Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 176: Die fragmentierte Gesellschaft

Eine geschlos­sene Gesell­schaft

Eliten in Deutschland,

aus: vorgänge Nr. 176 (Heft 4/2006), S. 51-59

Jahrzehntelang beherrschte das Bild von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Schelsky) oder der individualisierten Gesellschaft mit Fahrstuhleffekt (Beck) die öffentliche wie die sozialwissenschaftliche Wahrnehmung der bundesdeutschen Wirklichkeit. Die deutsche Gesellschaft hatte den Ruf, keine allzu großen sozialen Unterschiede mehr zu kennen, sich durch eine vergleichsweise hohe soziale Mobilität auszuzeichnen und im Grundsatz jedermann die Chance zu bieten, sich durch individuelle Leistung nach oben zu arbeiten. Dieser Eindruck galt auch bezüglich der deutschen Eliten. Auch sie galten als im internationalen Vergleich sozial sehr offen, der Zugang zu ihnen als ganz überwiegend oder gar ausschließlich leistungsbasiert. Mit hinreichender Anstrengung und angemessener Ausbildung könne es prinzipiell ein jeder bis an die Spitze schaffen, so die herrschende Vorstellung.
Dass die deutschen Eliten in ihrer sozialen Rekrutierung kein repräsentatives Abbild der Gesellschaft boten, wurde in der öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskussion nicht als Widerspruch wahrgenommen. Soweit das mehr oder minder deutliche Übergewicht der in bürgerlichen oder großbürgerlichen Familien aufgewachsenen Personen und das weit gehende Fehlen vor allem von Arbeiterkindern in den deutschen Eliten    überhaupt thematisiert wurden, begründete man sie mit der „Bildungsferne“ der Arbeiterschaft und der unteren Mittelschicht. Typisch für diese Sichtweise ist Dahrendorf, der die Ursachen der „Sozialschichtung der Bildungschancen“ und damit der „höchst unrepräsentativen Herkunftsschichtung der deutschen Führungsgruppen“ vor allem in der „sozialen Distanz der Arbeiter von den Bildungsinstitutionen“ ortete. Finanzielle Aspekte spielten in seinen Augen dagegen nur eine untergeordnete Rolle. In der Bundesrepublik könne sich jede Arbeiterfamilie das Universitätsstudium mindestens eines Kindes leisten“ (Dahrendorf 1962: 22), so seine Worte schon vor über vier Jahrzehnten, also noch vor dem massiven Ausbau des deutschen Bildungssystems und der Einführung des BAFöG. Damit waren Anspruch und Realität in den Augen der meisten Betrachter versöhnt. Die soziale Offenheit der deutschen Gesellschaft und ihrer Eliten war gegeben, zumindest „prinzipiell“.

