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Horst Köhlers konzep­ti­o­nelle Führung

Das Amtsverständnis des Bundespräsidenten,

aus: vorgänge Nr. 173 (Heft 1/2006), S. 116-122

Auch Berlin ist nicht Weimar. Einschneidende Veränderungen im Verfassungs- und Institutionengefüge sind in der Berliner Republik bisher ausgeblieben. Selbst die krasseren Reformforderungen zielen auf die Gesetzes- und Verwaltungs-, nicht die Verfassungsebene. Seit Mitte der 90er Jahre lässt sich allerdings eine Entwicklung beobachten, die das politische System der Bundesrepublik neu justieren könnte. Mit dem Bundespräsidenten gewinnt ein Amt an Bedeutung, das bisher so etwas wie das Stiefkind in der Institutionenfamilie der Bundesrepublik war. Die Prämisse, dass der Bundespräsident – die historische Begründung ist bekannt – auf das Repräsentative beschränkt zu sein habe, scheint nicht mehr zu gelten.
Wann eine Erosion überkommener Spielregeln eingesetzt hat, lässt sich kaum exakt bestimmen. Im Rückblick erscheint die Präsidentschaft Johannes Raus allerdings eher als Ausnahme von der Regel. Rau pflegte einen vorsichtigen, versöhnlichen Stil, der nicht zuletzt aufgrund seiner Biographie deutlich in die alte Bundesrepublik zurückwies und stark an seinem ehemaligen Mentor Gustav Heinemann orientiert war. Hingegen hatte zuvor Roman Herzog eine sichtbare Akzentverschiebung vorgenommen. In der ‚Ruckrede’ ist diese am sichtbarsten geworden, später viel zitiert, aber letztlich eher ein Strohfeuer denn das Startsignal einer konsequenten Neuausrichtung des Amtes. Die Rede deutet aber immerhin eine Allianz zwischen dem Präsidenten und einer so breiten wie unspezifischen Strömung an, die sich in den Feuilletons und Wirtschaftsteilen der Tageszeitungen, in diversen Initiativen und Fernsehrunden Ausdruck verschafft und sich unter dem mittlerweile überstrapazierten Rubrum ‚Reform’ subsumieren lässt.
Die politische Rede ist zweifelsohne das durchschlagkräftigste Geschütz im bescheidenen Arsenal des Bundespräsidenten. Der Komment der Bundesrepublik verlangt daher, dass diese Waffe einen Sperrvertrag unterliegt, der besagt, dass parteipolitische Vorstöße und Einmischungen in die Tagespolitik unstatthaft sind. Versuche der Machtausdehnung, die in unterschiedlicher Ausprägung jeder Bundespräsident unternahm, verloren sich daher regelmäßig im organisationsrechtlichen Klein-Klein widerstrebend gegengezeichneter Gesetze, protokollarischer Feinheiten und kulturell-politischer Vorstöße. Mit der Präsidentschaft Horst Köhlers scheint sich diese Regel grundlegend zu ändern.

