Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 176: Die fragmentierte Gesellschaft

Die Angst vor dem sozialen Tod

Wo Erfolg zur Bedingung von Anerkennung wird, ist die Angst vor der Scham seine Begleiterin.

aus: vorgänge Nr. 176 (Heft 4/2006), S. 32-38)

Derzeit leben wir in einer nicht abreißenden Kette von Angstszenarien. Sie reicht von der Angst vor Krieg und Terror bis zur Angst vor der Vogelgrippe, also eine facettenreiche Ausgestaltung der Todesangst. Daneben aber gibt es individuelle Ängste, genauso verbreitet und für den einzelnen genauso bedrohlich, ohne sich generalisiert artikulieren zu können: es ist die Angst vor Arbeitslosigkeit, vor dem Verlust von Status, Position und sozialer Anerkennung, es ist die Angst vor dem sozialen Tod. Um die ausgesprochenen Todesängste kann ich mich hier nicht detailliert kümmern, obwohl es sich fast ausschließlich um menschengemachte Bedrohungen handelt, die man zum größten Teil als kapitalistische Begleitprodukte betrachten kann, wie alle die Luft-, Wasser und Lebensmittelvergiftungen. Auch die modernen Mittel des Kriegshandwerks dienen nicht zuletzt einem hegemonialen Interesse, in dem die Ökonomie keine untergeordnete Rolle spielt. Günther Anders hat den Begriff „prometheische Scham“ erfunden, mit dem er deutlich macht, dass die Menschheit bislang nicht in der Lage ist, die Bedeutung der Atombombe zu begreifen. Heute könnte man den Gedanken von Anders variieren, wenn man sich die Möglichkeiten des modernen Terrorismus vor Augen führt. All diese Bedrohungen machen dem Einzelnen mehr oder weniger Angst, werden durch soziale und psychische Bedingungen relativiert oder radikalisiert, führen zu kollektiven Hysterien und Apathien. Jedenfalls haben die konkreten Ängste und die realen Bedrohungen meist keine notwendige Verknüpfung. Wie das Vertrauen in die Welt aussah, als es noch keine Atombomben gab, ist heute schwer vorstellbar.
Was für die Todesangst gilt, macht auch vor den Ängsten nicht halt, die das Misslingen des Lebensentwurfs betreffen. Angst vor Anerkennungs- oder Liebesverlust hat latent jeder, und mit Recht. Und zugleich sind gerade die sozialen Aspirationen des Einzelnen das paradigmatische Feld, in das auch alle die Angstprojektionen hineinschießen, die aus anderen Lebenssphären stammen, natürlich auch die neurotischen. Die aktuelle Aufkündigung solidarischer gesellschaftlicher Beziehungen, die, von der Politik befördert, zu einer latenten Zerstörung von Sozialität überhaupt führt, löst bisher unbekannte Ängste aus, da nicht mehr Schichten und Klassen die Leidtragenden sind, sondern Millionen von isolierten Individuen und Familien. Ob der große pauperisierte Teil dieser riesigen Gruppe den Namen „neue Unterschicht“ verdient, muss offen bleiben. Jedenfalls wäre es ein Begriff, der, gegen den Strich gelesen, Identifikationen erlauben würde. Dann könnte die diffuse, allgegenwärtige Angst vielleicht, aber nur vielleicht, zum Motor einer neuen Politisierung werden.
In seinem vorletzten Buch: „Respekt im Zeitalter der Ungleichheit“ beschäftigt sich Richard Sennett mit den Chancen gegenseitigen Respekts unter Bedingungen sozialer Ungleichheit. Er geht davon aus, dass Ungleichheit immer und in allen Gesellschaften vorhanden ist, dass folglich Neid und Konkurrenz zur Gesellschaftlichkeit überhaupt gehören. Dem kann man kaum widersprechen. Umso wichtiger wird es, wie die Gesellschaft mit dieser Tatsache umgeht, ob sie die Ungleichheit thematisiert oder kompensiert und wie sie sie rechtfertigt. Unsere Gesellschaft will die traditionell festgeschriebenen Status- und Rangunterschiede, also die traditionellen Formen sozialer Ungleichheit durch die so genannte Chancengleichheit überwinden; nicht mehr die Herkunft sondern Begabung und Leistung sollen heute in die oberen Etagen der Gesellschaft führen. Wie schwierig es ist, Chancengleichheit auch nur für den Hochschulzugang herzustellen, kann man an der PISA-Studie sehen.