Die Wirtschaft­s­e­lite – bürgerlich bis großbür­ger­lich

Mit der Wirklichkeit hatte die Vorstellung von den offenen Funktionseliten schon in der alten Bundesrepublik nur relativ wenig zu tun. Das galt vor allem für die Wirtschaft. So rekrutiert sich die deutsche Wirtschaftselite seit Jahrzehnten zu über vier Fünfteln aus dem Bürger- und Großbürgertum. Ungefähr jeder zweite Spitzenmanager kommt aus dem Großbürgertum, [1] den oberen 5 Promille der Bevölkerung, ein weiteres gutes Drittel aus dem übrigen Bürgertum, [2] weiteren 3 Prozent der Bevölkerung, und gerade einmal ca. 15 Prozent aus der Arbeiterschaft und den Mittelschichten, den unteren 96,5 Prozent der Bevölkerung. Die Veränderungen in den vergangenen fast 40 Jahren blieben insgesamt gering und folgen auch keinem durchgängigen Muster, mit einer Ausnahme. Der Anteil der aus großbürgerlichen Familien stammenden Spitzenmanager nahm langsam, aber kontinuierlich zu. Er liegt mittlerweile bei genau 50 Prozent, berücksichtigt man nur die deutschen Vorstandsvorsitzenden, und bei 51,7 Prozent, nimmt man die neun Ausländer in einer solchen Position dazu.
In der Öffentlichkeit wurde diese Tatsache nicht zur Kenntnis genommen. Die sozialwissenschaftliche Forschung interessierte sich entweder nicht für die Wirtschaftselite bzw. die Eliten im Allgemeinen oder aber bekam nur unzureichende Daten [3] und die Medien konzentrierten sich fast ausschließlich auf die spektakulären Fälle, das heißt in erster Linie auf die Ausnahmen von der Regel. Typisch ist die Berichterstattung über die in den letzten drei Jahren neu berufenen Vorstandsvorsitzenden in den 30 DAX-Unternehmen. Man erfuhr fast ausschließlich etwas über Klaus Kleinfeld, den neuen Siemens-Chef. Sein Vater war Arbeiter und arbeitete sich dann mühsam innerbetrieblich zum Betriebsingenieur hoch. Kleinfeld bildete damit einen scharfen Kontrast zu seinem Vorgänger Heinrich von Pierer, der aus einer alten KuK-Offiziersfamilie kam. Das machte seine Person für die Medien so interessant. Sie schien exemplarisch zu zeigen, dass es wirklich jedermann bis an die Spitze eines deutschen Großkonzerns schaffen kann. Dass dieser Eindruck mit der Realität wenig gemein hat, hätte schon ein einfacher Blick auf die zwölf anderen neuen Vorstandschefs zeigen können. Sie kommen nämlich mit Ausnahme des neuen BMW-Chefs Reithofer, der in einem Metzgerhaushalt groß geworden ist, zu jeweils der Hälfte aus bürgerlichen und großbürgerlichen Verhältnissen. Chefredakteur, Richter und Diplomingenieur, so lauten die väterlichen Berufspositionen mit dem geringsten Status. Mit elf von dreizehn Vorstandsvorsitzenden liegt der Anteil der Bürgerkinder hier wie in der Gesamtgruppe der Spitzenmanager bei ca. 85 Prozent.
Diese exklusive soziale Rekrutierung lässt sich weder mit Leistung noch vorrangig mit den strukturellen sozialen Auslesemechanismen im deutschen Bildungssystem begründen. Das zeigen die Bildungswege und Karriereverläufe von 6.500 promovierten Ingenieuren, Juristen und Wirtschaftswissenschaftlern der Jahrzehnte zwischen 1955 und 1999 deutlich (Hartmann 2002). In den 400 größten deutschen Unternehmen waren die Aussichten auf eine Position in der ersten Führungsebene (Vorstand oder Geschäftsführung) für die Kinder des Großbürgertums bei vollkommen gleicher Qualifikation (Studiendauer, Promotionsalter, Auslandssemester etc.) durchschnittlich dreimal, für die des Bürgertums immerhin noch doppelt so gut wie für ihre Kommilitonen aus der restlichen Bevölkerung. In den jüngeren Jahrgängen reicht die Differenz sogar bis zum Fünffachen. Wenn man einzelne Berufsgruppen betrachtet, zeigen sich noch sehr viel krassere Unterschiede. Wer von den Promovierten zum Beispiel aus dem Haushalt eines leitenden Angestellten kam, hatte bereits eine zehnmal so große Chance, in die erste Führungsebene eines Großkonzerns zu gelangen, wie sein fachlich gleich guter Kommilitone aus einer Arbeiterfamilie. Wer einen Geschäftsführer oder ein Vorstandsmitglied zum Vater hatte, dessen Aussichten waren sogar siebzehnmal besser.

