Einrichtungen der Diakonie und der Caritas. Auch die Kirchen und Gemeindehäuser, die Synagogen und auch die Moscheen fungieren nicht nur als Gebetshäuser, sondern als community centers, als Verknüpfungspunkte sozialer und moralischer Kommunikation. Die bürgergesellschaftlichen Organisationen der Kirche sind insofern ein wesentliches Element des „Dritten Sektors“, von dem in der allgemeinen Debatte über Bürgergesellschaft jetzt so viel die Rede ist: der Unternehmen jenseits von Staat und Markt, die immer auch auf moralische Ressourcen und freiwilliges, ehrenamtliches Engagement angewiesen sind.
Nur ganz am Rande soll daran erinnert werden, dass sich dahinter auch eine Arbeitgeberfunktion von ganz erheblichem Umfang verbirgt, oder anders gesagt, Hunderttausende Arbeitsplätze, teils sehr hoher Qualifikation, in diesem Bereich der kirchlichen Institutionen zur Verfügung gestellt werden. Wichtiger ist mir der Gesichtspunkt der moralischen Ressourcen. Kirche und Religion stellen, so meine These, einen „moralischen Mehrwert“ auch für die säkulare Bürgergesellschaft zur Verfügung, den diese mit anderen Mitteln kaum produzieren kann. Eltern schicken ihre Kinder auf kirchliche Schulen nicht nur, vielleicht nicht einmal in erster Linie wegen der Vermittlung religiöser Bildung oder der Einübung in religiöse Lebensführung etwa durch Gebete oder Morgenandachten.
Vielmehr ist das hauptsächliche Motiv wohl die Erwartung, dass in einer kirchlichen Schule Werte allgemeinerer Art vermittelt werden, die man von vornherein als säkularisierte Derivate einer im engeren Sinne religiösen Ethik und Wertelehre verstehen kann. Dabei handelt es sich nicht zuletzt um Werte und Verhaltensnormen der Selbstrelativierung und der sozialen Verpflichtung: Empathie, gegenseitige Rücksichtnahme, Altruismus. Die Einübung dieser Normen und Verhaltensformen bleibt an die religiösen Wurzeln, damit letztlich auch an die transzendentale Erfahrung, zurückgebunden, aber sie dient nicht primär der Einübung in eine religiöse Gemeinschaft, sondern der Sozialisation in die säkulare Bürgergesellschaft.