Köhlers Neuin­ter­pre­ta­tion des Bundes­prä­si­den­ten­amtes

Köhlers Amtsverständnis dokumentierte sich bereits vor dessen Amtsantritt – am ausführlichsten in einem ‚Gesprächsbuch’, verfasst vom ehemaligen FAZ-Herausgeber Hugo Müller -Vogg. Mit der Wahl Köhlers erschienen und von Köhler autorisiert ist ‚Offen will ich sein – und notfalls unbequem’ ein Programmbuch und als solches entschieden ein Novum. Dies gilt ebenso für ein Gespräch, das Köhler im März 2004 mit Altbundeskanzler und Zeit-Herausgeber Helmut Schmidt führte. Köhler tritt hier, unterstützt von Helmut Schmidt als wohlwollendem Stichwortgeber, mit dem bemerkenswerten Anspruch auf, der Bundespräsident solle in wichtigen Bereichen der Politik „konzeptionelle Führung“ zeigen und fordert: „Wenn ein Bundespräsident sieht, dass sich in einem Schlüsselbereich der deutschen Zukunft – das ist und bleibt die Wirtschaft – zu wenig bewegt, muss er sich bemerkbar machen.“ Köhler entwirft sich selbst als eine Art ‚Bundeskommunikator’, d.h. als Themensetzer und Debattenanstoßer jenseits der politischen Klasse. Er setzt sich damit deutlich ab vom bisher implizit vorherrschenden Modell des Präsidenten als bloßen Moderator, der sich mit eigenen Vorstößen auf dem Gebiet des Gesellschaftspolitischen, des Selbstverständnisses der Nation beschränkt. Wie ernst es Köhler mit seiner programmatischen Neuerung ist, unterstreicht er bereits direkt nach seiner Wahl. Er beschränkt sich nicht auf die üblichen Dankesworte, sondern liefert zum Erstaunen der Bundesversammlung eine Rede zur Lage der Nation – fast im Stile eines neuen Regierungschefs.
Dass Köhler nicht nur einen neuen Stil ankündigt, sondern diesen auch umsetzt, erwies sich spätestens im dramatischen Neuwahl-Spektakel. Hier unterstrich Köhler seine Bereitschaft zu kontroversem, politisch weitreichendem Handeln und er unterfütterte dieses Handeln mit politischer Programmatik. Dieser Nexus war so in den vorangegangenen Parlamentsauflösungen durch Walter Scheel und Karl Carstens nicht vorhanden. Köhler begründet die Auflösung des Parlaments weniger mit dessen tatsächlicher Handlungsunfähigkeit als vielmehr mit einer nationalen Krisensituation, die bestimmte, durch die gegenwärtige Regierung nicht garantierte Lösungen erfordere. Insofern ließe sich überspitzt formulieren, dass Köhlers Neudefinition des Präsidentenamtes teils Folge eines Machtzugewinns des Bundespräsidenten ist, teils dessen Bedingung. In der Neuwahlentscheidung kulminiert in diesem doppelten Sinne – ideell und materiell – die Idee vom Bundespräsidenten als Reformmotor. D.h. der Präsident soll Notwendigkeiten benennen und erläutern, die ‚Öffentlichkeit’ diese dann diskutieren und die zuständigen politischen Kräfte diese daraufhin umsetzen.
Belege hierfür finden sich seit dem Amtsantritt Köhlers zuhauf. Wiederholt lobt der Präsident die Agenda 2010, verlangt allerdings konkrete Nachbesserungen. Überhaupt betrachtet Köhler die Politikfelder Wirtschaft und Sozialpolitik qua Fachkompetenz als quasi natürliche Spielwiese. Zu Lohnnebenkosten, zweitem Arbeitsmarkt und dergleichen hört man zeitweise mehr und konkreteres vom Präsidenten als vom Wirtschaftsminister. Anfang dieses Jahres schlägt Köhler eine gesellschaftliche Grundsicherung vor, verlangt eine Gewinn- und Kapitalbeteiligung für Arbeitnehmer und eine Aufstockung von Niedriglöhnen durch staatliche Zuschüsse. Da die Große Koalition nach einem Monat im Amt soweit noch nicht ist, bzw. in andere Richtungen strebt, muss sie sich eine allerhöchste Rüge gefallen lassen.
Auffällig ist nun, dass in der Kandidatenphase Köhler nicht nur Spielball im CDU-internen Machtkampf ist, dass er als Vorbote eines kommenden Machtwechsels hin zu einer bürgerlichen Regierung aufgebaut und instrumentalisiert wird, sondern sich eine bemerkenswert breite Unterstützungsfront bildet. Diese reicht von Helmut Schmidt und den Wirtschaftsverbänden über FDP-Chef Guido Westerwelle und Publizisten wie Hugo Müller -Vogg bis weit in die CDU hinein. [1]