Tabelle 1: Die soziale Herkunft der deutschen und ausländischen Vorstandsvorsitzenden der 100 größten deutschen Unternehmen 1970, 1995 und 2005 (in Prozent)

Quelle: Eigene Recherchen

Der klassen­spe­zi­fi­sche Habitus als ausschlag­ge­bender Karrie­re­faktor

Die hohe Selektivität in der sozialen Rekrutierung der deutschen Wirtschaftselite hat   eine wesentliche Ursache. Für die Besetzung von Führungspositionen in der deutschen Wirtschaft ist nicht, wie von ihren Repräsentanten immer wieder betont wird, die Leistung ausschlaggebend, sondern der klassenspezifische Habitus der Kandidaten. Die für die Auswahl zuständigen Eigentümer, Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder oder sonstigen Vertreter der Unternehmensführungen suchen im Kern jemanden, der ihnen in Persönlichkeit und Werdegang ähnelt. Zwar müssen auch die Leistung und der Bildungsabschluss stimmen, letztlich entscheidend aber sind sie nicht.
Entscheidend ist vielmehr der Habitus der Bewerber. Wer in die Vorstände und Geschäftsführungen großer Unternehmen gelangen will, der muss vor allem eines besitzen: habituelle Ähnlichkeit mit den Personen, die dort schon sitzen. Da die Besetzung von Spitzenpositionen in großen Unternehmen von einem sehr kleinen Kreis von Personen entschieden wird und das Verfahren nur wenig formalisiert ist, spielt die Übereinstimmung mit den sog. „Entscheidern“, soweit es Verhalten und Einstellungen betrifft, die ausschlaggebende Rolle. Es wird bei solchen Besetzungsprozessen sehr viel weniger nach rationalen Kriterien entschieden, als man angesichts der umfangreichen Kriterienkataloge, die es in den meisten Großkonzernen gibt, annehmen sollte.
Für eine solche Vorgehensweise spricht aus Perspektive der Entscheider ein wesentlicher Grund. Man kann davon ausgehen, dass jemand mit einem der eigenen Person vergleichbaren Persönlichkeitsprofil und Werdegang als Kollege im Vorstand oder in der Geschäftsführung auch ähnlich agieren wird wie man selbst. Aus eigener Sicht wird damit nicht nur das Risiko einer Fehlbesetzung minimiert, denn man hält sich persönlich ja für den richtigen Mann an der richtigen Stelle. Etwas anderes ist noch wichtiger. Der Druck, unter dem Topmanager bei ihren Entscheidungen stehen, und die häufig äußerst unsichere Informationsbasis, aufgrund derer sie diese Entscheidungen treffen müssen, lässt sie nach Männern – Frauen gibt es in diesen Etagen so gut wie nicht – suchen, denen sie glauben vertrauen zu können oder deren Persönlichkeit sie zumindest gut einschätzen können. Mit Vertrauen ist dabei nicht das persönliche Vertrauen wie unter Freunden gemeint, sondern gemeinsame Denk- und Verhaltensmuster, das, was man gemeinhin mit „die Chemie muss stimmen“ oder „auf gleicher Wellenlänge liegen“ bezeichnet. Eine gleiche oder zumindest ähnliche soziale Herkunft und der damit verbundene Habitus garantieren all das am ehesten.
Man wählt in den Chefetagen der deutschen Wirtschaft dementsprechend in erster Linie nach vier persönlichkeitsgebundenen Kriterien aus: intime Kenntnis der dort gültigen Regeln, breite bildungsbürgerliche Allgemeinbildung, unternehmerisches Denken und Souveränität. Intime Kenntnis der herrschenden Regeln bedeutet, dass man weiß, wie die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze in den Chefetagen lauten, wie die Dress- und Verhaltenscodes dort aussehen. Obwohl in den Medien wohl am ausführlichsten erörtert, haben die richtige Kleidung und das perfekte Benehmen, d.h. die in den letzten Jahren wieder in Mode gekommene Etikette, unter den vier erwähnten Anforderungen das geringste Gewicht. Eine breite bildungsbürgerliche Allgemeinbildung ist weit bedeutsamer. Man sollte sich, will man in diesen Kreisen akzeptiert werden, in Fragen der Musik, der Malerei, der Literatur, aber auch der Geschichte oder der Politik zumindest so weit auskennen, dass man zum Beispiel die Gotik von der Romanik unterscheiden, die Unterschiede zwischen Impressionismus und Expressionismus benennen oder den hundertjährigen Krieg zwischen Frankreich und England im zutreffenden Zeitraum verorten kann.
