Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 173: Religion und moderne Gesellschaft

Luhmanns Mond

Ist Säkularisierung ein historischer Prozess?*,

aus: vorgänge Nr. 173 (Heft 1/2006), S. 30-39

Dass die moderne Gesellschaft säkularisiert sei, galt lange als Gemeinplatz. Eine erste große sozialwissenschaftliche Debatte zu diesem Thema fand in den 1960er und 1970er Jahren statt; heute, so wird konstatiert, läuft die zweite Debatte (Caroll 2002). Sie ist durch den Verlust alter Gewissheiten gekennzeichnet: zum Beispiel darüber, ob Europa, Amerika oder der Rest der Welt die Norm oder allesamt Sonderfälle darstellen, oder ob der islamische Fundamentalismus die Verknüpfung von Moderne und Säkularität eher bestätige oder eher in Frage stelle. Auch dort, wo von den Wertfundamenten der westlichen Welt die Rede ist, diagnostizieren selbst entschiedene Modernisten die „unabgeschlossene Dialektik des eigenen, abendländischen Säkularisierungsprozesses“ (Habermas 2001: 11).   
 Doch trotz der Skepsis gegenüber linearen Großerzählungen bildet die Säkularisierung gemeinsam mit Demokratie und Marktwirtschaft nach wie vor einen Grundpfeiler zwar nicht unseres nur unvollständig laizistischen Gemeinwesens – aber doch des Selbstverständnisses weiter Teile unserer Gesellschaft. Säkularisierung scheint, bei allem Zweifel über den religiösen Zustand der Gesellschaft, doch einer der grundlegenden historischen Prozesse zu sein, die auf unsere Gegenwart hinführen. Umso auffälliger ist es, dass die historische Forschung gerade zur Frühen Neuzeit zwischen 1500 und 1800 – also mutmaßlich der Epoche, in der der Säkularisierungsprozess entscheidend in Gang gekommen ist – sich mit der Benutzung des Säkularisierungskonzeptes eher zurückgehalten hat. Bemerkenswert ist die relative Zurückhaltung von Historikern, sich auf den Begriff ernsthaft einzulassen und ihn als analytische Kategorie zu füllen – statt ihn als längere Untersuchungen nur abkürzende, „weithin irreführende Grobanalyse“ zu gebrauchen (Lutz 1975:180). Zugespitzt kann man formulieren: Säkularisierung ist bisher vor allem konstatiert und postuliert, kaum aber historisch untersucht worden. Das aber kann für die gegenwärtige Debatte um die Rolle der Religion in der Gesellschaft nur von Nachteil sein.
Dieses verallgemeinernde Fazit von über hundert Jahren Säkularisierungsdiskussion in Soziologie, Philosophie und den historischen Fächern ist natürlich insofern ungerecht, als im Kernbereich von Rechts- und Politikgeschichte durchaus Säkularisierungsforschung (und nicht einfach nur -etikettierung) betrieben worden ist. Die Entwicklung weltlicher Politik, aber auch die politische und rechtliche Einhegung der konfessionellen Machtgelüste etwa im Augsburger Religionsfrieden von 1555 oder im Westfälischen Frieden von 1648 bildet seit langem einen Topos der Frühneuzeitforschung (Stolleis 1993; Schulze 1999). Und dennoch sind große Teile des Säkularisierungsprozesses als eines großangelegten Weltbildwandels bisher nicht eingehend historisch untersucht worden. Es wird eher angenommen als gezeigt, dass die religiöse Überhitzung der frühneuzeitlichen Religionskriege in eine Distanz gegenüber der politischen Nutzung der Religion ‚umgeschlagen‘ sei, dass die Konfessionskirchen sich ‚kompromittiert‘ oder die konfessionellen Antagonismen sich ‚erschöpft‘ hätten (Lutz 1975:171). All dies ist ganz und gar nicht unplausibel, bisher aber unzureichend erforscht. Umso mehr gilt dieser Befund, wenn man sich von politik- und rechtsgeschichtlichen Fragen weg hin zu sozial- und kulturgeschichtlichen Themen bewegt. Dass etwa die Aufklärung, über deren sozialgeschichtliche Reichweite man durchaus skeptisch sein darf, wie ein Wunder ein säkulares Weltverhältnis hervorgebracht habe, dürfte kaum mehr sein als ein Klischee. Es verhält sich also mit der Frage, ob Säkularisierung ein historischer Prozess sei, nicht so einfach, wie es scheinen mag. Die Säkularisierungsdebatte ist bislang meist zu abstrakt und zu allgemein geführt worden, um historische Untersuchungen anleiten zu können.
Im folgenden soll an einigen Forschungsfeldern aus dem Bereich der Geschichtsphilosophie und der Religionssoziologie knapp beleuchtet werden, wie dort der Begriff der Säkularisierung verstanden wird. Daran anschließend möchte ich wenige Beispiele aus der Säkularisierungsforschung zur Frühen Neuzeit umreißen. Abschließend formuliere ich die These, dass ein kultur-, wahrnehmungs- und deutungsgeschichtlicher Ansatz, der Säkularisierung als Phänomen von ‚Repräsentation‘ versteht, die besten Chancen hat, das historische Forschungsfeld der Säkularisierung fruchtbarer zu bestellen, als dies bisher geschehen ist.