Warum der Bundes­prä­si­dent an Macht gewinnt

Neu ist nicht nur die Konkretion der Köhlerschen Einwürfe. Neu ist vielmehr auch, dass Vorstöße – etwa in den Bereich der Tarifautonomie – ohne größere Kritik akzeptiert werden, ja sogar auf eine breite, teils enthusiastische Zustimmung treffen. Kennzeichnend für den Tenor dieser Zustimmung ist die gewohnt radikale, überspitzte Aufforderung Arnulf Barings an Köhler nach dessen Wahl: „Er muss dem Land die Leviten lesen! Ich möchte Herrn Köhler nachdrücklich ermuntern, die Bevölkerung über den außerordentlich kritischen Zustand unseres Staatswesens rückhaltlos aufzuklären.“ Ganz auf Barings Kurs träumt Heimo Schwilk in der Welt, nachdem er Köhlers Statements pro Familie und kontra Neoliberale, aber auch sein Plädoyer gegen einen überbordenden Sozialstaat ausführlich gewürdigt hat: „Sollte Horst Köhler diesen mutigen Kurs halten, könnte von seiner Amtzeit etwas ausgehen, was Bundeskanzler Kohl vor mehr als zwei Jahrzehnten als ‚geistig-moralische Wende’ ankündigte.“ Hoch auf dem „gelben Wagen des Zeitgeistes“ werde man jedenfalls Köhler nicht finden.
Diese Hoffnung ist keineswegs forschen Intellektuellen vorbehalten, sondern steht auf sehr breiter Basis. Im März 2005, kurz vor einer Grundsatzrede Köhlers zur Arbeitslosigkeit, stellt das Allensbach-Institut fest, dass 85 Prozent aller leitenden Angestellten und 81 Prozent der Selbständigen fordern, der Bundespräsident solle sich mehr in aktuelle politische Fragen einmischen. Laut einer Emnid -Umfrage fänden 82 Prozent der Befragten es begrüßenswert, wenn der Bundespräsident künftig direkt vom Volk gewählt würde. Prominente Befürworter einer Direktwahl sind in allen politischen Lagern zu finden, von Wolfgang Gerhardt über Peter Gauweiler bis zu Jutta Limbach. Dass damit der Bundespräsident nicht automatisch die Fesseln seiner repräsentativen Beschränkung abstreifen würde ist ebenso klar, wie die Tatsache, dass die ‚Kommunikator-Rolle’ so noch einmal wesentlich gestärkt würde. Dass der Bundespräsident mit 73 Prozent unter den Verfassungsorganen das mit Abstand höchste Vertrauen genießt (Bundestag 19, Bundesregierung 15 Prozent) ist hierfür sicherlich nicht abträglich. Im Anwachsen der ‚Auctoritas’ des Präsidenten scheint also der eigentlich interessante und spannende Prozess zu liegen, weniger in der so dramatischen wie letztlich durchschaubaren Forderung nach Ausweitung der ‚Potestas’. [2]
