Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 173: Religion und moderne Gesellschaft

Religion in der Migration

Ein Blick auf das Einwanderungsland Deutschland,

aus: vorgänge Nr. 173 (Heft 1/2006), S. 54-62

Religion und Religiosität von Migranten sind in den letzten Jahren verstärkt in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückt. Die Türken als größte Migrantengruppe in Deutschland begegnen schon seit langem wegen ihrer muslimischen Religion besonderen Barrieren der Fremdheit in Deutschland. Diese Fremdheit liegt in den eigenen Gebräuchen und Glaubenssätzen begründet, was etwa zu Auseinandersetzungen über den Bau von Moscheen in Deutschland oder das Tragen des Kopftuches (Schador) durch türkisch-stämmige Lehrerinnen oder Erzieherinnen führt. Insofern sorgt die Einwanderung dafür, dass die Frage auftaucht, ob die Bundesrepublik eigentlich ein säkularer, ein laizistischer oder doch ein christlicher Staat ist. Die Fremdheit der Türken liegt aber auch im Auge des Betrachters: Türken werden wegen ihrer andersartigen Religion als besonders fremd wahrgenommen und begegnen deswegen besonderen Vorurteilen bis hin zur Diskriminierung.
Migration sorgt also für religiöse Differenzen. Dies gilt insbesondere, wenn die Migration – wie die Arbeitsmigration nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland – aus ländlichen, stark religiös geprägten Gegenden in eher säkulare Städte erfolgt. Die Migranten werden recht unvermittelt mit einem Umfeld konfrontiert, in dem Religion eine vergleichsweise geringe Rolle spielt. Paradoxerweise folgt auf die Migration jedoch oft eine Hinwendung zur Religion. In der Auseinandersetzung mit der eigenen Fremdheit in der Aufnahmegesellschaft gibt die Religion Halt und Orientierung. Und sie hilft eventuell, die Erfahrungen von kultureller Differenz und Diskriminierung umzudeuten. Die Hinwendung zur Religion mündet dann in eine Aufwertung des eigenen sozialen und kulturellen Standpunktes gegenüber ‚den Ungläubigen‘.
Ich möchte im Folgenden die Bedeutung von Religion für Migranten nachzeichnen. Dabei werden zunächst theoretisch die Konsequenzen von Migration für Religiosität ausgelotet. Danach wird die Religiosität verschiedener Migrantengruppen in Deutschland verglichen. Grundlage ist die quantitative Befragung von Jugendlichen italienischer, griechischer und türkischer Abstammung im Rahmen des DJI -Ausländersurvey von 1996/97. [1]