Unternehmerisches Denken heißt im Kern vor allem, bereit zu sein, Risiken einzugehen. Das macht sich gerade dann bemerkbar, wenn es um Entscheidungen von größerer Tragweite geht. Eine Führungskraft, die aus einer Arbeiterfamilie stammt und mit einer die Karriere zwar fördernden, zugleich aber auch sehr risikoreichen Aufgabe konfrontiert wird, wird eher zögern, weil sie schon Erreichtes aufs Spiel setzen muss. Jemand, dessen Vater größerer Unternehmer, Geschäftsführer oder renommierter Wirtschaftsanwalt ist, weiß demgegenüber, dass es für ihn immer mehrere Chancen gibt, ein Scheitern also kein Drama darstellt, und wird dementsprechend risikofreudiger vorgehen. Das ist sein entscheidendes Plus. Er fällt Vorgesetzten genau durch diese Eigenschaft auf, macht sie auf sich aufmerksam.
Der wichtigste Punkt von allen aber ist Souveränität. Durch den souveränen Umgang mit den gültigen Regeln und Maßstäben demonstriert man, dass man sich seine Verhaltens- und Denkweisen nicht mühsam antrainiert, sondern sie als selbstverständlichen Bestandteil der eigenen Persönlichkeit gleichsam nebenbei in Kindheit und Jugend erworben hat. Die wichtigen Persönlichkeitsmerkmale aufzuweisen, ohne den Prozess des Erwerbs erkennen zu lassen, darauf kommt es an (Bourdieu 1982). Sich so in den Vorstandsetagen bewegen, als sei einem das Gelände seit jeher vertraut, können selbstverständlich am einfachsten die, die in diesem oder einem vergleichbaren Milieu aufgewachsen sind. Persönliche Souveränität macht daher die entscheidende Differenz aus zwischen denen, die dazu gehören, und denen, die nur dazu gehören möchten. Norbert Elias hat diese Differenz in seinem Klassiker „Über den Prozess der Zivilisation“ mit den Worten beschrieben: „Bei den meisten Menschen der aufstiegsbegierigen Schichten führt das Bemühen darum zu ganz spezifischen Verkrümmungen des Bewusstseins und der Haltung (…) als ‚Halbbildung’, als Anspruch etwas zu sein, was man nicht ist, als Unsicherheit des Verhaltens und des Geschmacks (…)“ (Elias 1997: 436).
Wer wirklich souverän ist, der geht mit den herrschenden Regeln und Gepflogenheiten selbstbewusst und locker um. Wenn man beispielsweise aus seiner Abneigung gegenüber Schiller oder Wagner keinen Hehl macht und zugleich seine Vorliebe für Manga-Comics oder Punkrock bekennt, so wirkt das positiv, als Demonstration von Unabhängigkeit und eigenem Geschmack, wenn Reden und Handeln gleichzeitig signalisieren, dass man den bildungsbürgerlichen Kanon durchaus kennt, ihn aber bewusst ignoriert. Man kann diesen Kanon verletzen, wenn man weiß, dass man es tut, und wenn man, falls gewünscht, auch begründen kann, warum man es tut. Es geht stets darum, die Codes souverän zu behandeln, und souverän agieren kann in erster Linie derjenige, der das Terrain, auf dem er sich bewegt, genau kennt. Je detaillierter die Kenntnis, umso souveräner kann man sich bewegen. Wer sich als sozialer Aufsteiger hochgearbeitet hat, wird dagegen zumindest eines immer im Hinterkopf haben, das Gefühl, dass es da vielleicht irgendein letztes Geheimnis gibt, das er nicht kennt, weil man es nicht erlernen kann. Und allein dieses Gefühl verunsichert.

