Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 176: Die fragmentierte Gesellschaft

Die Beschleu­ni­gungs­ge­sell­schaft

Rezension: Zu Hartmut Rosas Theorie der Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne,

aus: vorgänge Nr. 176 (Heft 4/2006), S. 136-140

Beschleunigungserfahrungen sind in der Gegenwartsgesellschaft ebenso alltäglich wie sie konstitutiver Bestandteil der Moderne sind. Was Paul Virilio für das Auto beschreibt, in dem das Armaturenbrett als bewegter „Führerstand“ dient, kennzeichnen Eisenbahn und Telegraf für das 19. Jahrhundert: Geschwindigkeit. Der Franzose ist sicherlich der bekannteste und schillernste Vertreter einer postmodernen Medientheorie, die nicht müde wird, auf die Geschwindigkeit als Merkmal der Moderne hinzuweisen.

Hartmut Rosa, Soziale Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne;  Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2005; 538 Seiten; 17 Euro

Doch soziologisch gewendet bleibt seine Dromologie kraftlos, da sie weder in der Lage ist, die Ursprünge und Mechanismen der Beschleunigung ausreichend zu erklären, noch  die sozialen Sphären des Alltags, der Medien und der Wirtschaft voneinander trennt.
Stellt Virilio die Sozialwissenschaften mit seinem Ansatz vor methodologische und empirische Probleme, so bietet sich aber doch die Möglichkeit, eine Geschichte der Moderne als eine der  gesellschaftlichen Wahrnehmung von Raum und Zeit zu schreiben. Raum und Zeit, ursprünglich noch eine Einheit, treten im Laufe der Gesellschaftsentwicklung zusehends auseinander. „Für Kant waren am Ende des 18. Jahrhunderts Raum und Zeit noch Anschauungsformen a priori. Im 19. Jahrhundert dann schienen sie bereits durch Erfahrung erworben und ständig neu erwerbbar. Im 20. Jahrhundert erschlossen sich Raum und Zeit als neue, komplexe Erfahrung, als Empfinden von Bewegung, Prozess und Perspektivwechsel“ (Kaschuba, 2004: 253). Kaschuba skizziert hier dank technologisch-biologischer Entwicklungen neue Welt-Räume als neue symbolische Topografien und Geografien, in denen sich ein verändertes Raum-Zeit-Verhältnis widerspiegelt. Aus einem anderen Blickwinkel wird die ständige Bewegung, die Steigerung nicht nur der technischen Entwicklung, allerdings zum Problem. Virilios These von der Vernichtung des Raumes und der Zeit (vgl. Morisch, 2006: 421) beschreibt Geschwindigkeit als ein Kennzeichen und Problem der Moderne, welches sich noch in der Globalisierungskritik und in der Rede vom „globalen Dorf“ wiederfindet.
Mit Hartmut Rosas Habilitationsschrift „Beschleunigung“ liegt nun erstmals eine Studie vor, die das Phänomen konsequent soziologisch vermisst. Anders als in Norbert Elias Klassiker „Über die Zeit“, der diese wissenssoziologisch rückbindet [1], wird bei Rosa, mittlerweile Professor für allgemeine Soziologie in Jena, die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne zum Thema. Auch er geht, wie Virilio, von Modernisierung als Erfahrung der Beschleunigung aus. Dabei übersteige „(…) die in der Moderne konstitutiv angelegte soziale Beschleunigung in der Spätmoderne einen kritischen Punkt (…), jenseits dessen sich der Anspruch auf gesellschaftliche Synchronisation und soziale Integration nicht mehr aufrechterhalten lässt“ (vgl. Rosa, 2005: 49f.). Zu einfach sei aber die bloße Diagnose einer Beschleunigung, denn einerseits gelte es diese hinsichtlich der verschiedenen sozialer Dimensionen zu differenzieren, andererseits seien auch Momente der Erstarrung in der Spätmoderne festzustellen. Dass in einer Doppeldiagnose Erstarrung und Beschleunigung zusammenfallen zeigt sich auch in der ebenfalls von Virilio stammenden Metapher des „rasenden Stillstandes“, die als ein schneller Wandel in Abwesenheit einer Ziel- oder Richtungsbestimmung übersetzt werden kann.
Beschleunigung lässt sich auf drei Ebenen differenzieren (vgl. Rosa, ebd.: 113f.).: 1. Als „technische Beschleunigung, deren Form im Wesentlichen intentional und zielgericht ist, [2]. als Steigerung der sozialen Veränderungsraten, bzw. als nicht inhärent zielgerichtete soziale Veränderung, und 3. als Erhöhung des Tempos des Lebens durch eine Steigerung der Handlungsepisoden pro Zeiteinheit.