Religiosität als Faktor in der Migration: Theoretische Überlegungen

Religion verliert in der Moderne seine Funktion als alle sozialen Phänomene unterfütternde Deutungsfolie. Sie wird aus der Politik, aus dem Recht, aus der Moral weitgehend zurückgedrängt und wird mehr und mehr zu einer Angelegenheit der privaten Auseinandersetzung mit den Grenzen des eigenen Lebens (Berger 1969). Getreu den Annahmen der Modernisierungstheorie gilt deshalb: Mit zunehmender wirtschaftlicher Entwicklung und zunehmendem Bildungsstand der Bevölkerung nimmt die Bedeutung von Religion ab – im World Values Survey zeigen Befragte in ärmeren Ländern fast durchgehend eine stärkere Religiosität als solche in reicheren (Inglehart 1997: 70ff). Die Arbeitsmigration nach Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte in der Hauptsache aus Ländern und Gegenden, die nicht nur weniger industrialisiert waren, sondern in denen auch Religion und traditionelle Werte eine deutlich stärkere Rolle spielten. Doch damit nicht genug: Die Migranten brachten oft ihre eigene Religion mit. Das gilt in besonderem Maße für die überwiegend muslimischen Türken, aber auch für griechisch-orthodoxe Migranten. Sogar die Süditaliener brachten mit ihrer spezifischen Kombination aus katholischer Überzeugung, dem Glauben an Wunder und der Verehrung von Schutzheiligen und der Jungfrau Maria fremde religiöse Elemente nach Deutschland.
Wie klassische Forschungen aus den USA gezeigt haben, können religiöse Grenzlinien zwischen Migrantengruppen zum Teil über viele Generationen fortbestehen (Herberg 1955). Eine Vermischung im Sinne der Ideologie des Melting Pot findet demnach vor allem innerhalb der eigenen religiösen Gruppe statt. So zeigen etwa jüdische Gemeinden noch heute ein bemerkenswertes Maß an Abgrenzung auf der sozialen wie auf der kulturellen Ebene (Gans 1967). Ethnische Grenzen werden hier nicht auf der Basis territorialer Herkunft gezogen, sondern alleine aufgrund des Glaubensbekenntnisses. Religiöse Differenzen können also dafür sorgen, dass soziale Netzwerke getrennt bleiben – und auch dafür, dass bestimmte religiöse Gruppen über mehr Reichtum verfügen als andere. Deswegen lohnt der Blick darauf, unter welchen Bedingungen es zu einer Verstärkung oder zu einer Abschwächung von religiösen Differenzen kommt – wann die Religion zu einer alles Überformenden Identität stilisiert wird und wann ihr eher untergeordnete Bedeutung zukommt.
Religion ist ein Bestandteil der Herkunftskultur, die die Migranten aus ihrer alten Heimat mitbringen. Dadurch kommt es zu einem Import von religiösen Differenzen vor allem in städtische Industrie- und Dienstleistungszentren. Migration führt zu poly -religiösen Figurationen in Einwanderungsgebieten, vor allem in Großstädten. Im Sinne der Assimilationstheorie sorgt vor allem der Kontakt mit Deutschen dafür, dass Migranten mehr und mehr von ihrer alten kulturellen Prägung abstreifen (Park/Burgess 1969 [1921]: 736f.; Gordon 1964: 81). Insofern als es also in späteren Generationen von Migranten vermehrt zu Freundschaften oder sogar zu Ehen mit den Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft kommt, müssten religiöse Differenzen genau wie andere kulturelle Überzeugungen aus dem Herkunftskontext abnehmen. Dies scheint jedoch nicht durchgängig der Fall zu sein. Im Gegenteil nimmt die Bedeutung von Religion bei Migrantengruppen oft sogar zu. Dies ist für Deutschland bei buddhistischen Vietnamesen und hinduistischen Tamilen (Baumann 2000) nachgewiesen worden, aber auch bei muslimischen türkisch-stämmigen Jugendlichen (Heitmeyer et al. 1997).