Die sozial­struk­tu­relle Verbür­ger­li­chung der politischen Elite

Da auch die Eliten aus Justiz und Verwaltung mit ungefähr drei Fünfteln weit überproportional aus dem Bürgertum stammen, entsprach über lange Jahrzehnte nur eine Elite dem Bild der sozial offenen Mittelstandsgesellschaft wenigstens halbwegs, die politische Elite. Zwar waren Bürgerkinder auch in ihr überdurchschnittlich repräsentiert, dennoch war sie traditionell bis auf die FDP, deren Spitzenpersonal sich mit wenigen, nach außen hin aber auch deutlich erkennbaren Ausnahmen wie Möllemann oder Bangemann schon immer aus den Familien von Akademikern, Unternehmern und Adligen rekrutierte, überwiegend kleinbürgerlich, und zwar auf Bundes- wie auf Landesebene. Deutlich wird das z.B. bei den ehemaligen Bundeskanzlern. Aus den Reihen des Bürgertums kam nur ein einziger, Helmut Schmidt. Er wuchs auf als Sohn eines Studienrats, der wiederum das uneheliche Kind eines Kaufmanns war. Schmidt hat also bildungs- wie wirtschaftsbürgerliche Wurzeln. Das verlieh ihm über Jahrzehnte eine Sonderstellung. Er gilt bis heute als die perfekte Verkörperung des „Elder statesman“. Wer kann sich Männer wie Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger, Helmut Kohl oder Gerhard Schröder, die Kinder von Arbeitern, mittleren Angestellten und Beamten sowie kleinen Selbständigen, in dieser Rolle oder gar als Mitherausgeber der ZEIT vorstellen.
Die kleinbürgerliche Prägung der Politik war im Kern auf die Dominanz der beiden großen Volksparteien CDU/CSU und SPD zurückzuführen. Diese beiden Massenparteien boten mit ihrer großen und sehr breiten Mitgliedschaft, in der die un- und angelernten Arbeiter allerdings stets weit unter- und die Mittelschichten deutlich überrepräsentiert waren, ein vergleichsweise getreues Abbild einer bundesdeutschen Gesellschaft, die im Kern kleinbürgerlich war. Das galt mit Abstrichen auch für ihre Spitzenpolitiker; denn wer in der CDU/CSU oder der SPD ganz nach oben kommen wollte, der musste die berühmte Ochsentour machen, den langwierigen Prozess des allmählichen Aufstiegs von der kommunalen über die regionale bis hin zur Bundesebene auf sich nehmen. Das sicherte der Parteibasis durch die Kandidatenaufstellung für öffentliche wie für Parteiämter einen spürbaren Einfluss auf die Karriereverläufe. Der kleinbürgerliche Charakter der Parteien setzte sich auf diesem Wege bis hinein in die Führungspositionen durch.
Das hat sich in den letzten Jahren tief greifend geändert. Mit der Regierung von Angela Merkel hat die Bundesrepublik Deutschland nun zum zweiten Mal nach 1966 eine große Koalition der beiden Volksparteien CDU/CSU und SPD. Ein Vergleich der beiden großen Koalitionen, der unter Kurt Georg Kiesinger in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre und der aktuellen unter Angela Merkel zeigt überaus deutlich, wie sehr sich die politische Elite des Landes in ihrer sozialen Zusammensetzung gewandelt hat. 1966 wurde die Regierung geführt von dem Sohn eines kaufmännischen Angestellten, Kanzler Kiesinger, und dem unehelichen Kind einer Verkäuferin, Außenminister Brandt. Die anderen zentralen Ressorts Inneres, Finanzen, Wirtschaft und Justiz leiteten Männer, die je zur Hälfte aus kleinbürgerlichen und aus bürgerlichen Verhältnissen stammten. Lücke und Strauß als Söhne eines Steinbruchmeisters und eines Metzgers zählten zur ersten Kategorie, Schiller und Heinemann als Kinder eines Ingenieurs und eines Krankenkassendirektors zur zweiten. Von den sechs wichtigsten Ämtern wurden also nur zwei von Ministern aus bürgerlichen Familien besetzt.