Dass Chancengleichheit selbst da, wo sie halbwegs existiert, nichts an der Hierarchisierung der Gesellschaft ändert, wird leicht vergessen. Die bürgerliche Idee der Gleichheit ist hinter dem Postulat der Chancengleichheit fast verschwunden. Ihre Bedeutung lag ja gerade darin, dass sie vom Einzelnen und seiner Individualität absah. Ursprünglich formal konzipiert kann sie sich nur unter Bedingungen sozialer Gleichheit realisieren, die in einer dynamischen Gesellschaft von der Politik immer neu geschaffen werden muss. Davon ist kaum noch etwas übrig geblieben. Die heutige Individualisierung, die jeden zu seines Glückes Schmied erklärt, macht die Ungleichheit der sozialen Chancen unsichtbar. Der misslungene gesellschaftliche Aufstieg wird dann leicht als individueller Mangel interpretiert. Zur bloßen Ideologie verkommen ist das Gleichheitspostulat heute daher ein zweifelhafter Ansporn, es wirkt sich allzu leicht zerstörerisch auf Selbstachtung und Selbstvertrauen aus. Mehr noch: es spielt mit der Angst vor Unterlegenheit, die im Konkurrenzkampf hervorgelockt und als Mittel der Beschämung benutzt werden kann.
Adorno hatte bei der Analyse bürgerlicher Deklassierungsängste davon gesprochen, dass die Angst, durch die Maschen zu fallen und abzusinken, mittlerweile als zweite Natur anstelle der Existenzangst ums „natürliche Dasein“ getreten sei. Als unmittelbaren Grund hatte Adorno die Krisen des Kapitalismus im Auge, allgemeiner jedoch die Tatsache, dass Deklassierung als Bedrohung der Selbstachtung empfunden wurde, als radikaler Ehr- und Anerkennungsverlust.
Adorno war einer der Ersten, der die Rolle dieser diffusen Dauerängste um Erfolg oder Misserfolg zum Thema gemacht hat. Er hielt sie für das Einfallstor einer auf Angst bauenden, politischen Manipulation. Und das umso mehr, wenn die Angst vor dem sozialen Makel und das Gefühl dauernder Unsicherheit mit einer realen ökonomischen Bedrohung zusammenkommen. Daraus entsteht ein Amalgam aus vielfältigen Existenzängsten, die – mit einem Wort von Bourdieu – „im Rahmen von Prekarisierungsstrategien systematisch ausgenutzt“ werden. Und genauer: „Die Prekarität ist Teil einer neuartigen Herrschaftsform, die auf der Errichtung einer zum allgemeinen Dauerzustand gewordenen Unsicherheit fußt und das Ziel hat, die Arbeitnehmer zur Unterwerfung (…) zu zwingen.“ Auf den ersten Blick könnte man meinen, diese gemeinsame Unsicherheit und die gleichartigen sozialen Ängste könnten zur Solidarisierung führen. Doch die Klassenunterschiede und die Stufe auf der Leiter der gesellschaftlichen Hierarchie, auf der die Einzelnen stehen, vertiefen die Gräben zwischen den sozialen Gruppen eher. Schließlich hängt vom sozialen Ort ab, was die Einzelnen zu verlieren haben. Daher verbindet diese Unsicherheit nicht, im Gegenteil. Ideologisch geschönt bekommt sie ein positives Vorzeichen als Lust zum Risiko, so geht sie unmittelbar als Treibsatz in den Kampf um Erfolg und Aufstieg ein.
