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"Der Tourist verlangt, der Pilger dankt"

Der Jakobsweg: Tagebuch einer Pilgerwanderung,

aus: vorgänge Nr. 173 (Heft 1/2006), S. 97-105

Freitag, 1. April 2005

Ich bin in Oloron St. Marie, einem kleinen französischen Städtchen am Rande der Pyrenäen. Zum französisch-spanischen Grenzpass Puerto de Somport ist es nicht mehr weit. Dort beginnt morgen meine Reise nach Santiago de Compostela. Über 700 km Fußmarsch liegen vor mir. Ich bin aufgeregt. […]
Alle wollen wissen, warum ich allein nach Santiago pilgere. Ehrlich gesagt, nervt die Frage. Ich weiß nicht warum. Ich laufe einfach. Habe mir aber 3 wohlklingende Antworten überlegt, wie z.B. dass ich mein materielles und geistiges Leben ins Gleichgewicht bringen will, meine Religion neu entdecken möchte, dass ich wissen will, wo meine Grenzen liegen bzw. dass ich herausfinden möchte, mit wie wenig ich im Leben auskomme. Aber wie gesagt, ich weiß es nicht. […]
Auskommen muss ich mit dem was ich auf dem Rücken und am Körper trage:

3 Unterhosen
2 Unterhemden
3 Paar Socken
2 Hemden
2 Hosen (Beine abtrennbar)
1 leichten Fleecepulli
1 wärmere Fleecejacke
1 leichte Wanderjacke (alles Funktionskleidung!)
1 Schlafsack
1 kl. Isomatte
2 Wanderstöcke
1 Paar Handschuhe
1 Mütze
1 Halstuch
1 leichte Dioden-Kopflampe
10 Ohropax
1 Zahnbürste
1 halbleere Tube Zahnpasta
1 kl. halbleere Dose Nivea
1 kl. Fl. Shampoo-Konzentrat von Rosanna
1 kl. Fl. Duschgel
1 Rasierschaum und Rasierer
1 Waschlappen
20 Blasenpflaster
5 Pflaster
Desinfizierungszeug
1 Taschenmesser
1 Döschen Haarwachs (einziger Luxus für den eitlen Philipp!)
2 Jakobswegführer
2 Bücher
rosa (!) Flip-Flops
1 Paar Wanderschuhe
2 Packungen Tempos
1 Kreditkarte, 1 EC-Karte
1Hande
3 Meter dünnes Seil zum Aufhängen der Wäsche
1 Rei in der Tube (halb voll)
3 Sicherheitsnadeln
1 Nähzeug aus Hotel
1 Stift
dieses Moleskine-Buch
3 Müllsäcke zum Extra-Schutz dieser Sachen vor Regen
Tinas Rucksack
1 Rucksack-Regenschutz
Rucksackgewicht 9,5 kg, ohne Wasser und Verpflegung.

Samstag, 2. April, Puerto de Somport – Jaca, 32 km

Zunächst: Heute wäre meine Mutter Renate 65 geworden und irgendwie wandere ich auch für sie! Jedenfalls bin ich den ganzen Tag in Gedanken bei ihr.
Mein Weg beginnt am Somport-Pass. Es ist 10.00 h. Es ist kalt, stürmisch. Überall liegt Schnee. Der Weg führt zunächst über vereinzelte Schneefelder. Dank großem Enthusiasmus gleite, springe ich fast darüber hinweg. Ich gehe schnell, der Abstieg ist gut zu bewältigen. Nach zunächst kleinen Bergschluchten und Wasserfällen gehe ich nun durch Almen und Wiesen. Wunderschön. […]
Nach ca. 23 km tut mir wirklich alles weh. Es ist anstrengend. Mein Gott. Um halb sechs bin ich endlich in Jaca.
Um 20.00 h Messe für Pilger. Vorher hole ich noch meinen Pilgerpass im Kirchenbüro ab. Ich fühle mich besonders. Glücklich. Ich bin den Tränen nahe. Die große Kirche ist voll. Zum Abschluss der Messe werden die Pilger durch Priester und Gemeinde gesegnet. Alle Pilger werden nach vorne zum Altar gerufen. Alle bin ich. Und da stehe ich nun. Als Pilger. […]

