Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 173: Religion und moderne Gesellschaft

Religion als politischer Existen­zi­a­lismus

Prinzip der Diesseitigkeit,

aus: vorgänge Nr. 173 (Heft 1/2006), S. 40-44

Die Rückkehr der Religion, die unsere Zeit bewegt, ist in erster Linie eine Rückkehr der Religion in die Politik. Sie betrifft das neuzeitliche Selbstverständnis menschlicher Vergesellschaftung. Deren politische Ordnung hatte sich einst von ihrer religiösen Begründung losgesagt. Die im Mittelalter herrschaftlich durchformte und geschichtete Gesellschaft (societas civilis cum imperio) spaltete sich auf in die einheitliche, nach außen souveräne und nach innen höchste Staatsgewalt einerseits und in die einheitliche Gesellschaft der dieser Staatsgewalt unterworfenen Bürger andrerseits. Der neuzeitliche Staat wurde dadurch zu einer einheitlichen Gewalt gegenüber seinen rechtlich gleichen Untertanen, und die herrschaftlich eingeebnete Gesellschaft (societas civilis sine imperio) ordnete sich der umfassenden Staatsgewalt unter. Die so entstandene einheitliche Gewalt ist freilich zugleich an bestimmte Prinzipien gebunden, indem sie grundlegende Staatszwecke aufstellt, die die Unterwerfung der Bürger begründen und den Staat von einer zufälligen Machtballung unterscheiden. Diese Staatszwecke sind, zeitgleich zu der Trennung von Staat und Gesellschaft, nach und nach aus der gegebenen religiösen Welt herausgetreten und haben schließlich zu der Trennung der politischen Ordnung von der Religion als ihrer Grundlage geführt. Die politische Ordnung besitzt nunmehr politische Zwecke, sei es den der Sicherheit, der Freiheit oder der Gleichheit der Bürger, nicht aber religiöse. Dieser Eigensinn des Politischen ermöglichte aller erst die Befriedung der konfessionellen Kriege Europas. Denn wenn die Zwecke des Staates nicht mehr religiös bestimmt sind, dann kann er als eine neutrale Instanz das Zusammenleben der verschiedenen Konfessionen gewährleisten. Die von der Religion unabhängige einheitliche Staatsgewalt sichert den Frieden der Bürger, deren unterschiedliche Religionen in der herrschaftlich eingeebneten Gesellschaft ihren Ort finden.
Die Religion verwandelte sich in diesem Vorgang aus dem Geist der politischen Ordnung in den Geist der bürgerlichen Gesellschaft, die dieser Ordnung, dem Staat, gegenüber steht. Sie gehört jetzt zu den individuellen Angelegenheiten der einzelnen Bürger, nicht aber zu denen ihres politischen Zusammenhanges. Die Religion stellt daher, um einen markanten Ausdruck von Karl Marx zu gebrauchen, nicht mehr das Wesen der Gemeinschaft, sondern das Wesen des Unterschiedes dar: Sie wurde zu einer „Privatschrulle“ der Individuen. Und nur weil sie zu einer solchen Privatschrulle wurde, konnte der Staat sich aus der religiösen Gebundenheit befreien. Denn das Private ist vom Öffentlichen und also vom Raum der Politik geschieden. Die Religion als Privatschrulle besitzt keine Macht mehr über die politische Ordnung. Ernst Troeltsch hat daher den freiheitlichen, säkularen Staat, der keiner religiösen Hoheit mehr untersteht, mit Recht das „Prinzip der Diesseitigkeit“ genannt. Als ein solches Prinzip stellt der Staat ein Doppeltes dar: Einerseits ist er die höchste Instanz, die das menschliche Zusammenleben auf Erden regelt; die politische Ordnung ist souverän. Andrerseits aber zeigt sich in der Diesseitigkeit auch wieder die Beschränktheit des Staates; vor den letzten Fragen des Seelenheils muss er verstummen. Das neuzeitliche Selbstverständnis der Vergesellschaftung mündet daher in eine zwiefache Auffassung ihrer politischen Ordnung: In seiner Trennung von der Religion ist der Staat souverän und begrenzt zugleich.
Es gehört zu der Eigentümlichkeit unseres Zeitalters, dass dieses Selbstverständnis von der Souveränität und der Begrenztheit des Staates gegenüber der Religion nach dem Ende des kurzen zwanzigsten Jahrhunderts zurückgenommen zu werden droht. Diese Rücknahme ist mit der Rückkehr der Religion in die Politik verbunden. Sie lässt sich in mehreren Feldern beobachten; vor allem aber ist es die Politik der Vereinigten Staaten von Amerika unter der zweiten Regierung Bush, die das Prinzip der Diesseitigkeit erneut unter die Maßgaben des religiösen Denkens zu stellen scheint. Das offene Bekenntnis des Präsidenten zu den religiösen Grundlagen seiner politischen Entscheidungen, der deutliche Einfluss der christlichen Rechten auf die Regierung, nicht zuletzt die an die alte militia christiana anknüpfende Kreuzzugmentalität der Außenpolitik richten augenscheinlich die Handlungen des gesamten Staatswesens im Sinne einer bestimmten Religion, nämlich des Christentums, aus. Die Rückkehr der Religion in die Politik lässt den säkularen Staat offenbar in ein Stadium eintreten, in dem er sich aus eigenem Antrieb abermals religiösen Vorgaben unterwirft.