Säkula­ri­sie­rung als ideen­po­li­ti­scher Begriff und als historische      Analy­se­ka­te­gorie

Charakteristischerweise sind wohl mindestens so viele Studien zu Gebrauch und Funktion des Säkularisierungsbegriffs und -theorems im 19. und 20. Jahrhundert verfasst worden (z.B. Lübbe 1975; Ruh 1980; Tschannen 1992; Marramao 1996; Monod 2002) wie historische Studien zum Phänomen selbst. Diese Metadiskussion beruht auf der Hoffnung, ein heterogenes Feld von Theorie und Empirie in einen Begriff zu pressen, und durch diesen Begriff brennglasartig philosophische und politische Debatten der Moderne zu bündeln. In diesem Sinne war er oft weniger eine heuristische Kategorie der historischen Forschung als eine instrumentell eingesetzte Standortbestimmung: „Gewisse Begriffe“ – so zum Beispiel jener der Säkularisierung – seien „weniger durch ihre wirklichkeitsaufschließende Kraft als durch die Provokation zur ideenpolitischen Frontenbildung“, bedeutsam (Lübbe 1975: 22). Doch ist der Begriff darüber hinaus als historischer Analysebegriff überhaupt zu gebrauchen – oder verliert sich sein Sinn hinter seinen ideologischen Überformungen? Offenbar gehört die Kritik an seiner Unbrauchbarkeit zur Geschichte des Theorems. Seine semantische Vielfalt beschwört zu Recht die Frage herauf: „Geht es um Entdogmatisierung, Entkonfessionalisierung, Entkirchlichung, Entchristlichung, Verweltlichung, Transzendenzverlust oder um das Ende von Religion überhaupt?“ (Barth 1998: 619) Insofern finden sich in der Literatur eine Reihe von Versuchen, die semantische Vielfalt des Konzepts zu zähmen (Shiner 1967, Pott 2002: 3ff.)
Vielleicht kann man karikierend definieren: Säkularisierung beschreibt den Eindruck, dass Religion (was immer das genau ist) in der Moderne (wodurch immer diese konstituiert wird) eine weniger gewichtige Rolle spielt als in der Vormoderne (was immer das im einzelnen heißt). Darüber hinaus steht der Begriff aber zuweilen nicht einfach für einen Schwund von Religion, sondern für eine Transformation religiöser in nichtreligiöse Gehalte. Die erste Variante entstammt der aufgeklärten Religionskritik und teilt mit ihr die Prämisse, dass die ‚Weltlichkeit‘ sich gegen die Religion hat durchsetzen müssen. Säkularisierung arbeitet aus dieser Sicht also gegen Religion und zielt auf ihre Abschaffung oder doch Begrenzung. Die zweite Variante, die vor allem in Deutschland bestimmend gewesen ist, reicht mindestens von Hegel bis Weber: Säkularisierung, so diese Denkrichtung, vollzog sich nicht nur gegen, sondern mindestens teilweise auch durch Religion, durch in der christlichen Religion oder ihren konfessionellen Ausprägungen selbst angelegte Motive. Das Christentum selbst sei bereits in uneindeutiger Weise auf Weltlichkeit hin orientiert. Damit lässt Säkularisierung originär christliche Gehalte und Intentionen nicht wegbrechen, sondern transformiert sie in einer Weise, die sie als unintendierten Nebeneffekt christlicher Religiosität oder sogar als Telos des Christentums selbst erscheinen lässt.