Wie lässt sich diese Bedeutungszunahme von Religion in der Migration erklären? Religion ist allgemein ein Sinnsystem, das das individuelle Leben in einen übergeordneten Zusammenhang einordnet – ihm einen kohärenten ‚Sinn‘ gibt (Luhmann 2000). Religion fußt auf der Vorstellung, dass hinter manifesten Erscheinungen eine immanente Logik steht. Dabei hat Religion auch eine starke soziale Komponente: Der Bezug auf Religion ermöglicht die Legitimation von Regeln für sozialen Austausch. Religion ist damit in Sozialverbände eingewoben. Religiöse Differenzen können deshalb auch soziale Gruppen voneinander abgrenzen.
Diese allgemeinen Eigenschaften von Religion sind in zweierlei Hinsicht für Migrantengruppen relevant. Erstens sorgt Religion im Leben von Migranten für einen deutlichen biographischen Bruch und für ein Auseinanderfallen von eigener kultureller Prägung und sozialer Umwelt. Migranten machen damit eine fundamentale Erfahrung von Fremdheit – sie erleben ihre Umwelt als fremd und werden selbst als fremd behandelt (Hettlage-Varjas/Hettlage 1984: 361ff.). In dieser Situation müssen Migranten ein neues Selbstverständnis entwickeln, sich ihre Identität im Spannungsfeld zwischen der eigenen Herkunft und dem Aufnahmekontext neu definieren. Migranten haben also einen besonderen Bedarf an symbolischer Orientierung. Religion kann diese Orientierung geben, indem die eigenen Erfahrungen in einen größeren Sinnzusammenhang eingeordnet werden (Heitmeyer et al. 1997: 121ff.). Die Migrantenidentität wird auf diese Weise über den Bezug auf Religion neu formuliert. Religion gewinnt dann oft, aber nicht immer, an Bedeutung durch die Migration.
Der Bezug auf Religion erlaubt eine Aufwertung der eigenen Identität. Migranten werden oft im Aufnahmekontext nicht nur als ‚fremd‘ behandelt. Sie werden auch diskriminiert und nehmen eine sehr niedrige Position im Statusgefüge ein. Arbeitsmigranten erledigen meist wenig angesehene Arbeiten mit geringem Einkommen und werden auch im Alltag (etwa an der Arbeitsstelle, in Geschäften oder Kneipen) oft nicht als gleichwertig behandelt. Diese materielle und symbolische Niedrigstellung kann mit dem Bezug auf Religion kompensiert werden. Religion erlaubt es, durch den Bezug auf eine immanente religiöse Ordnung die eigene Identität positiv zu bewerten. Dies tun etwa die von Andreas Wimmer untersuchten türkischen Migranten in der Schweiz. Diese sehen den Bezug auf Religion als positiv und grenzen sich (und auch die religiösen und ordnungsliebenden Schweizer) damit symbolisch von den ‚Ungläubigen‘ ab (2002: 12ff.).
Religion kann damit zweitens zu einem Bestandteil einer ethnischen Abgrenzung werden – und diese ethnische Abgrenzung erschwert auch den Kontakt zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen. Auf diese Weise bleiben soziale Netzwerke von Migranten und Alteingesessenen voneinander getrennt, anstatt sich langsam miteinander zu verweben. Nicht zufällig zeigen denn auch diejenigen Migranten, die am stärksten traditionell und religiös geprägt sind und den stärksten Bezug zu ihrer alten Heimat pflegen, die wenigsten Freundschaften mit Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft (Fuhse 2005). Religiöse Differenz und soziale Abschottung bedingen sich dann gegenseitig – anstatt dass im Sinne der Assimilationstheorie einseitig die Übernahme kultureller Formen auf die soziale Eingliederung in informale Netzwerke folgt.
Religion wird also auf vier Weisen in der Migration relevant:

1. Migration sorgt für poly -religiöse Figurationen vor allem in Großstädten.
2. Durch den sozio -kulturellen Kontakt mit anderen Religionen (sowohl bei Einheimischen als auch bei Zugewanderten) wird die eigene Religiosität zumindest teilweise in Frage gestellt.
3. Der biographische Bruch durch die Migration und die Erfahrung von Fremdheit sorgen in besonderem Maß für ein Bedürfnis nach symbolischer Orientierung. Deswegen kann es zu einer Hinwendung zur Religion kommen.
4. Religion erlaubt eine Aufwertung der Identität als Migrant. Durch den Bezug auf Religion können sich ethnische Gruppen voneinander abgrenzen und so ihre soziale Trennung verstärken.

Religi­o­sität von jugend­li­chen Migranten in Deutschland

Im Folgenden sollen die theoretischen Überlegungen auf die Situation im Einwanderungsland Deutschland bezogen werden. Dabei soll auch ein Vergleich der Religiosität bei verschiedenen Migrantengruppen in Deutschland anhand von Daten aus dem DJI -Ausländersurvey von 1996/97 gezogen werden.
Anfang des 21. Jahrhunderts leben über 7 Millionen ausländische Staatsangehörige in Deutschland. Die größte Gruppe bilden die Türken mit 1,88 Millionen bzw. einem Viertel aller ausländischen Mitbürger. Es folgen die anderen klassischen Gruppen von Arbeitsmigranten mit deutlichem Abstand: Italiener (600.000), Serben und Montenegriner (570.000), Griechen (350.000) und Kroaten (240.000). Einzig die Polen als neuere Migrantengruppe leben in vergleichbarer Größenordnung (330.000) in Deutschland (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Migration 2004). Bis auf die Türken sind die meisten dieser Migrantengruppen mehrheitlich christlich. Kroaten, Italiener und Polen kommen aus katholisch geprägten Ländern. Griechen und Serben sind meist griechisch bzw. serbisch-orthodox. Im öffentlichen Diskurs werden die religiösen Unterschiede zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen selten als Problem gesehen. Hier stehen die Differenzen zwischen Muslimen und Christen im Vordergrund.
Auch die sozialwissenschaftliche Forschung konzentriert sich meist auf die Türken als größte Migrantengruppe und auf die Rolle des Islams. Wilhelm Heitmeyer, Joachim Müller und Helmut Schröder haben bei türkischen Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen ein starkes Potenzial für islamischen Fundamentalismus nachgewiesen (1997). Peter Wetzels und Katrin Brettfeld fanden bei muslimischen Migranten eine deutlich stärkere Bedeutung von Religion als bei Jugendlichen mit anderen Bekenntnissen – verbunden mit einer stärkeren Gewaltbereitschaft (2003). Diese Ergebnisse weisen auf eine Sonderstellung der türkischen Migranten in Deutschland. Auch wenn Religion bei anderen Migranten ebenfalls eine starke Rolle spielt, scheint sie bei türkisch-stämmigen Migranten mit muslimischem Glauben in besonderem Maße zur Grundlage der eigenen Identität geworden zu sein.
Diese Unterschiede zwischen Migrantengruppen mit unterschiedlicher Religion sollen im Folgenden kurz genauer beleuchtet werden. Grundlage ist der DJI-Ausländersurvey von 1996/97, bei dem jugendliche Migranten italienischer, griechischer und türkischer Herkunft im Alter von 18 bis 25 Jahren befragt wurden (Weidacher 2000). Dabei ist zu beachten, dass die Befragten meist nicht selbst migriert sind. Sie gehören zum größten Teil der zweiten Generation von Migranten an, die zwar im Elternhaus (und oft bei Verwandten und Freunden) in erheblichem Maße herkunfts- spezifisch sozialisiert wurden. Zugleich wurden sie aber in der Schule und in Freundesgruppen stark mit Einflüssen aus dem Aufnahmekontext konfrontiert. In ihrer Sozialisation vermischen sich also die Einflüsse.
Im Rahmen des Ausländersurveys wurden die Jugendlichen etwa gefragt, welche Bedeutung für sie verschiedene Lebensbereiche wie ‚Eltern und Geschwister‘, ‚Beruf und Arbeit‘, ‚Partnerschaft‘, ‚Politik‘ und auch ‚Religion‘ haben (Frage 150). Im Vergleich der Migrantengruppen zeigen sich hier signifikante Unterschiede (vgl. Tabelle). Bei Italienern spielt die Religion die geringste Rolle (mit 4,11 im Schnitt). Es folgen die Griechen mit einer mittleren Wichtigkeit von 4,41 und schließlich die Türken mit 4,89. Insgesamt sind diese Unterschiede aber eher moderat – sie machen auf einer Siebener -Skala lediglich eine Spannweite von 0,78 Punkten aus.
Im theoretischen Teil wurde vermutet, dass eine Hinwendung zur Religion oft eine Antwort auf die Erfahrung von Fremdheit und Diskriminierung ist. Entsprechend müsste ein Zusammenhang zwischen Diskriminierung und Religiosität bestehen. Der Vergleich zeigt, dass sich Türken sehr viel stärker diskriminiert sehen als Italiener und Griechen. [2] Tatsächlich ergibt sich zwischen der Wahrnehmung von Diskriminierung und der Wichtigkeit von Religion eine leichte Korrelation von 0,112 (Pearsons r; Signifikanz: 0,000). Allerdings ist davon auszugehen, dass der Zusammenhang eher auf der Gruppenebene als auf der Individualebene liegt: in solchen Gruppen, die stark stigmatisiert und diskriminiert werden, wird der Bezug zur Religion stärker ausgeprägt sein. In der multiplen Regression ist denn auch der Einfluss der Gruppenunterschiede auf die Wichtigkeit von Religion wesentlich größer als der der individuellen Erfahrungen von Diskriminierung. [3]
Diskriminierung ist allgemein ein schwer fassbares Konstrukt. Wenn ein türkisch-stämmiger Jugendlicher keine Lehrstelle findet oder am Eingang einer Diskothek abgewiesen wird, mag man dies auf individuelle Faktoren (Bildungsabschluss, Kleidungsstil) oder eben auf Benachteiligung als Gruppe zurückführen. Entscheidend für die eine oder andere Deutung der Situation wird wohl auch sein, was Freunde und Familienmitglieder für Erfahrungen gemacht haben und wie im Freundeskreis oder in der Familie über Enttäuschungen und Benachteiligung kommuniziert wird. Eine zweite Frage ist, ob aufgrund von Aussehen, Nationalität oder Religion benachteiligt wird. In der Befragung berichteten jugendliche türkischer Herkunft sehr viel öfter davon, aufgrund ihrer Religion diskriminiert zu werden (vgl. Tabelle). Während bei den Italienern vier Fünftel und bei den Griechen knapp zwei Drittel angaben, nie wegen ihres Glaubens benachteiligt zu werden, war dies bei den Türken weniger als ein Drittel. Umgekehrt gaben 36,8 Prozent der Türken an, mindestens ‚manchmal‘ wegen ihres Glaubens benachteiligt zu werden. Bei den Italienern und Griechen waren es lediglich 3,2 bzw. 7,0 Prozent. Türken sehen sich also sehr viel häufiger aufgrund ihrer Religion diskriminiert – und dies führt auch dazu, dass Religion stärker zum Bestandteil der eigenen Identität wird. Inwiefern tatsächlich die Religion für Diskriminierung verantwortlich ist, lässt sich nicht feststellen.