Politi­sie­rung der Religion

In Wahrheit aber bedeutet die unverstellte Rechtfertigung staatlicher Handlungen aus religiösen Motiven, die sich an der gegenwärtigen Politik der Vereinigten Staaten beobachten lässt, gerade keine Rücknahme der Säkularisierung des Staates. Vielmehr ist sie nur unter dem Prinzip der Diesseitigkeit zu begreifen. Deutlich wird das in der Konfrontation mit einer Staatsauffassung, die die politische Ordnung gerade nicht prinzipiell durch Diesseitigkeit bestimmt sieht. Eine solche Auffassung begreift den Staat nicht politisch, sondern religiös. Ihr gilt daher als letzter Grund des Staates nicht der Mensch, sondern Gott. Die politische Lehre der spanischen Spätscholastik, eingekapselt in der Vorlesung des Franciscus de Vitoria über die staatliche Gewalt (Relectio de potestate civili, 1528), hat diese Auffassung paradigmatisch ausformuliert: Der Zweck (causa finalis) der Staates besteht in der gegenseitigen Hilfe (mutua officia) der Menschen, deren kreatürliche Schwäche (miseria hominum) ihr Zusammenleben zu solch gegenseitiger Hilfe erfordert. Der Grund (causa efficiens) des Staates ist daher Gott selbst, der die Menschen in ihrem Sein erschaffen hat. In anderen Worten: Der Staat erfüllt seine Aufgabe innerhalb der göttlichen Seinsordnung, aus der er seine Grundlagen gewinnt. Er ist kein Prinzip der Diesseitigkeit, sondern das Glied einer transzendent begründeten Ordnung. Eine solche Auffassung, die allein einen religiösen Begriff des Staates hergeben würde, steht jedoch gerade nicht hinter der Rückkehr der Religion in die gegenwärtige Politik der Vereinigten Staaten. Deren Selbstverständnis ist immer noch in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung niedergelegt. Sie macht deutlich, dass die Staatsgewalten zur Sicherung der Rechte der Individuen eingesetzt sind und daher ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten – „deriving their just Powers from the Consent of the Governed“. Ihr zufolge besteht der Staat also nicht um seiner göttlichen Stiftung willen; er besteht um willen der Einzelpersönlichkeit und ihrer Rechte. Die Gestalt des Staates ist daher die Konsequenz der auf das freie Individuum begründeten Gesellschaft. Wohl kein Präsident der Vereinigten Staaten würde dieser Auffassung, die die Unabhängigkeitserklärung ausspricht, zuwider handeln; ganz sicher nicht der gegenwärtige. Im Gegenteil gründet das amerikanische Bewusstsein von mission and power auf dem Stolz darauf, Vertreter eines Staatswesens zu sein, das wie kein anderes sein Ziel und seinen Grund in der Freiheit und den Individualrechten der Einzelnen besitzt. Die Vereinigten Staaten von Amerika gründen nicht in der Stufenordnung der Schöpfung, sondern im Individualismus der bürgerlichen Gesellschaft.
Wenn dieses Selbstverständnis aber mit Recht auch heute noch gilt, dann erfolgt die Rückkehr der Religion in die Politik nicht auf der Grundlage eines religiösen Staatsverständnisses. Sie erfolgt vielmehr auf der Grundlage des säkularen Staates. Das bedeutet: Die Rückkehr der Religion in die Politik macht nicht die Politik zur Religion, sondern die Religion zur Politik. Anders gesagt: Nicht der Staat wird religiös, sondern die Religion politisch begriffen. Denn indem die Religion eines bestimmten Christentums im Rahmen des souveränen Staates eine bestimmte Politik zu rechtfertigen sucht, verwandelt sie sich in ein Moment dieses Staates. Sie stellt sich, wenn auch ohne es zu wollen, unter das Prinzip der Diesseitigkeit und wird zu einem politischen Faktor. Daher bleibt die Religion auch in den angesprochenen Formen ihrer Rückkehr in die Politik gewissermaßen eine „Privatschrulle“. Allerdings ist sie nun eine Privatschrulle, die selber zu der Rechtfertigung staatlicher Gemeinschaftshandlungen dient. Sie entspringt dem Bewusstsein des Einzelnen in der bürgerlichen Gesellschaft, um von dorther die Allgemeinheit des Staates zu legitimieren. Und als derartige Legitimationsquelle im säkularen Rahmen gerät sie zur politischen Funktion. Die Rückkehr der Religion vollzieht sich als deren Politisierung.