Deklassierung droht heute allen, auf allen Rängen der Hierarchie, eine Gefahr, die es in traditionellen Gesellschaften nicht geben konnte. Ihr Pendant ist der soziale Aufstieg, der als Phantasma die Sozialpsychologie unserer Gesellschaft prägt. Da nun alle virtuell aufsteigen können und es auch phasenweise tun, ändert sich an der Hierarchie prinzipiell nichts. In diesem Zerrbild einer egalitären Gesellschaft findet niemand einen sicheren Ort, daher die nie zu besiegende Angst vor dem Abstieg. Heute findet dieser Abstieg wirklich massenhaft statt, aber schon in den Jahren zuvor hat die latente Angst davor die Selbstachtung der Subjekte ausgehöhlt, da das Selbstbild an den sozialen Status geknüpft ist. Um es deutlich zu machen: da ging es noch nicht um: Angst vor Inflation, Angst vor Arbeitslosigkeit, Angst vor der Wirtschaftskrise. Bevor das alles so manifest drohte wie heute, war es trotzdem diese Angst, die den Konkurrenzkampf um Status und Position so erbittert macht. Auf den Punkt gebracht: Angst vor Deklassierung signalisiert einen Mangel an Selbstachtung, der, so Adorno, ein Kennzeichen unserer Gesellschaft ist.
In seiner Abhandlung zur „Politik der Würde“ gibt der israelische Sozialphilosoph Avishai Margalit der Selbstachtung das zentrale Gewicht für ein menschliches Zusammenleben, das im besten Falle solidarisch geregelt wird, in jedem Falle aber nicht zerstörerisch sein darf. Wie Gesellschaften beschaffen sind, deren Mitglieder immer Gefahr laufen, ihre Selbstachtung zu verlieren, ist daher die zentrale Frage des Buches, das im Untertitel „Über Achtung und Verachtung“ heißt. Demütigung ist für ihn die Erfahrung, an der Selbstachtung zerbricht. Man kann sich durch die Umstände, unter denen man lebt, gedemütigt fühlen, vorausgesetzt, sie sind von Menschen gemacht. So etwa, „wenn die Institutionen einer Gesellschaft bewirken, dass sich Menschen für ein identitätsstiftendes Zugehörigkeitsmerkmal schämen“, wie Hautfarbe, Geschlecht oder auch Religion. Heute kommt die Unterschicht dazu. Selbstachtung setzt demnach voraus, dass die identitätsstiftende Gruppe, der man selbstverständlich und ohne eigene Entscheidung angehört, sozial nicht gedemütigt wird. Selbstachtung ist also primär mit Zugehörigkeit, und erst in zweiter Linie mit Leistung verknüpft.
Der demütigende Ausschluss ganzer Gruppen ist ein sozialer Modus, der sich auf allen gesellschaftlichen Ebenen reproduziert. Am deutlichsten wird dieser Modus in Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Beides sind in Europa Randphänomene, die in Wellen kommen und gehen. Am untersten Rand der Gesellschaft ist diese Art von Demütigungen eine Praxis der Gruppen, die ihrerseits von Ausschluss bedroht sind. Und dieser Mechanismus des Ausschließens setzt sich auf allen gesellschaftlichen Ebenen fort. Deutsche wie amerikanische Soziologen haben beobachtet, dass so genannte askriptive Merkmale, wie Ethnie, Hautfarbe, Geschlecht, Alter, wieder mehr denn je als Kriterien gelten, die beim Statusgewinn zählen. Es sind genau die Identitätskriterien, die nicht abstreifbar sind. Die quasinatürlichen Stigmata, um die es sich hier ja handelt, pflanzen sich fort in soziale Stigmata. Und noch in der sozial anerkanntesten Gruppe finden sich im Falle der Statuskonkurrenz subtile Ausschlussmechanismen, und wenn es die uneheliche Geburt ist. Die Gesellschaft besteht nicht mehr aus Gruppen, denen man einfach angehört und aus denen man nicht herausfallen kann, es sei denn die Familie. Fehlt jedoch diese Basis jeden Anerkennungsmodells, dann sind die Subjekte immer von Ausschluss und Beschämung bedroht. Die Angst, durch die Maschen zu fallen und nirgends dazu zu gehören, gehört zu den treibenden Motiven, von denen diese Gesellschaft in Atem gehalten wird.