Montag, 4. April, Arrés – Undués de Lerda, 40 km

8.10 h Abmarsch in Arrés. Wunderschöner Abstieg (ca. 100 – 200 Höhenmeter) mit tollen Blicken zurück auf Arrés. Ich wandere alleine. Die Strecke verläuft auf einem Höhenweg mit etlichen kleineren Auf- und Abstiegen. Ich blicke ins grüne Tal des Rio Aragon. Rechts und links die Ausläufer der Pyrenäen. […]
Bald sehe ich von Ferne mein heutiges Ziel: Undués de Lerda: Ein kleines sonniges Dorf. Ankunft dort um ca. 18.00 h. Der/die „Hogar social“, das ist der vom Dorf selbst betriebene Laden, in dem es die Schlüssel zur Herberge gibt, macht gerade zu, als ich ankomme. Glück gehabt. Es gibt ein Bett für mich, aber kein Abendessen. Aber ich bekomme ein paar Früchte, habe auch noch 1/2 Boccadillo vom Mittag. Ich kaufe noch 1 Coke, 1 Aquarius und 1 Bier. […]
Ich bin der einzige Pilger hier, habe ein tolles Zimmer mit Sonnenuntergangs-Aussicht. Telefoniere 2x mit Tina. Wasche meine Wäsche. Morgen geht es bis Izco.
Ein wenig Hunger habe ich doch noch. […]

Mittwoch, 6. April, Izco – Puente la Reina, 38 km

Ich plane ein ausgedehntes Frühstück in Monreal, der nächsten kl. Stadt. Abmarsch aus Izco um 7.15 h. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Es wird langsam hell. Etwas frisch. Herrlich zu laufen. Ich komme gut voran. […]
Ca. 9.15 h Ankunft in Monreal. Alles zu, kein Laden hat auf, die Herberge ist geschlossen. Ich bin sauer auf den Ort, ich habe Hunger, mir knurrt der Magen. Ich esse wieder Schokolade und Kekse, die ich noch habe, aber nicht mehr sehen kann. Einen Brunnen finde ich auch erst nach einiger Zeit hinter der Herberge. Ca. 9.30 h weiter Richtung Puente de Reina. Ich finde den Weg nicht raus aus der Stadt und ärgere mich doppelt. Ich frage auch niemanden, weil sich hier ja eh alle gegen mich verschworen haben.
Kurz vor 13.00 h umrunde ich einen Steinbruch und erreiche kurz darauf Tienda. Ich bin hungrig, denn bis auf die Tüten-Bolognese in Izco habe ich seit 2 1/2 Tagen nicht warm gegessen. Ein Erlebnis der anderen Art: Im Restaurant muss ich meinen Rucksack im Nebenzimmer abstellen, damit ihn niemand sieht. Die Kellnerin muss ihren Chef fragen, ob ich mich auch allein irgendwo hinsetzen darf. Das ganze Ding ist leer!!! Aber egal, denn das was kommt, ist ein Fest: Vorspeise: Ein Riesenteller Spagetti, Hauptspeise: Mind. 20 Chicken Wings, dazu 1 l Wasser, Apfel. 10 Euro Menü, dazu ein Cafe solo. Nach und nach (im 30-Sekunden-Takt) füllt sich das Restaurant. Die Arbeiter der Steinbrüche rücken an. Das Haus ist voll, nur ich sitze noch alleine an einem 4er-Tisch. […]
Gegen 17.00 h bei der wunderschönen Kirche Eunate treffe ich auf die ersten deutschen Pilger-Trupps (= kombinierte Fuß- und PKW-Wanderungen aus dem Katalog. Erkennungszeichen: Große Jakobsmuschel demonstrativ um den Hals getragen. Selbstbild: „Frag’ mich was zum Jakobsweg, ich weiß alles!“ Dumm: Können gutes nicht von schlechtem Brunnenwasser unterscheiden). Böse, böse, aber so ist es. […]

Freitag, 8. April, Villamayor – Logroño, 40 km

Abmarsch um 7.45 h, 10.00 h in Los Arcos. Kaufe meine Jakobsmuschel. Das Radio – im ganzen Ort zu hören – berichtet von der Suche nach einem neuen Papst. Meine Füße und Beine schmerzen zu sehr, um weiter zu schreiben. Morgen vielleicht.
Nachtrag zum 8. April (notiert am 10. April)
Ich fühle mich schlecht, wie bisher noch nie auf meiner Tour. Nicht körperlich, obwohl die langen Touren der letzten Tage ihre Spuren hinterlassen haben, sondern emotional. Obwohl ich in Logroño in einer Herberge mit rund 50 anderen Pilgern übernachte und ich mit 10 anderen noch Essen gehe, fühle ich mich unter all den Menschen einsam. Das Gefühl hatte ich lange nicht mehr. […]