Säkula­ri­sie­rung als Religi­ons­schwund und Funkti­onss­pe­zi­fi­ka­tion

Die religionssoziologische Diskussion des Säkularisierungsprozesses ist so alt wie die Disziplin selber. Implizit oder explizit hingen alle Gründerväter der Soziologie der Auffassung an, Säkularisierung sei ein wesentliches Signum der Moderne. Diese Auffassung bildete geradezu ein Glaubensbekenntnis der Soziologie; schon dieser Umstand verhinderte eine eingehende empirische Untersuchung, ob ein Rückgang von Religion (bis hin zu ihrem Verschwinden) überhaupt nachweisbar sei. Die ältere Forschung benutzte den Begriff vor allem zur Erklärung des Übergangs von der Vormoderne in die Moderne. In diesem Kontext stieg der Begriff „mit der Zeit in den Rang einer genealogischen Kategorie auf, die die historische Entwicklung der modernen westlichen Gesellschaft von ihren jüdisch-christlichen Anfängen an zusammenfassen und bezeichnen soll.“ (Marramao 1996: 19) Die jüngere Forschung dagegen ist entschieden vorsichtiger mit historischen Erklärungen, die mehrere Jahrhunderte umspannen. Doch was dem Begriff empirisch entspricht, ist heute nicht klarer als vor hundert Jahren: „Stellt man die Frage nach der Faktizität der Säkularisierung als Prozess, so muss das Ergebnis, das eine Durchsicht der religionssoziologischen Literatur bietet, unbefriedigend bleiben.“ (Kehrer 1988: 178)
In der Regel wird die Säkularisierungsthematik von Religionssoziologen in differenzierungstheoretischen Großentwürfen moderner Gesellschaftsentwicklung angesiedelt. Viele Soziologen sehen ein, wenn nicht das Spezifikum der modernen Gesellschaft in der funktionalen Differenzierung: Die verschiedenen Teilbereiche der Gesellschaft erfüllen jeweils ganz eigene, nur von ihnen selbst zu leistende Funktionen; sie gewinnen damit eine gewisse Autonomie gegenüber den Ansprüchen anderer Teilbereiche. Kein funktionaler Gesellschaftsbereich kann sich damit anmaßen, andere Gesellschaftsbereiche bis in Inhalte und Strukturen ihres Funktionierens zu dominieren. Für die Religion bedeutet dies: Auch sie ist im Prozess der Herausbildung der Moderne ein gesellschaftlicher Funktionsbereich unter anderen geworden, der weder die Legitimation noch die Mittel hat, gesamtgesellschaftlich Einfluss zu nehmen (Luhmann 1996). In der Moderne verliert die Religion ihre Fähigkeit, die Gesellschaft als ganze zu integrieren (Hahn 1997). „Die Akzeptanz religiöser Vorstellungen und Praktiken“ besitzt kaum noch „Relevanz für den Zugang zu anderen Gesellschaftsbereichen“ (Pollack 2003:13). Im Umkehrschluss bedeutet dies aber, dass die Religion sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren kann: Sie muss nicht mehr auch Politik, Wirtschaft und Erziehung sein, sondern ‚nur noch‘ Religion. Das bedeutet einen Bedeutungsverlust, aber vor allem eine Funktionsspezifizierung. Die funktionale Differenzierung und die ihr entsprechenden gesellschaftlichen Rollen implizieren aber nicht zwangsläufig, dass die persönliche Frömmigkeit abgenommen habe (Casanova 1994:16).
Nun tut sich gerade das Religionssystem besonders schwer mit funktionaler Differenzierung – weil Religion einen Absolutheitsanspruch formuliert. Insofern ist Säkularisierung nicht nur ein Begriff, mit dem Sozialwissenschaftler die Gesellschaft als ganze beschreiben, sondern auch ein Terminus, mit dem das Religionssystem selbst seine Umwelt bezeichnet: „Als Leitbegriff für erfahrene Nichtübereinstimmung“ bildet Säkularisierung damit einen Nachfolgebegriff der Sünde (Luhmann 1996: 228).
Schon in Max Webers Werk ist das Problem der Säkularisierung als Religionsschwund in den Horizont einer Differenzierungstheorie gestellt. Weber ist davon überzeugt, dass der Religion im Prozess der okzidentalen Rationalisierung eine abnehmende Bedeutung zukommt; die Moderne ist für Weber vollends entzaubert. Daneben formuliert Weber aber auch die These einer von Religion selbst induzierten „Entzauberung der Welt“: Religion in ihrer jüdisch-christlichen Form habe sich seit den alttestamentarischen Propheten fortschreitend selbst rationalisiert. Die Reformation und die protestantische innerweltliche Askese erscheinen als Höhepunkte dieser Entwicklung. Religion hat in ihrer historischen Entwicklung nicht nur – durch Entzauberung – zu ihrem eigenen Bedeutungsverlust beigetragen, sondern sie hat auch Werthaltungen und Lebensführungsprogramme hervorgebracht, die sich allmählich aus ihrem religiösen Kontext gelöst haben. Damit habe sich das Christentum „sein eigenes Grab geschaufelt“ (Berger 1973: 123). Oder, um es weniger dramatisch auszudrücken: Das Christentum ist gar nicht verschwunden – es hat sich nur transformiert.