Letztere ist durch eine Verknappung von Zeitressourcen, begründet. Zeitnot tritt dem modernen Subjekt nahezu institutionalisiert gegenüber. Mit Bezug auf Hermann Lübbe bezeichnet Rosa diese Phänomen als Gegenwartsschrumpfung: „Gegenwartsschrumpfung – das ist der Vorgang der Verkürzung der Extension der Zeiträume, für die wir mit einiger Konstanz unserer Lebensverhältnisse rechnen können“ (Lübbe, zit. nach Rosa, a.a.O.: 132). Im Ergebnis wirken die Zeitstrukturen in der Spätmoderne in hohem Maße fragmentiert, Handlungs- und Erlebnisfolgen sind voneinander getrennt.
Die zweite Ebene, der Anstieg der sozialen Veränderungsraten, bezieht sich auf den sozialen Wandel, der sich nunmehr von einer intergenerationalen Veränderungsgeschwindigkeit in der Frühmoderne, über eine Phase der Synchronisation von Wandel und Generationenfolge zu einem tendenziell intergenerationalem Wandlungstempo gesteigert hat (vgl. ebd.: 178).
Die erste Ebene, die der technischen Beschleunigung, jene die den meisten Untersuchungen zur Akzeleration zu Grunde liegt, kennzeichnet die materielle Basis und Ermöglichungsbedingung für soziale Beschleunigungsprozesse. Technische Beschleunigung verändert die einer Handlung zu Grunde gelegten Zeitmaßstäbe. Gleichzeitig ist die soziale Beschleunigung Motivgeber für technische Akzelerationsprozesse.
Das Verhältnis der drei Ebenen bestimmt Rosa in seiner Hauptthese. Diese besagt, „dass die modernde Gesellschaft als Be- schleunigigungsgesellschaft in dem Sinne verstanden werden kann, dass in ihr eine (strukturell und kulturell voraussetzungsreiche) Verknüpfung der beiden Beschleunigungsformen – technische Beschleunigung und Steigerung des Lebenstempos durch Verknappung der Zeitressourcen – und damit von Wachstum und Beschleunigung vorliegt“ (ebd.: 120).
Dass Akzelerationsprozesse zu einem immanenten und sich selbst antreibenden Bestandteil der Moderne geworden sind, führt letztlich zu einem Steigerungsspiel (vgl. Schulze 2003) und zum Problem der Inkongruenz von verschiedenen Zeitebenen. Scheint das Auseinandertreten von  erlebter Zeit und erinnerter Zeit noch einem erklärbaren und von gesellschaftlichen Entwicklungen unabhängigem subjektivem Zeitparadoxon geschuldet, so ist das Ausein- anderklaffen von Lebenszeit und Weltzeit der technischen Beschleunigung, vor allem technischen und medialen Erfindungen, geschuldet (vgl. Rosa, a.a.O.: 243). Ergebnis dieses Vorgangs ist eine „merkwürdige“ Form der zeitlosen Zeit, eine „Verzeitlichung der Zeit“ in der über Dauer, Sequenz, Rhythmus und Tempo von Handlungen erst im Vollzug, also in der Zeit selbst, entschieden werden kann. Eine Planbarkeit von Handlungen scheint obsolet. Die notwendige soziale Ordnung entsteht in der Zeit selbst.
Die Entwicklung der Moderne beginnend mit den technischen Revolutionen im 19. Jahrhundert muss aus dieser Sicht als eine Revolution im Dienste der Uhr interpretiert werden. Ergebnis dieser Revolution ist eine schier unüberschaubare Vielzahl an Lebensgestaltungsmöglichkeiten und somit auch an Handlungsoptionen. Ein Ende des Fortschritts ist nicht abzusehen. Ursprüngliche Idee der technischen Revolutionen war es, Zeit ökonomisch effizient machen. Paradoxerweise kann dieses Versprechen, Zeit durch technische Entwicklungen zu sparen, nicht eingelöst werden.
Scheint auf den ersten Blick (technische) Beschleunigung als einzig mögliche Strategie, Weltzeit und Lebenszeit zumindest tendenziell zu versöhnen, „weil sich umso mehr Möglichkeiten realisieren lassen, je schneller die einzelnen Situationen, Episoden und Ereignisse durchlaufen lassen“ (ebd.: 291), so erweist sich bei genauerem Hinsehen, dass die Steigerungsrate unweigerlich die Beschleunigungsrate übersteigt. „Das (spät)moderne Subjekt kommt niemals an den Punkt, alt und lebensgesättigt zu sterben, die Lebenszeit also mit der Weltzeit versöhnt zu haben (…) weil alles, was es erlebt hat, längst überholt worden ist durch neue und gesteigerte Erlebnis-, Ereignis- und Erfahrungsmöglichkeiten“ (ebd.: 294). Die Zeiterfahrungen des Individuums in der Gegenwartsgesellschaft sind durch einen Gewinn an lebenspraktischer Zeitsouveränität einerseits und durch einen Verlust an Autonomie und Kontrolle über das eigene Leben andererseits geprägt. Diese Paradoxie führt Rosa dazu, das bekannte (postmoderne) Postulat vom Ende der Zeit und des Raumes soziologisch zu deuten. Seine These, dass das Tempo der Gesellschaft einen kritischen Punkt überschritten habe, reformuliert deshalb eine postmoderne Gesellschaftstheorie in der die Beschleunigung der sozialen Verhältnisse „eine neue Qualität dergestalt annimmt, dass die Linearität und Sequenzialität der individuellen und gesellschaftlichen Wahrnehmungen und Bearbeitungen von Problemen und Veränderungen aufgebrochen und der Anspruch auf Integration aufgegeben wird“ (ebd.: 349).