Der Fortschritt der bürgerlichen Gesellschaft, die sozialen Unterschiede durch Rang, Stand und Herkunft abzuschaffen, hat sich schließlich an ihrem vorläufigen Ende als Schimäre erwiesen. An der sozialen Ungleichheit, um deren Überwindung es ging, hat sich nichts geändert, lediglich ist sie heute nicht mehr rechtlich und politisch festgeschrieben, wohl aber sozial-strukturell verankert. Daraus erwächst die Paradoxie, dass der Einzelne für sein Schicksal verantwortlich gemacht wird, und es doch aus strukturellen Gründen nur wenige gibt, die ihr Klassenschicksal verlassen. Für alle anderen wird der scheiternde Versuch des Aufstiegs zur demütigenden Erfahrung, eine Erfahrung, die mitunter mit Rache und Gewalt beantwortet wird.
Aus alledem soll nicht der Schluss gezogen werden, dass es früher besser war. Die Enge, die Armut, die brutalen Herrschaftsverhältnisse waren sicher grauenhaft. Und trotzdem muss man festhalten, dass die bürgerlich intendierte und kapitalistisch radikalisierte Emanzipation die Subjekte in eine Selbstbezüglichkeit zwingt, die zerstörerisch ist. Früher blieb dem Einzelnen das Milieu, der Kietz, das Dorf oder die religiöse Gemeinde, in die er hineingeboren wurde. Sein sozialer Ort war nicht selbst gewählt oder erworben, sondern mit der Geburt gegeben. Das hat nicht nur beengt und geknechtet, sondern auch Distanz erlaubt. Den sicheren sozialen Ort gibt es für die meisten heute nicht mehr, sondern nur noch den sozialen Status. Nicht die Herkunft sondern einzig seine Kompetenzen, also Bildung, Titel, Auftreten werden dafür verantwortlich gemacht. Objektiv könnte jeder dasselbe erreichen, wenn er nur könnte. Deshalb wird derjenige, der dieses alles nicht erreicht hat, seinen minderen sozialen Status als persönlichen Mangel interpretieren. Daraus erwächst ihm ein Unterlegenheitsgefühl, das ihn beschämt.
Nach Günther Anders ist unser soziales Leben von der Schamangst durchwebt, weil das permanente Messen und Vergleichen den nie befriedigten Drang nach Überlegenheit hervorbringt, um der Gefahr des Unterliegens zu entkommen. Kaum jemand wird von der Erfahrung verschont, dass diese Gefahr nie gebannt ist, sobald man sich auf das Messen und Vergleichen eingelassen hat. Scham, so nochmal Anders, ist ein scheiternder Selbstbezug, eine Störung der Selbstidentifizierung, die ohne Selbstachtung nicht vorstellbar ist. Gelingen kann der Selbstbezug nur, wenn die verinnerlichte Norm sich in der Lebenspraxis gewährt. Je mehr im heutigen Wirtschaftsleben der Konkurrenzgewinn in den Vordergrund als einziges Ziel rückt, desto sicherer werden Normen, die dem nicht zuarbeiten, als dysfunktional verworfen. Es ist daher kein Zufall, dass der Sport zum Vorbild der Gesellschaft wird. Hier geht es um siegen, um sonst nichts. Alles andere wird dem untergeordnet. Auch das fair-play, die Moral des Sports, wird gerne zum Vergleich herangezogen; es setzt die Anerkennung von Regeln voraus und impliziert einander ebenbürtige Konkurrenten. Die Konkurrenz von Gleich zu Gleich hat in unserer Gesellschaft einen hohen ideologischen Wert; mit ihrer Stilisierung kann die strukturelle Ungleichheit überblendet werden. Daher die Betonung des Sportiven auf allen sozialen Ebenen.