Existen­zi­elle Entschei­dung

Diese Politisierung der Religion, die von der religiösen Auffassung der Politik zu unterscheiden ist, hat Folgen nicht nur für die Rechtfertigung des Politischen, sondern auch für die Eigenart des Religiösen. Wenn – wie im Falle des gegenwärtigen Präsidenten der Vereinigten Staaten – die Entscheidungen für oder gegen bestimmte staatliche Gemeinschaftshandlungen in religiösen Auffassungen gründen, dann gründen sie zuletzt in einer Auffassung über das menschliche Dasein. Das Dasein wird als von Gott geschaffen betrachtet. Dieses Geschaffensein des Menschen anzuerkennen macht die religiöse Haltung aus. Sie kann, in bestimmten Formen des Protestantismus, sich in Form einer bewussten Entscheidung für diese Anerkennung der eigenen Kreatürlichkeit und der ihr innewohnenden Folgen für die Lebensführung vollziehen; George W. Bush hat des öfteren, gerade auch in Zusammenhängen der Selbstlegitimation, auf seine bewusste Entscheidung für ein religiöses Leben zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Biographie hingewiesen. Weil aber eine solche Anerkennung der Kreatürlichkeit, den Voraussetzungen des eigenen Staatsverständnisses zufolge, sich im Raum der bürgerlichen Gesellschaft vollzieht, geschieht sie als die Entscheidung des je besonderen Einzelnen. Sie steht nicht in einer gegebenen Ordnung des geschaffenen Seins, der sie nur nachspürte; sie ist vielmehr der frei gewollte und vollzogene Akt des Einzelnen, der von den freien Akten anderer Einzelner unterschieden ist. Ihren Grund hat sie darum in nichts anderem als der einzelnen, besonderen Auffassung des einzelnen, besonderen Daseins. Allerdings eines solchen Daseins, das sich selber wesentlich in der Entscheidung versteht. Die so bestimmte religiöse Haltung ist der Ausdruck der Entscheidung des Daseins und nicht so sehr der Ausdruck einer göttlichen Ordnung. Sie ist mithin der Ausdruck des sich als Entscheidung verstehenden Daseins selbst.
Die als Entscheidung vollzogene religiöse Haltung trägt deshalb im Grunde nur das Dasein als Dasein vor sich her, obwohl sie selber meint, in ihrem Kern auf Gott bezogen zu sein. Indem der religiöse Politiker seine Entscheidung für Gott als den Grund seines Handelns weiß, weiß er letztlich nur die Besonderheit seines Daseins als diesen Grund. Er sagt eigentlich „ich“, wenn er „Gott“ oder „Christentum“ sagt. Daher fügt die religiöse Entscheidung sich so nahtlos in die Reihe der anderen Besonderheiten der bürgerlichen Gesellschaft ein. Wenn aber diese besondere Auffassung eines besonderen Daseins, die am Ende nichts als dessen Entschiedenheit anzuführen weiß, nunmehr staatliche Gemeinschaftshandlungen rechtfertigen soll, dann finden diese ihren Rechtsgrund zuletzt bloß in der Behauptung des besonderen Selbstentwurfes des einzelnen Daseins. In höchster Zuspitzung formuliert: Das entschiedene Dasein, und nichts sonst, legitimiert das Handeln des Staates. Freilich kann keine Politik sich tatsächlich in solcher Zuspitzung gestalten; sie würde notwendig an den tatsächlichen Gegebenheiten, die die Besonderheit des Einzelnen übersteigen, scheitern. Doch in ihrem Wesen birgt die angesprochene Rückkehr der Religion in die Politik den Zug zu jener Berufung des einzelnen Daseins auf sein Selbstverständnis, mithin auf sich selbst, um Gemeinschaftshandlungen zu begründen.