Auch seine Diagnose des Bedeutungsverlustes des Raumes aufgrund der Geschwindigkeit bei der gleichzeitigen Aufwertung regionaler Besonderheiten stützt postmoderne Zeitdiagnosen a lá „Glokalisation“. Für Rosa sind strukturell und kulturell bedeutsame Raumqualitäten heute nicht mehr territorial oder lokal fixiert, sondern durch gleichsam hin und her fließende, immer wieder die Richtung ändernde Ströme oder Flüsse von Macht, Kapital, Waren und Menschen gekennzeichnet (ebd.: 343). Konsequenterweise erscheint dann in dieser Lesart auch „das Ende der Geschichte“ (Fukuyama) nur als spezifische Form von verzeitlichter Geschichte.
Doch Rosas Argumentation geht nicht in den bekannten Diagnosen der Postmoderne auf. Eher verhält es sich umgekehrt, da er die postmodernen Identitäts- und Ordnungstheorien als nichts anderes als die logische Folge der diachronen und synchronen lebenspraktischen Verzeitlichungen der Zeit, die wiederum auf sozialer Beschleunigung beruhen, interpretiert.
Die Ursachen der Beschleunigungsdynamik sind für ihn strukturell in Anlehnung an die systemtheoretische Differenzierungstheorie in der Verknüpfung von Komplexitätssteigerung und Komplexitätstemporalisierung zu sehen.
Kulturell beschreiben sie die Folge eines modernen Weltbildes, welches die Angleichung von Welt- und Lebenszeit zum Ziel hat. Die Lösung des Problems der Zeitknappheit auf mikrosozialer Ebene, eben die Idee des Zeitgewinns durch technische Beschleunigung, erweist sich auf Makroebene als Element seiner Ursache (vgl. ebd.: 251). Ökonomisch sind die Ursachen nach Rosa Folgen der Kapitalsverwertungslogik, der eine Steigerung und Beschleunigung bereits eingeschrieben ist.
Bleibt zu fragen, wie ein Ausstieg aus der Beschleunigungslogik und der einhergehenden Desynchronisation der gesellschaftlichen Teilbereiche – aufgrund derer z.B. auch die Politik in der Spätmoderne hinter den Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft zurückbleibt (vgl. ebd.: 416f.) – bzw. wie der Fortgang der Moderne zu denken sei.
Ein Ausweg aus dem Zeit-Dilemma bleibt Rosa zufolge kaum, denn ein Griff zur Notbremse in der Technologieentwicklung, oder eine Equilibrierung der jeweiligen sozialen Dimensionen auf einem höheren Geschwindigkeitsniveau scheinen unrealistisch. Die weitere Gesellschaftsentwicklung werde aller Voraussicht nach weiterhin durch den Doppelaspekt von Beschleunigung und Erstarrung gekennzeichnet.
Anders als noch Schulze, der eine nicht besonders überzeugende (moralische) Lösung aus der Steigerungsspirale zu finden sucht(2), setzt Rosa auf eine kritische Theorie als eine Kritik der Zeitverhältnisse im wahrsten Sinne des Wortes. Deren Wirksamkeit setzt allerdings eine Stärkung der Sozialwissenschaften als gestalterisch wirksame Stimme der Gesellschaft voraus, die zurzeit nicht in Sicht ist.
In toto ist Rosas Studie aber eine bedeutende Konklusion der bisherigen Zeitsoziologie, die nicht nur überzeugend die Zusammenhänge zwischen ökonomischer, gesellschaftsevolutionärer und sozialer Dynamik erklären kann, sondern zudem eine Konkretisierung für einen bisher wenig differenzierten Aspekt in der Gesellschaftstheorie der Moderne leistet. Der Vermutung,  dass er einer postmodernen Gesellschaftstheorie und der Vernichtung von Raum, Zeit und Geschichte das Wort redet, tritt er mit der Betonung einer kritischen Theorie entgegen, die an den versäumten Autonomieversprechen der Moderne anzusetzen hat. Damit sind die postmodernen Auflösungsbefunde allerdings nicht entkräftet; es bleibt die Schwierigkeit bestehen, diese empirsch zu überpüfen.