Tabelle: Religiosität, Diskriminierungswahrnehmung und ethnische Homogenität sozialer Netzwerke bei Jugendlichen verschiedener Migrantengruppen [4]

 

 Italiener

 (N=848)

 

 Griechen

 (N=826)

 

 Türken

 (N=830)

 Wichtigkeit Religion Skala (1-7)

   4,11

   4,41

   4,89

 Benachteiligung wegen der

 Glaubenzugehörigkeit (in Prozent):

 „noch nie“

 „selten“

 „manchmal“, „oft“ oder „sehr oft“

 

 

    79,9

    16,9

      3,2

 

 

 

   64,5

   28,6

     7,0

 

 

 

 

   32,7

   30,5

   36,8

 

 Diskriminierungswahrnehmung

 (Faktor, standart -1 bis +1)

   -0,20

   -0,06

  +0,27

 Bezugspersonen nur aus der eigenen

 Herkunftsgruppe (in Prozent)

    33,3 

    37,9

    61,1

 Quelle: DJI-Ausländersurvey 1996/97

 

 

 

Warum stellt die Betonung von Religion durch Migranten ein Problem dar? Eine moderne Gesellschaft wird immer damit leben müssen, dass ihre Mitglieder mehr oder weniger religiös sind. Zum Problem wird Religiosität aber, wenn sie die Eingliederung von Migranten behindert und zu schlechten Aufstiegschancen und kulturellen Spannungen führt. Beides ist bei den türkischen Migranten in Deutschland der Fall. Deswegen soll zum Abschluss der Einfluss von Religion auf die ethnische Homogenität von persönlichen Beziehungsnetzen untersucht werden, die die zentrale Dimension der Integration von Migranten bildet. Theoretisch wurde vermutet, dass eine starke Religiosität auch als symbolische Grenze zwischen Migranten und Aufnahmekontext wirken kann. Zugleich erschweren unterschiedliche kulturelle Orientierungen auch den Aufbau von Freundschaften (Lazarsfeld/Merton 1954). Wenn Migranten sich stark an Religion orientieren (und insbesondere an fremden Religionen), werden sich weniger Freundschaften zwischen ihnen und Deutschen entwickeln. Entsprechend müsste ein Zusammenhang bestehen zwischen Religiosität und der ethnischen Homogenität von persönlichen Netzwerken.
Im DJI-Ausländersurvey wurde nach den Personen gefragt, mit denen die jugendlichen Migranten enge Bindungen haben, viel Zeit verbringen, wichtige Dinge besprechen oder ihre Freizeit verbringen (Fragen 43 bis 50). Auch hier ergeben sich deutliche Unterschiede zwischen den Nationalitäten: Bei Italienern nennt nur ein Drittel nur Bezugspersonen mit der gleichen Nationalität, bei den Türken sind es über 60 Prozent. Die Griechen liegen mit 37,9 Prozent leicht über den Italienern (vgl. Tabelle). Im Einklang mit den theoretischen Erwartungen ergibt sich zwischen der Wichtigkeit von Religion für die Befragten und dem Anteil der eigenen Ethnie an den Bezugspersonen ein Zusammenhang von 0,189 (Pearsons r; Signifikanz: 0,000). Wer also Religion stärker betont, hat tendenziell weniger Freundschaften zu Mitgliedern anderer Ethnien. Dieser Einfluss der Religiosität auf die Zusammensetzung der sozialen Netzwerke bleibt auch bestehen, wenn man auf das Herkunftsland, den Bildungsstand und die Wahrnehmung von Diskriminierung kontrolliert.