Montag, 11. April, San Vicente de la Barquera – Quintanilla de Lamason, 26 km

Die körperlichen Anstrengungen der ersten Tage lassen nach. Ich habe das alltägliche Leben (Hygiene, Waschen, Essen) im Griff. Mein Kopf ist frei, klar. Meine Wahrnehmung liegt bei 150%. Ich höre jeden Vogel. Ich habe das Gefühl, alles zu hören, zu sehen. Ich bin unendlich wach. Ich verstehe: Jeder geht (im Leben) seinen Weg. Doch gibt es einen „richtigen“ Weg? Wer beurteilt das? […]

Donnerstag, 14. April, Cangas de Onís – Villaviciosa, 44 km

What a day! Abenteuer pur. Alle Emotionen. Freude, Frust, Anspannung, Schmerz, Glück. Heute war durchhalten, stark sein, diszipliniert sein angesagt. Abmarsch in Cangas de Onís um 7.45 h. 7.46 h fängt es an zu regnen. Es geht auf kleinen Wegen und Landstraßen hinaus in die Berge. Liebliche und trotz Regen wunderschöne Landschaft. Tolle erste 10 km durch bergiges Gelände. Trotzdem: Es ist nass. Nur hin- und wieder reißt der Himmel auf. Nach einigem auf und ab steht der erste Anstieg nach Sorribes an. Nur, ich weiß nicht, wie lange er dauern wird. Doch die Sonne kommt raus und über gut zwei Stunden geht es langsam aber sicher bergan. Ich strotze gerade auf den ersten 10 km nur so vor Kraft und Selbstbewusstsein. Ich singe. Vor mir liegen noch über 30 km. Aber ich fühle mich stark! Recht steiler Abstieg von Sorribes. Im Führer steht: Bei Regen kann es matschig werden. Es ist matschig! Und wie. Auf ca. 1 km geht es steil bergab in einer einzigen Schlammgrube. Der Weg hat sich im Regen aufgelöst, ich versinke in bis zu 30 cm tiefem Matsch.
Vor dem Mittagessen beginnt der zweite Anstieg nach Anayo. Es gießt mittlerweile in Strömen. Der Anstieg ist steil und geht über kleine Betonwege hin- und wieder unerträglich steil bergauf. Ich stöhne, schwitze, fluche. Auf einem unbewohnten, aber bewirtschafteten Hof frage ich nach dem Weg. Ein alter Mann schickt mich offensichtlich in die falsche Richtung. Was soll’s, ich finde den Weg dennoch. Es wird immer steiler, windiger, regnerischer, die Wolken dunkler. Jetzt geht es auf Landstraßen bergauf zum Kamm. Und was sehe ich: Eine Bar mit 3-4 Autos davor und es gibt Essen deluxe: Pasta mit Chorizo, gebratenen Fisch, Flan im Joghurt-Becher, Milchkaffee und zwei Coke.
Das sollte der „anstrengende“ Teil der heutigen Tour sein. Doch was jetzt kommt, schlägt alles. Durch steile, rutschige Wege geht es bergab. Ich schlage mich förmlich durch 3 m hohes Dornengestrüpp, das den Weg zugewuchert hat, ziehe mir trotz Regen meine Jacke aus, um sie vor den Dornen zu schützen, muss aber doch aufgeben, zurück gehen und abseits des Weges über Wiesen ausweichen. Es geht weiter auf einem Steinweg. Es ist rutschig auf den großen Platten. Ich stolpere, doch meine Stöcke stützen mich. Doch dann stürze ich. Kopfüber nach vorne, mit dem Rucksack habe ich keine Chance, mich zu fangen. Recht große Platzwunde am rechten Handballen. Ich verbinde und desinfiziere die Wunde notdürftig in der nächsten Kapelle.
Mittlerweile bin ich von innen und außen komplett durchnässt. Selbst meine „wasserdichten“ Schuhe stehen voll Wasser. Es ist schrecklich kalt. Das letzte Stück geht an einem Fluss entlang. Der Weg daneben ist leider auch zum Fluss geworden. Das gibt mir den Rest. Weil die nächste Pilgerherberge erst in 5 km kommt, weiche ich ins nahe Villaviciosa aus. Gute Entscheidung: Es fängt bald sintflutartig an zu schütten. Ich „rette“ mich förmlich ins Hotel** Neptuno. Neptuno! Das Zimmer ist klein und nicht wirklich freundlich, aber ich bin fix und fertig, wasche meine Wäsche und schlafe ein.
Was geht mir durch den Kopf? Nichts, außer trockener Wäsche und Essen.