Das religiöse Reservoir des bürger­ge­sell­schaft­li­chen Engagements

Die neue Aufmerksamkeit für solche Schnittmengen zwischen Religion und Bürgergesellschaft verdankt sich wohl nur zum kleineren Teil dem gestiegenen Interesse an öffentlicher Religion. Überwiegend ist sie ein Indiz für die Suche nach einer starken Bürgergesellschaft, die in den letzten Jahren öffentliche, auch politische Debatten nicht nur in Deutschland geprägt hat (vgl. Nolte 2004: 75ff.). Sie ist Teil eines großen Umbaus, einer großen Transformation europäischer Gesellschaften angesichts der Krise staatlichen Handelns, staatlicher Steuerungskompetenz und staatlicher Ressourcen, aber auch angesichts eines Unbehagens über den Rückzug von Bürgern in ein nur noch privat geführtes Leben. Wer die Selbstverantwortung von Individuen stärkt, der stärkt deshalb auch ihre Befähigung zum bürgerschaftlichen Engagement, und stützt bürgergesellschaftliche Institutionen, die eine Vielzahl öffentlicher Aufgaben wirkungsvoller und gerechter wahrnehmen können, als es in direkter Obhut des Staates (noch) möglich wäre.
Auch unabhängig von kirchlicher Trägerschaft und religiösem Fundament lässt sich insofern ein „Mehrwert“ bürgergesellschaftlicher Organisation erkennen, der oft genug ganz einfach mit dem Enthusiasmus, mit dem Reservoir an persönlicher Verpflichtung zusammenhängt, wie sie aus solchem Engagement erwachsen bzw. in solchen Institutionen üblich sind. Von den Lehrern einer privaten Schule, von den Erziehern in einer privaten Tagesstätte erwarten die Eltern, wohl mit Recht, ein gewisses Plus an Einsatzbereitschaft, Verantwortungsgefühl und moralischem Commitment, gleichviel auf welche Quellen es sich beruft. Aber das bedeutet nicht, dass der Staat nun überflüssig würde und seine öffentlichen Aufgaben an ein dezentrales Netzwerk der Bürgergesellschaft weiterreichen könnte. Vielmehr sehe ich eine grundlegende Aufgabe des Staates in Zukunft darin – jenseits, selbstverständlich, der Fortführung klassischer Staatsaufgaben –, Voraussetzungen einer wirkungsvollen Bürgergesellschaft zu schaffen und zu garantieren. Der Staat kann (und muss sogar) Anreize einer bürgerschaftlichen Organisation bereitstellen, beispielsweise durch die Finanzierung von Infrastruktur, und damit ein Skelett der Bürgergesellschaft bilden, an das sich das Fleisch des konkreten Handelns in vielfältiger, auch dezentraler Verantwortung anlagert.
Diese Funktion des Staates als Gerüst und „Sponsor“ der Bürgergesellschaft kann sich nicht auf „säkulare“ Projekte beschränken; es kann überhaupt nicht eine vorgebliche Werteneutralität oder ideologische Desinfizierung zur Voraussetzung der Förderungswürdigkeit erklären. Denn sonst wäre die Bürgergesellschaft ohnehin ein rein staatliches Unternehmen und würde sich damit selber widerlegen. Und, wichtiger noch, der Staat und die säkulare Staatsbürgergesellschaft verzichteten damit gerade auf jenes Potential des „moralischen Mehrwerts“, das sich aus der Verwurzelung und Betätigung seiner Bürger in religiösen Gemeinschaften und anderswo – von der Arbeiterwohlfahrt bis zu NGOs – ergibt. In dieser Situation kann der Staat nicht, im Sinne eines radikal laizistischen Staates, von der Religion seiner Bürger, die ihm selber maßgeblich zu gute kommt, absehen. Er wird auf neuen Weise zu einem religionsbewussten, ja zu einem religionsfreundlichen Staat.
Mit dem religionsfreundlichen Staat ist weder ein Staat gemeint, der selber religiöse Attribute annimmt, sei es im unmittelbaren Sinne oder im Sinne einer neuen „Zivilreligion“. Gemeint ist auch keine Aufhebung der Trennung von Kirche und Staat; ebenso wenig wie ein Staat, der bestimmte religiöse Organisationen vor anderen bevorzugt. Gemeint ist auch nicht – und dieser Aspekt ist wahrscheinlich am wichtigsten – ein Staat, der den in religiösen Gemeinschaften und Institutionen erzeugten „moralischen Mehrwert“ unmittelbar in Anspruch nimmt, um die möglicherweise brüchigen Grundlagen seiner Legitimation zu stärken. Mit anderen Worten: Religion kann nicht jenes staatstragende Konsenspotential erzeugen, jene homogenitätsverbürgenden Elemente zur Verfügung stellen, die dem Staat durch die Säkularisierung, durch das von Böckenförde bezeichnete „Risiko der Freiheit“, einstmals abhanden gekommen sind (Geyer 1999). Sie wird vielmehr stets auch Dissens erzeugen, Konflikte produzieren und austragen – gerade darin liegt ja ihre Kraft in der modernen Gesellschaft. Aber der Staat kann sich auch nicht eine Brille der völligen Religionsblindheit aufsetzen, die sich als künstlich und realitätsfern erwiesen hat. Er kann nicht so tun, als sei Religion bloße Privatsache, wenn religiöse Überzeugungen einen erheblichen Teil der bürgergesellschaftlichen Infrastruktur tragen oder sich in öffentlichen Debatten und politischen Streitfragen argumentativ Gehör verschaffen. Gerade in Deutschland muss man ja gelegentlich auch daran erinnern, dass Religionsfreiheit nicht die Freiheit von Religion bedeutet – gewissermaßen das subjektiv-öffentliche Recht, von Religion unbehelligt zu bleiben – sondern die Freiheit für Religion bezeichnet.