Ob der besiegte Spitzensportler sich schämt, weiß ich nicht. Ich denke, eher nicht. Er hat gezeigt, was er kann und jeder hat es gesehen. Er läuft nicht Gefahr, die faktische Unterlegenheit als moralische Unterlegenheit zu empfinden. Er hat einen Rahmen, der unverrückbar ist, in dem agiert er. Das berufliche Scheitern hat der Scheiternde immer weniger in der Hand, es hat keinen Rahmen, auf den bezogen der Einzelne handeln und sein Handeln reflektieren könnte. Seine Fähigkeiten spielen selten eine Rolle. Selbst die Chance, sich zu vergleichen, ist vielen heute genommen, sie sind der Konkurrenz einfach ausgeliefert. Eine Situation, die sich zunehmend radikalisiert. Das Scheitern ist heue meist ein Absturz in die Arbeitslosigkeit, und nicht einfach nur der etwas schlechtere Job. Die Angst davor wird derzeit allenthalben weidlich ausgenutzt.
Bei Bourdieu steht das interessante Wort: Flexploitation, zusammengesetzt aus Flexibilität und Ausbeutung. „Dieser Begriff veranschaulicht sehr treffend den zweckrationalen Gebrauch, der von der Unsicherheit gemacht wird.“ Die aktuelle Flexibilisierung der Arbeit, die jeden kollektiven Arbeitsrhythmus über Bord wirft, hat die Selbstbezüglichkeit der individuellen Berufs- und Lebensplanung radikalisiert. Schon in den 50er Jahren hatte Adorno von Atomisierung gesprochen, um die Situation der Subjekte im Spätkapitalismus zu kennzeichnen. Im Begriff Individualisierung wird der Gedanke von Adorno aufgegriffen und weitergeführt. Dabei geht es nicht um mehr Freiheit und Individualitätschancen, sondern um die Auflösung aller Milieus und Traditionen, die mit Berufskarrieren und Modellen der Lebensführung verknüpft waren, so dass der Einzelne sein Leben in allen Facetten planen muss und doch eingeengt bleibt von den Grenzen seiner Ausbildung und den Angeboten des Marktes. „Hochgradig durch den Markt vergesellschaftet, findet der Einzelne jene soziostrukturellen Bindungen nicht mehr vor“ (Neckel), in denen er Schutz und Solidarität finden konnte. Individualisierung suggeriert mehr denn je die Chance des sozialen Aufstiegs, weil Individuen und nicht mehr soziale Klassen ins Blickfeld geraten. Sie zwingt den Subjekten einen Konkurrenzkampf auf, der langsam alle Lebenssphären ergreift. Die persönlichsten Attribute werden zum Tauschobjekt, dessen Einsatz soziale Vorteile verschaffen soll. Erfolg wie Misserfolg erscheinen unmittelbar als Ausdruck der Persönlichkeit, während das ehedem Persönliche einem Prozess der Selbstdestruktion zum Opfer fällt.
In seinem bereits erwähnten Buch über Respekt angesichts von Ungleichheit spricht Sennett über den Neid, der in unserer Gesellschaft gefördert werde, und der Neidische, dies ist das Problem, verliere seine Selbstachtung. Sennett geht es weniger um den Neid auf den besseren sozialen Status, sondern um den Neid auf das Können eines andern. Sein Beispiel ist der Musiker, weil er selbst ein begabter Musiker war, bevor er wegen einer Handverletzung seine Musiker-Karriere aufgeben musste. Sennett kennzeichnet das Können als etwas, was gerade deshalb Neid erregt, weil es jenseits aller Beziehungen und Anerkennungsformen für den Könner etwas Befriedigendes hat. Am Neid gegenüber dem Musiker wird das Dilemma des Statusneids besonders deutlich. Der Statusneid gilt einem gesellschaftlichen Vorsprung, der Künstlerneid gerade der Freiheit von Statusproblemen. Und je mehr die Statuskonkurrenz alles in ihren Sog hineinzieht, desto seltener wird es ein Können unbelastet von Statusproblemen geben, ein Können also, das bei sich bleibt, weil die Tätigkeit das ist, was befriedigt.