Mittwoch, 20. April, Ponferrada – Villafranca, 24 km

8.30 h, spät losgegangen, zusammen mit André, Kerstin, Cassia und Nicole. Wir laufen langsam. Es ist Andrés erster Tag. Er kommt aus Brasilien und verehrt natürlich Paolo Coelho, der ebenfalls nach Santiago gepilgert ist. Er möchte andauernd meditieren und bleibt deswegen immer wieder stehen. Aber das gibt sich schon noch. Und auch wir werden uns an ihn gewöhnen. […]
In Villafranca gibt es zwei Herbergen. Wir entscheiden uns gegen die staatliche und für die „alternative, gemütliche“ Privat-Herberge. Doch die Stimmung dort ist komisch, angespannt. Die Räume dreckig, die Toiletten ekelig. Doch wir bleiben. Plötzlich werden wir angeschrieen, weil wir unsere Schuhe im Schlafraum anhaben. Was sollen wir auch anderes tun, wir haben nur ein Paar und es ist kalt und klamm hier unterm Dach. Aber wir werden die Schuhe ausziehen, sagen das auch.
Dann will ich einkaufen. Aber als ich – mit Schuhen – die Herberge verlassen will, beschimpfen mich 4 Menschen gleichzeitig. Ich wäre kein Pilger, ich würde den Hausherren nicht respektieren, würde meine Schuhe nicht ausziehen und solle doch lieber in ein ClubMed gehen. Was soll das denn? Ich gehe lieber in die staatliche Herberge. Die Kanadierinnen und André kommen mit. Kerstin aus München bleibt kommentarlos zurück. Unter großen Beschimpfungen und Drohungen mit einem Stock holen wir unsere Sachen und flüchten regelrecht.
Beim Herausgehen erhasche ich ein Blick auf ein (deutschsprachiges) Schild: „Der Tourist verlangt, der Pilger dankt“. […]

Freitag, 22. April, O Cebreiro – Triacastela, 21 km

„Dann bist Du vielleicht auf dem falschen Camino!“ Mann, was für eine Ansage so früh am Morgen. Danke, Kerstin, aber wer bist Du, so ein Urteil zu fällen? Und sie will Richterin werden!
Bleibt natürlich die Frage, was Pilgerschaft bedeutet. Paul, den ich schon so oft auf diesem Weg um Rat gefragt habe, sagt klar: Jeder entscheidet das für sich selbst. Und das stimmt. Für seinen Weg ist jeder selbst verantwortlich. Jeder hat individuelle Ansprüche/Kriterien für sich formuliert, gegen die jeder selbst sein Handeln prüfen kann und muss. Jeder ist sein eigener „Schiedsrichter“. […]
In Triacastela finde ich in der Kirche folgenden Text, den ich abschreibe:

Der Camino nach Santiago – seine menschliche und spirituelle Dimension
[…]
Die Leute, die sich über das Wesen des Caminos den Kopf zerbrechen, können kein richtiges Urteil über den Weg nach Santiago finden. Dieser Weg ist nicht dazu da, um sich den Kopf zu zerbrechen, er muss erlebt werden.
Bedeutet er Kultur? Gewiss drückt sich deutlich der Glaube in den Kunstwerken aus, die es auf diesem Weg gibt. Sie finden auf dem Weg ihre Vollendung, der Weg ist Ausdruck des Glaubens.
Was Wanderlust und das Verlangen nach Sehenswürdigkeiten betrifft so kann man nicht leugnen, dass so mancher Wanderer am Anfang sich nicht real bewusst ist, was er da tut: Aber am Ende kommt er zur Erkenntnis seiner selbst und zur Erkenntnis Jesu. Wanderlust ist nicht an sich mit dem Weg nach Santiago verbunden. Das Wandern darf nicht von vorne hinein als ein Suchen nach Sehenswürdigkeiten betrachtet werden.
Freizeitbeschäftigung oder Urlaub? Das kann sich ergeben, aber das ist nicht der Sinn dieses Wanderns. Für uns Menschen gibt es keinen Urlaub vom geistlichen Leben. Hier müssen wir stets unterwegs auf der Suche sein.
Der Weg nach Santiago bedeutet: Gemeinschaft aller Völker, die völkische Überheblichkeit ausschließt. Wir fühlen uns hier alle als eine große Gemeinschaft und jeder einzelne fühlt sich als Glied dieser wandernden Gemeinschaft, Geschwisterlichkeit, Zusammenleben…
Der Camino ist:
1) Ein Finden zu sich selbst
2) Ein Sich-Öffnen zu den Mitmenschen
3) Ein Zugang zu unserem eigenen Inneren, damit wir unsere Fähigkeit zur Hingabe an die Mitmenschen entdecken
4) Ein Suchen und ein Finden: Ein Suchen nach dem eigenen Ich, denn wir sind uns oft selbst ganz Unbekannte. Ein Finden, denn wir finden Jesus von Nazareth
5) Ein Aufstellen einer Werte-Skala, da die wirklichen Werte des Daseins sich im Zug des Lebens im letzten Wagen befinden
6) Ein Schmieden von Plänen, die wirklichkeitsnah und durchführbar sind, damit wir uns durch das Leben nicht überlastet fühlen
7) Ein Gläubigsein aus Liebe, nicht aus Furcht und Angst
8) Ein Zeuge-Sein für den Jesu der Geschichte und den Jesus des Glaubens
9) Eine Zeit, unsere Fehler und Irrtümer einzusehen und auszumerzen
10) Ein Angebot, um sich als Verbündeter der Frohen Botschaft zu fühlen in einer Welt, die von Bewusstsein der eigenen Sündhaftigkeit zu einem zu laxen Gewissen herabgesunken ist, das alles für erlaubt hält
Habt keine Angst vor dem Leben, Vorwärts! Christus erwartet Euch mit offenen Armen. Er will uns alle haben, um diese Welt zu verändern, wobei wir freilich bei uns selbst anfangen müssen. Es ist nie zu spät.
(Parroquia de Santiago o Perregrino de Triacastela, Galizia)

Sonntag, 24. April, Sarria – Palas do Rei, 45 km

Befreiungsschlag. Nach dem wir heute alle 8.00 h/8.30 h aufgebrochen sind aus Sarria, muss ich mich heute – das stand schon gestern fest – von der Gruppe lösen, meinen eigenen Weg gehen. Zu sehr orientieren sich alle immer an den anderen. So gut es mir getan hat, eine Woche wirklich unter Menschen zu sein, mich auszutauschen, so sehr fühle ich mich jetzt eingeengt, abhängig, unfrei. Ich muss jetzt meinen Weg gehen. So schnell, so weit, wie ich will. Das tun, was ich mir vorgenommen habe. […]