Säkula­ri­sie­rung als Trans­for­ma­tion

Mit der Transformationsthese hat sich v.a. eine in der Philosophie geführte Diskussion befasst. Sie geht von der Idee aus, dass das Christentum eine unabdingbare historisch-genetische Voraussetzung der modernen säkularen Welt und ihrer Kultur ist. Paradigmatisch für diesen Begriffsgebrauch stehen Carl Schmitt und Karl Löwith. Schmitt ist der Ansicht, die wichtigen staatsrechtlichen Begriffe seien „säkularisierte theologische Begriffe“ (Schmitt 1993: 41); Löwith meint, dass die moderne Geschichtsphilosophie und Fortschrittsidee eine säkularisierte Variante des jüdisch-christlichen, linearen und auf ein Ende hin orientierten Zeitverständnisses seien (Löwith 1990).
Die heftigste Kritik an der Säkularisierungsthese Schmittscher und Löwithscher Färbung hat Hans Blumenberg unternommen. Die Grundformel des Transformationstheorems, so Blumenberg, sei die immer zutreffende, daher aber auch höchst banale Formel: „Undenkbar ohne“ (Blumenberg 1996: 39). Natürlich sei die Moderne ‚undenkbar ohne‘ das Christentum – aber impliziere diese Aussage bereits, dass etwa zentrale moderne Deutungsmuster – wie z.B. die Menschenrechte – säkularisierte christliche Deutungsmuster seien? Wie kann man empirisch aufweisen, dass ein Phänomen nicht nur ein anderes ersetzt, sondern das frühere tatsächlich aufgenommen und verändert hat? Dazu müsste man von ahistorischen Substanzen ausgehen, die zwar akzidentiell transformiert werden, in ihrem Kern oder ihrer Bedeutung aber identisch bleiben. Diese „substantialistische Säkularisierungsthese […] ist an den Nachweis der Genealogie gebunden; dieser Nachweis ist bislang ausgeblieben; statt dessen hat man sich mit den sattsam bekannten Strukturanalogien begnügt.“ (Jaeschke 1976: 43, 45)