Geld für den Glauben – eine Aufgabe des religi­ons­freund­li­chen       Staates

Die praktischen Konsequenzen einer solchen Einsicht in die öffentliche Rolle von Religion und in die Aufgaben eines religionsfreundlichen Staates liegen nahe. Die finanzielle Unterstützung konfessioneller Schulen – oder Krankenhäuser, oder anderer sozialer Einrichtungen – ist weder ein staatliches Gnadenbrot noch eine bloße Kompensation für die nicht entstandenen Kosten der Schule, die der Staat sonst hätte betreiben müssen. Sie rechtfertigt sich vielmehr aus der Erkenntnis, dass Aufgaben der Erziehung oder der sozialen Arbeit auch im Sinne der säkularen Gesellschaft, der allgemeinen Zivilgesellschaft, an einer kirchlichen Schule mindestens ebenso gut, ja mit einem zusätzlichen moralischen Mehrwert wahrgenommen werden. Ähnlich könnte man auch, ein zweites Beispiel praktischer Konsequenzen, für den kirchlichen Religionsunterricht argumentieren. Dessen Funktion geht offensichtlich weit über die Binnensozialisation religiöser Gemeinschaften hinaus: Der Staat ermöglicht kirchlichen Religionsunterricht an den Schulen nicht, um diese oder jene Sonderorganisation zu stärken. Sondern er tut es – oder sollte es jedenfalls tun –, um das Bildungs- und Reflexionspotential von Religion zu unterstützen, in der Erkenntnis, dass die Bearbeitung der Grenze zwischen weltlichen und religiösen Normen, zwischen Immanenz und Transzendenz, nur mit Hilfe von reflektierter, von „postsäkularer“ Religion geleistet werden kann, nicht aber durch einen staatlichen Werteunterricht oder ein allgemeines Fach Religionskunde.
Schließlich ein drittes und letztes Beispiel für die praktischen Konsequenzen eines religionsfreundlichen Staates, mit dem ich mich bewusst auf riskantes Terrain wage. Vor einigen Jahrzehnten gab es in Deutschland eine durchaus ernst zu nehmende Debatte, die auf die Abschaffung der Kirchensteuer mit dem Argument zielte, hier handele es sich – grob gesprochen – um eine unzulässige Verquickung von staatlichen und religiösen Aufgaben. Kirchen als private Mitgliederorganisationen seien nicht „steuerfähig“, und selbst wenn man die Steuern als Mitgliedsbeiträge umdefiniere, sei ihre Eintreibung durch staatliche Behörden illegitim. Inzwischen sind diese Diskussionen verstummt, und man kann den Spieß ruhig einmal umdrehen – gerade angesichts der beträchtlichen Erosion von Kirchenmitgliedschaft, die sich seit den 1970er Jahren vollzogen und den Anteil der konfessionslosen Bevölkerung zumal in den Großstädten beträchtlich hat wachsen lassen. Ist es angesichts der Bedeutung von Religion als bürgerschaftlicher Ressource gerecht, dass nur Kirchenmitglieder in die Finanzierung einer sozialen, moralischen, personellen und nicht zuletzt auch materiellen Infrastruktur investieren, von der die Gesellschaft insgesamt profitiert; dass also ein Teil zahlt, der andere als Trittbrettfahrer freigestellt wird? Das ist im Grunde ein klassisches free- rider- Problem, wie es jetzt häufig in der Ökonomie und Sozialstaatstheorie diskutiert wird. Dass aus der Kirche Ausgetretene dann trotzdem die kirchlichen Organisationen in Anspruch nehmen wollen, in Kindertagesstätten, Schulen und Krankenhäusern, ist nur ein Teil des Problems. Müssten nicht diejenigen, die keine Kirchensteuer zahlen, zu einer ersatzweisen Sozial- und Moralsteuer herangezogen werden? Wahrscheinlich gäbe es am Ende mehr Gründe, die gegen eine solche Lösung sprechen, als Gründe dafür. Doch jedenfalls ist es verlogen, über die Schließung von Infrastrukturen im kirchlichen Raum zu klagen, wenn massenhafte Kirchenaustritte letztlich auch zu einer Schrumpfung des Sozialbudgets unserer Gesellschaft führen und diese Schrumpfung nicht an anderer Stelle kompensiert wird.
Wenn nicht alles täuscht, stehen wir erst am Anfang grundlegender Veränderungen: im Verhältnis von Staat und Bürgergesellschaft, aber auch in einem globalen Konflikt von Kulturen, der auf allen Seiten von religiösen Kräften mitgeprägt wird. Die Erwartung, solche Konflikte zu lösen, indem wir sie sozusagen religiös keimfrei machen – gleichsam als eine globalisierte Säkularisierungsstrategie des Westens – dürfte nach den Erfahrungen der letzten ein, zwei Jahrzehnte eigentlich gar nicht erst aufkommen. Die Religion bleibt ein Teil der Moderne, for better or for worse. Sie bleibt dabei in einem Verhältnis zum modernen Staat, das komplizierter ist, als mancher im 19. und 20. Jahrhundert vermutet hatte.