Auf der Suche nach Gründen für die breite Zustimmung zum neuen Rollenverständnis des Bundespräsidenten geraten negative und positive Merkmale in den Blick. D.h. man muss fragen, warum frühere Bedenken keine entscheidende Rolle mehr spielen und was andererseits die Neudefinition trägt. Eine wesentliche Voraussetzung ist der Wandel der politischen Kultur der oft als Kennzeichen der Berliner Republik ausgemacht worden ist. ‚Deutsche Wege’ sind nun genauso wenig tabu wie ‚deutsche Interessen’ auf einmal selbstverständlicher Fluchtpunkt jedes außenpolitischen Handelns sind. Eine vorrangig auf der Linken verortete Wächter-Gruppe über das politisch Sagbare ist als Formation nicht mehr intakt, ein aus der Weimarer und NS-Zeit geronnenes Etikettenbuch der politischen Do’s and Don’t’s hat an Verbindlichkeit erheblich eingebüßt. Der „Hindenburg-Komplex“, d.h. die ehemals konsensuale Überzeugung, ein starker Präsident habe zum Untergang der Weimarer Republik beigetragen und sei daher um jeden Preis zu verhindern, existiert nur noch in Rudimenten.
Im ausdrücklichen Wohlwollen, das Köhler parteiübergreifend entgegenschlägt, äußert sich aber mehr als nur schlecht memorierte Gemeinschaftskundestunden und eine Amnesie der Lordsiegelbewahrer des Grundgesetzes. Mit Köhlers Vorstößen verbinden sich sehr konkrete Hoffnungen, die immer auf Krisensymptome verweisen. An erster Stelle ist die gefühlte und tatsächliche politische Handlungsblockade anzusprechen. Diese umfasst nicht nur den oft kritisierten Stillstand zwischen Bundesrat und Bundestag. Hierzu gehört auch die bundesrepublikanische Normalität einer Koalitionsregierung aus zwei, nimmt man die CSU hinzu oftmals sogar drei Parteien mit jeweils eigener Programmatik und eigenen Klientelinteressen, die ein ‚Durchregieren’ wünschbar aber selten realisierbar werden lässt. Schließlich, das suggeriert zumindest der Blick nach England, wirkt sich auch das deutsche Modell der Volkspartei mit seiner enormen Spannbreite unterschiedlicher Positionen entscheidungshemmend aus.
Lange Zeit galt diese deutsche Ausprägung von ‚Checks and Balances’ als Stabilitätsmerkmal und Sicherung marginaler Positionen. Angesichts der scheinbaren Unfähigkeit von Regierungen jedweder Zusammensetzung, auf Problemlagen nicht einmal angemessen, sondern überhaupt zu reagieren, hat sich dies allerdings radikal geändert. Bereits die auffällige Auslagerung politischer Entscheidungen nach Karlsruhe muss als Symptom einer politischen Skleroseerscheinung verstanden werden, sie wird allerdings mangels medialer Darstellbarkeit kaum wahrgenommen. Die zweite tektonische Verschiebung im Gefüge der Verfassungsorgane, der Bedeutungszuwachs des Bundespräsidenten, beruht hingegen maßgeblich auf Medienmechanismen. In der Gegenüberstellung eines vermeintlich klar definierten Reformberges und einer sich selbst blockierenden politischen Kaste, muss sich die Aufmerksamkeit notwendig auf den letzten freien Spieler im Verfassungsgefüge richten. Dabei rückt nicht nur ein Amt in den Blickpunkt, das bisher im Schatten sichtbarerer Institutionen stand, sondern auch der unbekannte Amtsinhaber, der, ein Novum, bisher kein politisches Amt bekleidete. Angebot und Nachfrage fallen zusammen.