Neid kann sich auf alles richten, auch auf Schönheit und Bildung. Im Statusneid tritt der Neid um Anerkennung, der nirgends fehlt, quasi nackt hervor. Die Individualisierung der Ungleichheit treibt den, der sich aus dem Gefühl der Unterlegenheit beschämt fühlt, in einen infiniten Regress der Anpassung, ja der Unterwerfung unter die herrschende Ordnung, um anerkannt zu werden. Die Scham, im beruflichen Leben unterlegen zu sein, weitet sich aus auf alles, was man ist. Durch die Flexibilisierung der Berufsbiographie lassen sich berufliche Normen nicht mehr eindeutig eingrenzen. Der Unterlegene glaubt sich an der herrschenden „Identitätsnorm“ (Goffman) gescheitert, und schämt sich umso mehr. Deshalb wird er alle Fähigkeiten, die sich nicht in einen Anerkennungsgewinn ummünzen lassen, über Bord werfen. Je flexibler die Subjekte werden müssen, um am Ball zu bleiben, desto geringer wird die Befriedigung aus der Qualität der Arbeit, es zählt eigentlich nur noch der Positionsgewinn.
Jetzt darf man nicht übersehen, dass Statusgewinn meist auch mit besseren Lebenschancen verknüpft ist, mehr Geld, mehr Verfügung über die eigene Zeit. Wer möchte das nicht. Und doch ist es das Erfolghaben, das attraktiver ist, als alles andere. Um seinetwillen sind viele bereit, weitaus mehr von ihrem Leben zu opfern, als sie faktisch bekommen. Was man in den Augen anderer ist, erscheint als das, was man auch für sich selbst ist. Die Relativierung aller sozialen Positionen lässt kein Berufsziel mehr zu, daher wird der Aufstieg zum einzigen Ziel. Angesichts gesellschaftlicher Hierarchien führt die Gleichheitsnorm dazu, sich nur im Aufstieg als jemanden zu wissen, der anerkannt ist. Da die Anerkennung, die im Statusgewinn liegt, immer mit vermehrtem Erwartungsdruck einhergeht, verwandelt sie sich leicht in einen Pyrrhussieg. Die Spiegelung im Anderen, die alle suchen, um sich als anerkannt zu wissen, steht immer an der Grenze zur Unterwerfung. Wo diese Grenze überschritten wird, hat der temporär im Konkurrenzkampf Überlegene sich im selben Moment an das System verloren, ohne das er nichts ist, und die Angst vor drohender Unterlegenheit sitzt ihm quälend im Nacken. „Niemals in der Geschichte konnten Unterlegenheitsgefühle (…) subkutan derart anwachsen, wie in einer Gesellschaft, wo „Erfolg und Überlegenheit“ sakrosankte Werte darstellen.“ (Neckel). Über- wie Unterlegenheit vermitteln sich hier nicht mehr über ein Normengefüge, sondern werden selbst zur Norm. Zu Subjektivitätskriterien gemacht, also ohne Bezug auf ein Tertium, fungieren sie wie moralische Alternativen. Deshalb kann der Versuch, überlegen zu sein, sich in der Abwertung des Anderen bestätigen. Der Unterlegene dagegen, der ja die Normen des Anderen teilt, muss sich als soziales Mängelwesen empfinden.