Probleme histo­ri­scher Säkula­ri­sie­rungs­for­schung

Versucht man als Historiker, mit den Theorieangeboten etwa der Religionssoziologie oder der Philosophie zu operieren, drängen sich die Probleme geradezu auf: Die Nachbarfächer arbeiten häufig mit makrohistorischen Annahmen und Interpretationsrastern, die offenkundig zu grobmaschig sind für eine kleinteilige Quellenanalyse. Die These vom Religionsschwund, die grosso modo einiges für sich hat, müsste klarer spezifizieren, was überhaupt verschwunden ist; sie müsste Milieus, Diskurse und Praktiken nachweisen können, in denen Religion historisch belegbar zur quantité négligéable wurde. Analoges gilt für die Transformationsthese: Sie müsste über geistesgeschichtliche Strukturanalogien zwischen christlichen und postchristlichen Phänomenen hinaus auch eine genetische Ableitungsbeziehung ausmachen und darüber hinaus historisch genau angeben können, wie, wann und durch wen sich diese Transformation vollzog – wer also Agenten der Säkularisierung waren, auf welche Widerstände sie stießen, wie schnell sich ihre Argumente verbreiteten. Ein weiteres Problem betrifft die Linearität der Säkularisierungsthese: Die Soziologie geht insgesamt weitgehend von einer klaren, linearen und ungebrochenen Entwicklung aus. Offenbar ist aber der Säkularisierungsprozess v.a. dann, wenn er als Weltbildwandel aufgefasst wird, verschlungener und widersprüchlicher, als makrosoziologische Thesen glauben machen wollen. Hartmut Lehmann hat deshalb vorgeschlagen, den Begriff der Säkularisierung wenn nicht aufzugeben, so ihm doch andere Begriffe wie „Dechristianisierung“ und v.a. „Rechristianisierung“ an die Seite zu stellen, die der größeren historischen Variabilität von Sakralisierungs- und Säkularisierungsbewegungen Rechnung tragen (Lehmann 1997).
Aus der Sicht des Frühneuzeithistorikers fällt an der Debatte überdies auf, dass zwei Dinge erstaunlich evident zu sein scheinen: erstens, worin Religion in der Vormoderne bestand und zweitens, dass in einem viel höheren Maße als heute von homogener Christlichkeit auszugehen sei – obwohl beides in der neueren historischen Forschung rege diskutiert wird (Engels/von Thiessen 2001). Aus der Sicht der Frühneuzeitforschung ist z.B. in Frage zu stellen, ob die moderne „hybridité religieuse“ tatsächlich ein „caractéristique principale de la modernité“ (Piette 1994: 578) – und nicht auch schon der Vormoderne – ist. Die Anmerkung Trutz Rendtorffs, die Soziologie überschätze vielleicht die Religiosität vormoderner Gesellschaften, und man wisse empirisch einfach zu wenig über subjektive Haltungen zu Kirche und Religion etwa im 16. und 17. Jahrhundert (Rendtorff 1975: 12), muss bei Frühneuzeithistorikern auf offene Ohren stoßen.
Historisch gesättigte Korrekturen an den Großkonstruktionen der Soziologen und Philosophen sind also unabdingbar, wenn die Säkularisierungsdebatte ernsthaft zur Frage nach der Faktizität dieses Prozesses wie seiner Modalitäten vorstoßen will. Dies gilt umso mehr, als in der Diskussion häufig ganz unklar gelassen wird, in welchem Jahrhundert, im Zusammenhang mit welchen Ereignissen, Prozessen und Handelnden der Säkularisierungsprozess seinen Ausgang genommen hat. Wer sind die Kandidaten, die für Säkularisierung verantwortlich sein könnten? Die Webersche Tradition verortet Säkularisierungsimpulse vor allem in Reformation und Protestantismus. Nun wird in der neueren historisch-religionssoziologischen Diskussion niemand mehr eine ungebrochene Linie zwischen Reformation und moderner Welt, zwischen Reformation und Säkularisierung ziehen wollen; wo dies getan wird, geschieht