Der Kaiser als Kommu­ni­kator

Wenn sich, wie beschrieben, die Bedeutung der Staatsspitze verschiebt, dann lohnt es sich, den Blick auf die historischen Prägungen des Amtes zu richten. Als oberster Repräsentant des Staates hat der Bundespräsident die Stellung eines Monarchen. Staatsrechtlich, dies wird selten gesehen, ähnelt die Bundesrepublik in erstaunlichem Maße dem Kaiserreich. Auffällig ist insbesondere die Gegenüberstellung des Parlaments und des Bundesrates, letzterer damals wie heute nicht repräsentativ besetzt, sondern durch die Regierungen der Länder. Der wesentliche Unterschied ist, dass seinerzeit der Kanzler nicht durch die Mehrheit des Parlaments gewählt, sondern vom Kaiser – dem ‚Präsidium des Bundes’ – ernannt wurde. Die institutionelle Struktur der vier entscheidenden Staatsorgane – Parlament, Länderkammer, Regierung, Präsident respektive Monarch – hingegen ist identisch.
Auffällig ist nun, dass der Kaiser zwar durchaus seine Prärogativen in der Personalpolitik zu nutzen verstand, dass er aber seine charismatische Kraft gerade aus der Erwartung zog, er könne das institutionellen Patt auflösen. Der Kaiser lebte in weit stärkerem Maße politisch von seiner auctoritas als von der potestas, der insbesondere auf Reichsebene enge Grenzen gezogen waren. Die Erwartungen auch der Parteien richteten sich auf integrierende politischer Zielsetzungen aus der ‚Zentrale’. Nach der bleiernden Lähmung der letzten Bismarck-Jahre startete 1890 der ‚Neue Kurs’ mit dem Kaiser als Verkünder diverser Reformprogramme von der Schule bis in die Sozialgesetzgebung. Die Ergebnisse waren ernüchternd, die Erwartungen an Wilhelm II. blieben hingegen lange intakt. Ursächlich hierfür war zum einen ein öffentlicher Dauerdruck in Richtung weiterer Reformen, der nahezu immer den Kaiser als ersten Adressaten hatte, zum anderen – und hiermit eng zusammenhängend – eine ungemein suggestive und weit verbreitete Vorstellung vom Kaiser als Kommunikator, der jenseits des Parlaments die politischen Ziele benennt und zur Bündelung der Diskussion derselben in der Lage sein soll. „Was der Kaiser spricht, das bleibt nicht verborgen, und es soll auch nicht verborgen bleiben, denn im letzten Grunde hat das Volk ein Anrecht darauf, zu hören, was sein Kaiser sagt“, forderte der rechte Kaiserkritiker Paul Liman.
Die „Redewut“ Wilhelms II. entsprang keineswegs nur einem Spleen des Kaisers. Vielmehr entsprach sie den Erfordernissen einer kommunikativ mobilisierten Gesellschaft. Arnold Berger brachte diesen Zusammenhang 1913 affirmativ auf den Punkt. Der „neue Typus des Kaisertums “ sei geschichtlich notwendig, weil nur so der Kaiser sein Volk unmittelbar für die neuen Ziele begeistern könne, die er „als persönlicher Träger der Reichsidee und ihrer Zukunftshoffnungen […] auf unermüdlichen Reisen zu Lande und zu Wasser wie als Redner großen Stiles bei allen erdenklichen Anlässen verkündet“. Die Kaiserreden waren nicht deshalb so wichtig weil sie rhetorisch brillant waren, sondern weil ein extrem herausgehobener Politiker in der medialen Kakophonie einen alles andere überlagernden Grundton herzustellen vermochte. Wilhelm II. war weniger aktiver Entscheider als vielmehr Anker der großen politischen Diskussionen. Das war das Neue, das Innovative und das langfristig Gefährliche am wilhelminischen Kaisertum. Denn das redende Staatsoberhaupt leistete für die Wilhelminer zweierlei:
Erstens lieferte der Kaiser in verdichteter Form politische Vorgaben, die anschließend durch die nunmehr massenhaft verbreiteten Medien aufgenommen, diskutiert und ‚als öffentliche Meinung’ an den Monarchen rückvermittelt werden konnten. Diese Innovation fand bis weit in das linksliberale Spektrum hinein Zustimmung als effektives und genuin modernes politisches Verständigungsmittel in einem komplexen Industriestaat.
Zweitens, und dies war langfristig folgenreich, bot das Modell den suggestiven Vorteil, das Parlament als politischen Ort in den Hintergrund zu drängen. Der Parlamentarismus, ohnehin als englisch und fremd negativ konnotiert, erschien im Vergleich mit den neuen Möglichkeiten als langsames, umständliches Instrument des 18. Jahrhunderts und im Dienste partikularer Interessen stehend. Selbstverständlich gab es Gegenstimmen und Anhänger des Parlamentarismus. In der Mehrheit befanden sich diese allerdings nicht. Und es war sehr klugen Kritikern – Theodor Wolff vom ‚Berliner Tageblatt’ oder August Stein von der ‚Frankfurter Zeitung’ – vorbehalten, die Hoffnung auf den gut informierten Monarchen, der die richtigen Lösungen präsentieren werde, als das zu decouvrieren, was sie letztendlich war: Ein im Kern naiver Glaube an die schlichte Lösung komplexer Probleme. Dabei war diese Lösung nicht zuletzt geeignet, das überstrapazierte Amt des Monarchen zu beschädigen.
Der historische Rekurs ist mehr als ein Gedankenspiel und schärft den Blick auf die Präsidentschaft Köhlers in dreierlei Hinsicht: Erstens wird daran erinnert, dass der Bundespräsident als politisches Organ in einer Tradition steht, die weit hinter das Grundgesetz, aber auch den Weimarer Reichspräsidenten zurückgeht. Zweitens zeigt das Beispiel der politischen Kommunikation über den Monarchen, in welch starkem Maße eine im Kern ähnlich strukturierte Neupositionierung des Bundespräsidentenamtes vordemokratisch, vor allem nicht parlamentarisch gedacht ist. Schließlich werden die Sackgassen sichtbar, in denen sich ein solch unter komplexes Modell festzulaufen droht.