1  „Das Erinnerungsbild von der Zeit, die Vorstellung von ihr, die ein einzelner Mensch besitzt, hängt also von dem Entwicklungsstand der die Zeit repräsentierenden und kommunizierenden sozialen Institutionen ab und von den Erfahrungen, die der Einzelne mit ihnen von klein auf gemacht hat.“ (Elias, 1988: XXI).
2  Schulze sieht letztlich eine Fortsetzung der Moderne mittels kollektiver, selbstreflexiver Lernprozesse gegeben. Durch sie werde das Modell der Steigerung durch ein intelligentes Modell der Ankunft ersetzt. Vgl. Schulze, 2003: 330ff.

Literatur


Elias, Norbert (1988): Über die Zeit. Frankfurt am Main.
Kaschuba, Wolfgang (2004): Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen Moderne. Frankfurt am Main.
Morisch, Claus (2006): Paul Virilio: Geschwindigkeit ist Macht. In: Stephan Moebius/Dirk Quadflieg (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart. Wiesbaden.

Schulze, Gerhard (2003): Die beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Gesellschaft? München und Wien.

Virilio, Paul (1996): Der negative Horizont. Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung. Frankfurt am Main.

Schulze, Gerhard (2003): Die beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert? München und Wien.
Virilio, Paul (1996): Der negative Horizont. Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung. Frankfurt am Main.

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