es mit der gebotenen Differenzierung (van Dülmen 1989). Auch die Aufklärung, ein weiterer Kandidat als Impulsgeber der Säkularisierung, wird in den letzten Jahren als eine zu weiten Teile religiös unterwanderte, von esoterischen Denkmustern durchzogene Bewegung rekonstruiert (Neugebauer-Wölk 2000). Die wissenschaftliche Revolution als säkularer Aufbruch in die Neuzeit wird in der Forschung zu einem erheblichen Teil als religiös inspiriert und begründet gesehen (Ferngren et al. 2000). Auch zeigt die jüngere Forschung zum 19. Jahrhundert die wiederkehrende oder nachhaltige Prägung von konfessionellen Identitäten (Kretschmann/Pahl 2003). Je genauer also die europäische Frühneuzeit erforscht wird, umso weniger ‚säkular‘ erscheint sie. Wo sollen Historiker ansetzen, die auf der Suche nach Indizien für einen großdimensionierten Weltbildwandel namens Säkularisierung sind?
Mit aller Vorsicht lässt sich behaupten, dass bereits ab dem 16. Jahrhundert Prozesse der Autonomisierung gesellschaftlicher Teilbereiche ihren Ausgang nahmen, die ein allmähliches, immer wieder auch bestrittenes Freiwerden sozialen Handelns aus einem religiösen Deutungshorizont ermöglichten. Allerdings, und dies zeigen die zitierten Beispiele, steht der Säkularisierungsprozess offenbar in einem engen und intrikaten Verhältnis mit Prozessen der Sakralisierung und Konfessionalisierung. Die konfessionelle Formierung der europäischen Gesellschaften im 16. und 17. Jahrhundert hat – im Katholizismus ebenso wie im Protestantismus – als meist unbeabsichtigten Nebeneffekt eine Rationalisierung der Lebensführung und des Denkens mit sich gebracht, die langfristig zu einer Säkularisierungsbewegung anwuchs. Säkularisierung steht damit in einem komplexen und dialektischen Verhältnis zur Konfessionalisierung und folgt ihr nicht einfach zeitlich nach. Vielmehr hat man von einem schrittweisen und widerspruchsvollen Herauswachsen der Säkularisierung aus der religiösen Formierung der europäischen Gesellschaften auszugehen (Schilling 1998). Erst vor diesem Hintergrund werden die Momente der Fragmentierung und Privatisierung von Religion (von Greyerz 2000), aber auch das komplizierte und spannungsreiche Verhältnis von gesellschaftlicher Differenzierung und Entdifferenzierung verständlich. Statt also von einem linearen und intentionalen Säkularisierungsprozess auszugehen, scheint es sinnvoller, den Blick auf spezifische historische Konstellationen zu richten, in denen aus religiösen oder areligiösen Motiven Handlungen oder Haltungen entstanden, die zur Säkularisierung beitrugen. Nicht die ganz große Säkularisierung, sondern „Säkularisierungsmomente“ (Hamm 1992: 182) erscheinen historisch fassbar. Man wird nicht um die heuristische Hypothese eines langfristigen Säkularisierungsvorgangs herumkommen, muss diesen aber in kleinteilige Konstellationen zerlegen, um so zuallererst Bausteine für eine ‚große‘ Säkularisierungsentwicklung zu sammeln. Dies führt zu der Annahme ganz diverser Säkularisierungsvorgänge, die typologisch vom Kampf gegen Religion bis zur Transformation von Religion in ihre Säkularisate, von intentionaler zu unabsichtlicher Säkularisierung reicht (Pott 2002). Wenn es denn überhaupt einen Trend in der schmalen historischen Forschungsdebatte gibt, dann besteht er in der Hinwendung zum Detail – also zum klassischen Historikergeschäft: Man muss „die ganz großen Fragen der Säkularisierungsdiskussion […] miniaturisieren“ (Fischer/Senkel 2004: 10). Mir scheint, dass diese Miniaturisierung am einleuchtendsten gelingen kann, wenn Säkularisierung als Deutungsphänomen verstanden wird.