Gesell­schaft­liche Anerkennung als Antifun­da­men­ta­lis­mus­kon­zept

Es zeigt sich also, dass Religion für die Migranten nicht nur von hoher Bedeutung ist. Sondern Religion ist auch wichtig für das Verhältnis zwischen Migranten und Alteingesessenen. Je stärker eine Migrantengruppe diskriminiert wird, desto eher greift sie auf Religion für die Aufwertung der eigenen Identität zurück. Dies lässt sich insbesondere bei den türkischen Jugendlichen beobachten. Außerdem verhindert eine starke Religiosität von Migranten auch die Bildung von Freundschaften mit Deutschen; dies gilt für die betrachteten Jugendlichen türkischer, griechischer und italienischer Herkunft gleichermaßen. Insgesamt zeigen jedoch die Türken – auch wegen der starken Diskriminierung – den stärksten Bezug zur Religion. Die ethnische Differenz wirkt hier wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung (Merton 1958 [1948]): Die Türken werden aufgrund ihres muslimischen Glaubens als fremd gesehen und behandelt. Im Gegenzug betonen Türken ihre Religiosität stärker, um die eigene Migranten-Identität aufzuwerten. Im Ergebnis wird die Abgrenzung und Ausgrenzung der türkischen Migranten verstärkt, anstatt sie im Sinne einer Integration abzubauen.
Was lässt sich aus den präsentierten Überlegungen für den Umgang mit Migranten und mit solchen Konflikten ableiten? Erstens sorgt die Benachteiligung aufgrund von Religion für eine verstärkte Abschottung von Migrantengruppen. Die Religion wird von Migranten als wichtiger Bezugspunkt für ihre Identität benutzt. Wenn dieser Religion staatlich und gesellschaftlich die Anerkennung verweigert wird, verstärkt sich damit auch die sozio-kulturelle Grenze zwischen einer Migrantengruppe und ihrer Umwelt – es kommt nicht zu weniger Abschottung, sondern zu mehr. Zweitens dient Religion vielen Migranten für die symbolische Aufwertung in einer sozialen Realität, die sie als enttäuschend und benachteiligend erleben. Um islamischen oder anderen religiösen Fundamentalismus von Migranten einzudämmen und kulturelle Konflikte in unserer Gesellschaft zu entschärfen, müsste man also zuvorderst für gleiche Beschäftigungs- und Aufstiegschancen für Bürger unterschiedlicher Herkunft sorgen. Die Grundlage hierfür wird vor allem im Bildungssystem gelegt, wo es Deutschland ja besonders an Chancengerechtigkeit fehlt. Die Herstellung gleicher Chancen in Bildung und Beruf wäre auch ein Schlüssel für die Bewältigung von Konflikten zwischen Migranten und Alteingesessenen – und für die Entschärfung von religiösen Differenzen im gesellschaftlichen Miteinander  
 