Die Rückkehr der Religion in die Politik unter dem Prinzip der Diesseitigkeit bedeutet demnach die Überführung des politischen Denkens in das Beharren auf dem einzelnen Dasein. Hierdurch wird Religion zu einer Form des politischen Existenzialismus. Sie entfaltet sich nicht als ein neues Wesen der Gemeinschaft, sondern bleibt das Wesen des Unterschiedes, nun aber abgespreizt zu dem Unterschied, der die Gemeinschaft anleiten will und doch nicht mehr als die Insistenz auf seine besondere Entschiedenheit anzuführen vermag. Aus der bürgerlichen Gesellschaft hinaus sucht sie das Handeln des säkularen Staates zu bestimmen und kann nichts anderes für oder gegen dessen Handlungen aufbieten als das einzelne Dasein selbst. Eine wahrhafte Debatte oder gar eine Verständigung mit anderen Meinungen ist der politisch-existenziellen Religion daher verschlossen. Sie kann den existenziellen Unterschied der Meinungen bloß zur Kenntnis nehmen, um sich dann, aus existenziellen Gründen, gegen sie durchsetzen zu müssen. Hierin vermag sie Hand in Hand zu gehen mit einem auf der nackten Durchsetzung seiner Macht interessierten Staat. Indem dessen säkulare Gestalt sich als bloße Machtpolitik zuletzt ebenfalls nur auf die Behauptung seiner Existenz beruft, verträgt er sich mit der existenziellen Selbstbehauptung der religiösen Entscheidung des Einzelnen bestens. So wie dieser im Grunde nur „ich“ sagt, wenn er das Gemeinschaftshandeln des Staates aus seiner religiösen Entscheidung rechtfertigt, so sagt auch der Machtstaat nichts anderes als „ich“, um seine Handlungen zu rechtfertigen. Die Diskrepanz der religiösen Wurzel der Politik zu den Gräueltaten ihrer Ausführung fällt in solcher Übereinstimmung zusammen.

Ironie der Offenbarung

Ironischerweise scheint das politische Denken des Christentums dem Phänomen einer religiösen Rechtfertigung der Politik im Rahmen säkularer Grundannahmen bereits avant la lettre einen Platz eingeräumt zu haben. Otto von Freising jedenfalls betrachtet in seiner 1146 vollendeten Weltchronik den Herrscher, der im diesseitigen Rahmen unter religiösen Vorgaben (sub specie religionis) handelt, als unrechtmäßig (rex iniquus). Im Rückgriff auf die Offenbarung des Johannes gilt ihm ein solcher Regent als der – Antichrist. Wir dürfen wohl vermuten, dass das, was schon unter den Bedingungen eines religiösen Begriffes der Politik für religiös scheinende Herrscher galt, unter den Bedingungen des säkularen Staates erst recht gilt. Die Rückkehr der Religion in die Politik wäre somit ein Zeichen des zweiten Tieres der Apokalypse – „Hat jemand Ohren, der höre!“ (Offb 13, 9)
 
 

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