 
Säkularisierung als Deutungsphänomen

Säkularisierung, so zeigen historische Studien, geht nicht in einer gesellschaftsstrukturellen Veränderung der Rolle der Religion auf, sondern betrifft auch die Ebene des individuellen Glaubens, der umgeformt, vernachlässigt oder aufgegeben wird (Schlögl 1995). Es besteht also Bedarf für einen Terminus, der nicht nur verfassungsrechtliche oder gesellschaftsstrukturelle Prozesse, sondern langdauernde Veränderungen von mentalen Dispositionen und kulturellen Prägungen beschreibt. Denn offenbar ist ja, was immer der Begriff sonst meint, Säkularisierung zumindest auch als kulturelles Phänomen zu begreifen: Sie besteht „im Verlust des Interpretationsmonopols“ von Religion und Kirche (Marramao 1996: 13). Wenn auch die soziologische Diskussion gezeigt hat, dass der gesellschaftsstrukturelle Umbau hin zu einer funktional differenzierten Gesellschaft keine Abnahme der persönlichen Frömmigkeit der Menschen impliziert, ist doch die Unterstellung nicht von der Hand zu weisen, dass Religion heute nicht nur gesellschaftsstrukturell, sondern auch kulturell eine andere Rolle spielt als in der Vormoderne. Nun ist ‚Glauben‘ genau wie die sich von ihm abkehrende „Mentalität der Weltzuwendung“ (Lutz 1975: 179) empirisch schwer fassbar – wenn man nicht versucht, ihn in seinen Äußerungen, seinen Reflexionen und seinen sozialen Formationen zu identifizieren (Dilcher 2000). Aus der Sicht des Historikers, der sich auch dafür interessiert, wie Menschen ihre Welt gedeutet haben, reicht es nicht aus, die Veränderung der gesellschaftsstrukturellen Rolle der Religion zu konstatieren. Er möchte darüber hinaus wissen, welcher Weltbildwandel, welche Auseinandersetzungen um Christlichkeit und ihre Gegensätze, welche Deutungskämpfe diesen langfristigen Umbau begleitet haben. Es liegt also nahe, Säkularisierung als Phänomen von kollektiven Deutungen oder „Repräsentationen“ zu untersuchen (Chartier 1992). Dabei kann man von der Hypothese ausgehen, dass es sich bei der Säkularisierung um einen Vorgang handelt, der grundlegende kulturelle Deutungsmuster veränderte. Wenn Luhmann postuliert: „Wir wollen nicht von einer Säkularisierung des Mondes sprechen, wenn ihm bzw. ihr göttliche Qualitäten abgesprochen werden.“ (Luhmann 2000: 282) – dann stellt sich die Frage: warum eigentlich nicht? Man könnte sich eine Studie vorstellen, die die theologischen Überformungen, naturwissenschaftlichen Diskurse, magischen Praktiken der Deutung des Mondes (und ihre wechselseitigen Verschränkungen) herausarbeiten könnte. Genauso kann es für das Verständnis der Säkularisierung von Gewinn sein, sich die dialektische Verschränkung von sakraler Aura und weltlicher Politik bei europäischen Monarchen der Frühen Neuzeit anzusehen. Oder die Frage, warum um 1600 ein Großteil der Menschen in Europa an das baldige Weltende glaubte, während dies um 1750 nur noch Sektierer meinten. Oder die Deutungsveränderung von Wasser als sakralem Heilmittel hin zu einer medizinischen Größe. Oder die Frage danach, was Schüler des 17. Jahrhunderts in ihren Schulbüchern lasen und was die Bilder in ihren Büchern zeigten. Oder schließlich die Frage danach, ob ein Kirchenraum ein heiliger Ort ist, wenn er zur Lagerung von Bier benutzt wird und dort Streitigkeiten handgreiflich ausgetragen werden. [1]
All diese Beispiele verweisen auf Auseinandersetzungen um Weltbilder, auf die schrittweise und schmerzliche Ablösung eines Repräsentationssystems durch ein anderes. Sie können nur ausschnittweise zeigen, wie Säkularisierung verlief – dafür können sie es aber genauer, als dies makrosoziologische Verallgemeinerungen könnten. Um auf die im Titel gestellte Frage zurückzukommen: Ist Säkularisierung ein historischer Prozess? Im Ernst kann diese Frage nur rhetorisch gemeint sein. Aber wie sie genau vor sich ging – das harrt noch eingehender Untersuchung.
 
 * Der Aufsatz geht aus dem Projekt Religiöse und säkulare Repräsentationen im frühneuzeitlichen Europa unter der Leitung von Prof. Dr. Heinz Schilling im SFB 640 Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel an der Humboldt-Universität zu Berlin hervor.

1    Die Beispiele entsprechen den Untersuchungsfeldern des in der vorherigen Anmerkung genannten Forschungsprojekts. 
 

Literatur  

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Ferngren, Gary B. et al. (Hg.) 2000: The History of Science and Religion in the Western Tradition: An Encyclopedia, York/London
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