1  Wichtigster Bestandteil des Ausländersurveys des Deutschen Jugend-Instituts ist eine standardisierte Mehrthemenbefragung von 2.504 Jugendlichen italienischer, griechischer und türkischer Herkunft zwischen 18 und 25 Jahren. Die Befragung wurde Ende 1996 und Anfang 1997 durchgeführt. Schwerpunkte der Befragung waren ethnische Identität und Praktiken, Diskriminierungserfahrungen, politisches Interesse und Partizipation, sowie die persönlichen Netzwerke der Jugendlichen. Auch wenn nur wenige Fragen zu Religion auftauchen, bietet der Datensatz über den Vergleich der Migrantengruppen wichtige Einblicke in die Rolle von Religion bei Migranten. Leider stehen vergleichbare neuere Datensätze für Deutschland nicht zur Verfügung.
2  Für die Diskriminierungswahrnehmung wurde mittels Hauptkomponentenanalyse ein Faktor über fünf Frage-Items gebildet. Es wurde danach gefragt, ob sich die Befragten gegenüber Deutschen ‚in der Schule bzw. am Arbeitsplatz‘, am Wohnort, ‚beim Einkaufen‘, in Vereinen und ‚in Discos oder bei anderen Veranstaltungen‘ ‚nicht‘, ‚wenig‘, ‚stark‘ oder ‚sehr stark benachteiligt‘ fühlen. Über die fünf Frage-Items erklärt der Faktor 65 Prozent der Varianz. Die Reliabilität ist mit einem Cronbachs Alpha von 0,869 sehr gut. Ein methodisches Problem ist aber, dass die Frage-Items trotz ihrer nur vier Ausprägungen dabei als intervall -skaliert behandelt werden.
3  Bei der Regression mit Wichtigkeit der Religion als abhängiger Variable erklären die Gruppenunterschiede in der Diskriminierungswahrnehmung allein 3,4 Prozent der Varianz. Bei Einschluss der individuellen Diskriminierungswahrnehmung als erklärender Variable erhöht sich die erklärte Varianz lediglich auf 4,0 Prozent.
4  Alle Gruppenunterschiede sind (in T-Tests mit Kontrolle auf inhomogene Varianzen) signifikant auf dem 0,001-Level – außer dem Unterschied in der Diskriminierungswahrnehmung zwischen Italienern und Griechen, der auf dem 0,01-Level signifikant ist. Bei den Bezugspersonen wurde der T-Test über den Anteil der eigenen Herkunftsgruppe an den Bezugspersonen durchgeführt.
  
 
Literatur  

Baumann, Martin 2000: Migration – Religion – Integration; Buddhistische Vietnamesen und hinduistische Tamilen in Deutschland, Marburg
Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Migration 2005: Daten – Fakten – Trends; Strukturdaten der ausländischen Bevölkerung, Berlin       (http://www.integrationsbeauftragte.de/download/Modul_2_Strukturdaten.pdf)
Berger, Peter L. 1969: A Rumor of Angels; Modern Society and the Rediscovery of the Supernatural, Garden City
Fuhse, Jan 2005: Ethnizität, Lebensstile und soziale Netzwerke; Eine Studie zu einer transnationalen Migrantenkultur von Italienern in Deutschland, Stuttgart (Diss.)
Gans, Herbert 1967: The Levittowners, New York
Gordon, Milton 1964: Assimilation in American Life; The Role of Race, Religion, and National Origins, New York
Heitmeyer, Wilhelm/Müller, Joachim/Schröder, Helmut 1997: Verlockender Fundamentalismus; Türkische Jugendliche in Deutschland, Frankfurt/Main
Herberg, Will 1955: Protestant – Catholic – Jew, New York
Hettlage-Varjas, Andrea/Hettlage, Robert 1984: Kulturelle Zwischenwelten; Fremdarbeiter – eine Ethnie?; in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie Jg. 2, S. 357-403
Inglehart, Ronald 1997: Modernization and Postmodernization; Cultural, Economic, and Political Change in 43 Societies, Princeton
Lazarsfeld, Paul /Merton, Robert K. 1954: Friendship as Social Process: A Substantial and Methodological Analysis; in: Morroe Berger et al. (Hg.): Freedom and Control in Modern Society, Toronto, S. 18-66
Luhmann, Niklas 2000: Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt/Main
Merton, Robert 1958 [1948]: The Self-Fulfilling Prophecy; in: ders.: Social Theory and Social Structure, New York, S. 475-490
Park, Robert/Burgess, Ernest 1969 [1921]: Introduction to the Science of Sociology, Chicago
Weidacher, Alois (Hg.) 2000: In Deutschland zu Hause; Politische Orientierungen griechischer, italienischer, türkischer und deutscher junger Erwachsener im Vergleich, Opladen
Wetzels, Peter/Brettfeld, Katrin 2003: Auge um Auge, Zahn um Zahn? Migration, Religion und Gewalt junger Menschen, Münster
Wimmer, Andreas 2002: Multikulturalität oder Ethnisierung?; Kategorienbildung und Netzwerkstrukturen in drei schweizerischen Immigrantenquartieren; in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 31, S. 4-26
 

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