 
Montag, 25. April, Palas de Rei – Ribadiso, 25 km

Heute ist ein besonderer Tag. Für mich.
Morgens ist noch alles klamm und feucht. Schuhe noch pitschnass. Nicht ekelhaft, nicht doof, sondern schmerzhaft kalt. Scheiße. Das ist wirklich ein Alptraum. Gott sei dank geht es nur bis Ribadiso und es soll besseres Wetter werden. Ilona und Michael warten auf mich, obwohl ich weiß, dass sie eigentlich sehr früh los wollten. Da ich beide gestern zum Bier eingeladen hatte, laden sie mich zum Frühstück ein. Darüber freue ich mich. Trotz Kälte fühle ich mich deswegen sehr wohl. […]
Nach Melide reißt der Himmel auf. Mir wird klar, warum ich diesen Weg gehe: Nachdem ich gestern noch mit Paul über meine Ängste, manche Unentschlossenheit und Unsicherheiten gesprochen habe, ist mir heute bewusst geworden, dass ich keine Angst haben muss. Ich hatte oft Angst. Angst nicht gut genug zu sein. Schlecht dazustehen. Angst hintergangen zu werden. Zu oft war Angst der entscheidende Antrieb das eine oder andere zu tun. Aber ich habe meine Angst verloren. Zwar weiß ich noch immer, dass ich auch scheitern kann, aber ich bin voller Vertrauen und Zuversicht.
Denn meine Schutzengel, Gott und Jesus Christus stehen mir bei. Ich höre sie förmlich während ich laufe: Fürchte Dich nicht, denn ich bin bei Dir! Fürchte Dich nicht! Mein Gott, ich habe keine Angst, ich fürchte mich nicht! Vor nichts!
Ich habe mit Gott gesprochen. Ich bin zu Gott gelaufen. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so erfüllt gefühlt. Hätte ich noch nie geglaubt, heute glaube ich. Fürchte Dich nicht sagt er, denn ich bin bei Dir! Ich bin dankbar. Voller Glück. Fast fassungslos. Voller Liebe.
Ein paar Stunden (?) später stoppe ich an einem Jakobsweg-Pfeiler am Rande eines Gartens, um zu trinken. Da höre ich einen Mann aus dem Garten nach mir rufen, als ich gerade dabei bin, weiter zu gehen. Er rennt 50, 100 m zu mir und deutet, ich solle doch bitte stehen bleiben. Am Zaun angekommen, nimmt er ein Messer und schneidet mir ein Stück Kuchenrolle (mit viel Sahne-Creme) von einem Teller ab, gibt es mir, freut sich und verschwindet wieder. […]

Dienstag, 26. April, Ribadiso – Santiago de Compostela, 45 km

Santiago! Die letzte Etappe. 45km. Zum letzten Mal den Rucksack packen. Nach dem „System“, das mir so in Fleisch und Blut übergegangen ist: Schlafsack, Waschzeug, Klamotten, Lebensmittel, Flip-Flops … Es ist, wie wenn man einen Lebensabschnitt bald beendet.
Nach ein paar Keksen zum Frühstück geht es los. Die schöne Herberge verschwindet schnell hinter dem nächsten Hügel, beim Blick zurück ist sie nicht mehr zu sehen. Bleibt der Blick nach vorne. Santiago! Doch noch trennen mich gute 45 km vom Apostelgrab! […]
Den ganzen Vormittag singend erreiche ich mittags fast ohne Pause Pedrouzo/Arca. Gott geht es mir gut. […]
Nachmittags bin ich traurig und glücklich zugleich. Ich heule ganz schön viel. Insbesondere denke ich an meine Mutter.

Sie wäre stolz auf mich. Sie fehlt mir sehr. Ich vermisse sie sehr. Ich bete, danke Gott, das er mich bis hierhin geführt hat und bitte für meine Liebsten, Tina, Papa, Hilde und alle meine Freunde, Verwandten und andere mir wichtige Menschen – auch meine lieben Mit-Pilger, die ich ins Herz geschlossen habe.
Die Ortschaften ziehen vorbei, ich esse noch einmal Schokolade und Kekse zu Mittag […] und bald schon stehe ich am Ortsschild von Santiago. Santiago.
1 Std. braucht man noch bis zur Kathedrale, zum Apostelgrab. Die vielen Touristen dort nerven, aber ich versuche, bei mir zu bleiben. Gehe in beide der „ruhigeren Kapellen“ der Kathedrale und komme langsam an. Ich muss heulen, kein Taschentuch, egal. Ich flenne einfach so vor mich hin. Das tut gut, es befreit. Ich bete noch einmal. Zum Apostelgrab gehe ich morgen.
Ich gehe zum Pilgerbüro, Urkunde abholen. Schnell eine schöne Pension gefunden. Wie immer wasche ich noch schnell alles, bzw. weiche alles ein.
Telefonisch ist zuhause natürlich niemand zu erreichen. Papa nicht, Tina nicht, Omi Hilde nicht. „Zum Piepen“, hätte meine Mutter gesagt.
Mit anderen Pilgern, die ich in Santiago bzw. schon auf dem Weg getroffen habe, ziehe ich abends los. Um 3 Uhr wanke ich zurück in meine Pension. Und da ist noch die eingeweichte Wäsche! Oh je, aber was soll ich machen. Schnell alles gewaschen und ab ins Bett!
 
 

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