  * Der geringfügig überarbeitete Beitrag beruht auf einem Vortrag, der am 2. Februar 2006 im Rahmen der Berliner Reden zur Religionspolitik an der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten wurde. Ich danke Rolf Schieder für die Einladung zu diesem Vortrag. Der Text führt Überlegungen weiter, die ich begonnen habe in Nolte 2004: 232-246.
 
1    Das verweist auf die „Fundamentalismus“-Problematik, die hier nicht näher verfolgt werden kann, vgl. nur Riesebrodt 2000.
2    Vgl. dazu verschiedene Arbeiten von Detlef Pollack, hier vor allem und grundsätzlich Pollack 2003.
3    Ähnlich argumentiert Joas 2004: 126 (notwendige „Übersetzungsleistungen“ und Abgrenzung zum Fundamentalismus); gegenüber Habermas’ Begriff der „postsäkularen Gesellschaft“ ist Joas skeptischer als ich es bin.

Literatur  

Bellah, Robert N. 1970: Civil Religion in America; in: ders., Beyond Belief: Essays on Religion in a Posttraditional World, New York, S. 168-189
Berger, Peter L. (Hg.) 1999: The Desecularization of the World: Resurgent Religion and World Politics, Washington
Blaschke, Olaf 2000: Das 19. Jahrhundert: Ein zweites konfessionelles Zeitalter?; in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 26, S. 38-75
Böckenförde, Ernst-Wolfgang 1976 [1967]: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation; in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt/Main 1976, S. 92-114
Casanova, José 1994: Public Religions in the Modern World, Chicago
Geyer, Christian 1999: Wohin mit der Heilsanstalt? Kirche in der Gesellschaft; in: Karl-Heinz Bohrer/Kurt Scheel (Hg.), Nach Gott fragen. Über das Religiöse, Stuttgart, S. 877-890
Geyer, Christian (Hg.) 2001: Biopolitik. Die Positionen, Frankfurt/Main
Graf, Friedrich Wilhelm 2004: Wozu noch Theologie?; in: ders., Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München, S. 249-278
Habermas, Jürgen 2001: Glauben und Wissen, Frankfurt/Main

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