Wenn Unterlegenheit als Inbegriff subjektiven Mangels erscheint, wird die Scham als Indiz für Unterlegenheitsgefühle selbst bedrohlich. Es gibt eine Angst vor der Scham, man schämt sich seiner Scham. Die Scham signalisiert ja nicht mehr, dass man verpönte Begierden hat, die um der Geselligkeit willen preisgegeben werden müssen, weil es die Gesellschaft von Gleichen, die Elias gerade auch durch die Erhöhung der Schamgrenzen kommen sah, nie wirklich gab. Heute signalisiert die Scham, dass man mit seinem Überlegenheitswunsch gescheitert ist. Im Erfolg fühlt man sich frei und unabhängig, im Misserfolg glaubt man, dass alle Augen auf einen gerichtet sind. Das war immer so. Wird aber das Erfolghaben selbst zum alleinigen Motiv, dann trifft einen die Scham des Unterlegenen doppelt, dann nämlich quält nicht nur der Misserfolg hinsichtlich des angestrebten Ziels, sondern genauso die Tatsache, dass einen der Misserfolg quält. In dieser Scham wird offenbar, dass gerade diejenigen, die man überflügeln wollte, nun den Maßstab der eigenen Niederlage abgeben. In der Negation tritt das düpierte Anerkennungsbedürfnis wieder qualvoll hervor. Daher also die große Angst vor der Scham. Hier schützt die Scham nicht die soziale Form, wie das in so genannten Schamgesellschaften der Fall ist, wo die Beschämbarkeit auch als Tugendbeweis gilt, da die Angst vor der Scham das Einhalten der Formen garantiert.

Hier gibt es keine Gesellschaft, der man fraglos angehört, und deren Anerkennung man folglich nur durch den eigenen Missgriff verlustig gehen kann. Hier ist die Bedrohung durch Beschämung insofern allgegenwärtig, als jeder ehrgeizige Konkurrent einen ohne eigenes Zutun zum Verlierer machen kann. Die Grenzen werden immer wieder neu gezogen, und alle müssen schauen, dass sie nicht unversehens auf der falschen Seite gelandet sind.
Auf den letzten Seiten seiner „Geschichte der Kindheit“ spricht Philippe Ariès darüber, dass soziale Ungleichheit nicht immer schon mit Unter- oder Überlegenheit assoziiert wurde, sondern erst seit Beginn der bürgerlichen Gesellschaft. „Das Nebeneinander des Ungleichen, das einst selbstverständlich war, wurde (dem Bürgertum) unerträglich: der Widerwille der Reichen ist der Scham der Armen vorausgegangen. Die neue Gesellschaft stellte (…) jeder Lebensform einen gesonderten Raum zur Verfügung, innerhalb dessen ausgemacht war, dass die dominierenden Merkmale respektiert werden mussten, man sich einem konventionellen Modell, einem Idealtypus anzugleichen hatte und sich bei Strafe der Ausstoßung niemals von diesem entfernen durfte.“
Diese Angst vor der „Strafe der Ausstoßung“ hat nun in unserer Gesellschaft eine neue Dimension dazu gewonnen. Nicht nur droht Deklassierung, nicht nur Verarmung, vielmehr gibt es einfach nicht mehr für alle Platz. Derzeit funktioniert unsere Gesellschaft wie die Reise nach Jerusalem, dieses Kinderspiel, wo bei jeder Runde einer auf der Strecke bleibt. Da alle mit allen konkurrieren, bis sie ausgeschieden sind, kann es Solidarität in einem solchen Szenario nicht geben. Die Ängste, die in dieser Konstellation entstehen, sind allgegenwärtig, sie gehören zum Triebgrund unserer Gesellschaft. In der Schuldangst, die über Jahrhunderte ein Motor unserer Zivilisation war, steckte immer eine moralische Verpflichtung. Schamangst ist nie produktiv, in ihrer Latenz nie besiegbar, und am Ende selbstzerstörerisch. Um ihr zu entkommen wären neue Bündnisse nötig, ob es die in absehbarer Zeit gibt – ich weiß es nicht.

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