Warum Köhler scheitert

Wenn also in einer Abwägung der Chancen und Risiken der Neupositionierung des Bundespräsidentenamtes hier die Risiken weitaus stärker betont werden, dann nicht deshalb, weil ein politisch stärkerer Präsident Weimarer Verhältnisse heraufbeschwört. Auch die von der Linken beklagte Parteilichkeit des Präsidenten erscheint eher als vorübergehendes und nicht genuin neues, denn als wirklich gravierendes Problem. Irritierend ist vielmehr die mit erheblichem Einsatz und vielen Erwartungen verfolgte Umdefinition des Präsidenten zum ‚diskursiven Reformmotor’. Insbesondere zwei dieser Umdefinition zugrunde liegenden Annahmen fallen hier ins Gewicht:
Erstens: Davon, dass der Bundespräsident bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirkt, ist im Grundgesetz nichts zu lesen. Dass der Präsident besser als andere in der Lage sei, eine Synthese des bereits Gewussten zu leisten, bleibt eine merkwürdige Vorstellung. Es ist ja nicht so, dass die Probleme nicht bekannt sind. Über die Höhe der Staatsverschuldung besteht ebenso Konsens wie über die Gefährdung, die hiervon ausgeht. Auch über die Notwendigkeit von Reformen im Bereich der Gesundheit und der Rente wird Köhler niemanden belehren müssen. Auf dem Markt der Meinungen halten ausreichend Akteure ihr Angebot feil und gerade im Themenfeld Wirtschaftsreform hat sich eine ganze Phalanx neuer Stichwortgeber nach dem Muster der Initiative ‚Neue Soziale Marktwirtschaft’ etabliert.
Zweitens: Selbst wenn Konsens erzielt wird, muss er durch die Parteien umgesetzt werden. Die Parteien müssen daher schon selbst herausfinden, was sie wollen und für gut für das Land halten. Entsprechend müssen auch die Erwartungen an die politischen Eliten justiert werden. Es geht darum, kluge und das heißt in diesem Fall immer auch mehrheitsfähige und durchsetzbare Lösungen zu entwickeln. Um diese Notwendigkeit wird Politik nicht herumkommen und diese Lösungen wird auch ein Wirtschaftsfachmann als Bundespräsident nicht aus der Schublade zaubern. Blaupausen im IWF-Stil fruchten erfahrungsgemäß selbst in Volkswirtschaften wenig, die weniger komplex sind als die Mischung aus rheinischem Kapitalismus, Restelementen des sächsisch-brandenburgischen Sozialismus, bayrischem Merkantilismus und einem publizistisch überaus lebhaften Neoliberalismus.

 1   Signifikanterweise lässt sich ähnliches auch für die Gegenkandidatin Gesine Schwan beobachten. Schwan vermochte die „kulturelle Macht des Amtes des Bundespräsidenten“ bereits zu nutzen, als sie für dieses kandidierte. Schwans Kandidatur fand weit über die rot-grüne Koalition hinaus Anerkennung und sie nimmt auch heute noch als ‚Exkandidatin’ eine wichtige Funktion als Debatteninitiatorin ein. Vgl. Gesine von Deutschland. Ein Jahr nach der Niederlage: Die Viadrina – Chefin gefragter denn je. FAS, 10.7.05,  S. 8.
 2   Auch hierfür ist noch immer Barings einschlägige Forderung aus dem fulminanten Aufsatz „Bürger, auf die Barrikaden!“, der Präsident solle wie in Weimar zu Notverordnungen greifen, das Maß aller Dinge.

Literatur

Elisabeth Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871-1918, München/Wien 1969.
Horst Köhler‚ Offen will ich sein – und notfalls unbequem’. Ein Gespräch mit Hugo Müller-Vogg, Hamburg 2004.
Martin Kohlrausch, Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie, Berlin 2005.
Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999.
Günter Scholz/Martin E. Süsskind, Die Bundespräsidenten. Von Theodor Heuss bis Horst Köhler, München 2004.

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