Welch ein Unterschied zu heute. In der jetzigen Regierung ist es genau umgekehrt. Gerade noch eines der sechs entscheidenden Ministerien wird von jemand geführt, der nicht aus bürgerlichen Verhältnissen stammt. Es ist das Außenministerium. Dessen Chef, Steinmeier, ist der Sohn eines Tischlers. Die anderen fünf Spitzenpositionen sind in bürgerlicher Hand. Bundeskanzlerin Merkel kommt aus dem bildungsbürgerlichen Haushalt eines Pfarrers und einer Lehrerin. Innenminister Schäuble hat einen Steuerberater zum Vater und eine Landtagsabgeordnete zur Mutter. Finanzminister Steinbrück stammt aus einer Architektenfamilie. Justizministerin Zypries ist die Tochter eines Unternehmers und Wirtschaftsminister Glos der Sohn eines Mühlenbesitzers und Landwirts. Bei den Ministerpräsidenten ist vergleichbares zu beobachten, am deutlichsten in den drei großen süddeutschen Bundesländern. Dort sitzen heute mit Koch, Oettinger und Stoiber die Söhne eines Ministers, eines Wirtschaftsprüfers und eines Kaufmanns an der Regierungsspitze. Früher waren es mit Wallmann, Teufel und Strauß die Söhne eines Realschullehrers, eines Bauern und eines Metzgers. Auch hier haben Bürgerkinder Kleinbürgerkinder ersetzt. 
Die massive Änderung in der sozialen Rekrutierung der deutschen politischen Elite hat seine Wurzeln in den Umstrukturierungen und der Erosion der beiden großen Volksparteien. Deren Mitgliederzahl ist von Höchstständen um 1980 herum bei der SPD von über 1 Million auf inzwischen nur noch 565.000 gesunken, bei der CDU (trotz eines zwischenzeitlichen Zugangs von circa 110.000 Mitgliedern aus den ehemaligen DDR-Blockparteien) von fast 750.000 auf gut 560.000. Die übrig gebliebenen Mitglieder sind zudem erheblich überaltert und in hohem Maße inaktiv. Auch bei Wahlen haben beide Parteien massive Verluste zu verzeichnen. Konnten sie früher zusammen stets um die 90 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen, kamen sie bei der letzten Bundestagswahl auf weniger als 70 Prozent, bei den letzten Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus noch gerade auf die Hälfte. Von den Wahlberechtigten erreichten sie statt der früher üblichen vier Fünftel schon bei der Bundestagswahl nur noch jeden zweiten, bei den Berliner Wahlen nicht einmal mehr jeden dritten. Die tiefe Krise der Volksparteien ist ein Ausdruck der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft, die ihre traditionelle Basis, die Mittelschichten und die Facharbeiterschaft, weitaus stärker bedroht als die Klientel der FDP oder der Grünen.
Dieser Erosionsprozess sorgt auch für eine spürbare Veränderung der klassischen Karrierewege. Die traditionelle Ochsentour hat erheblich an Bedeutung verloren. Dass im letzten Bundestag erstmals kein einziger Abgeordneter mehr saß, der zuvor in einem Sozialverband oder einer Gewerkschaft gearbeitet hatte, ist ein sichtbares Anzeichen für diese Entwicklung. Wenn die Parteibasis an Einfluss verliert und gleichzeitig weniger repräsentativ ist, dann steigt fast parallel dazu der Anteil von Politikern mit bürgerlicher Herkunft und von Quereinsteigern. So erfolgt auch die Berufung in ein Ministeramt in zunehmendem Maße unmittelbar aus Spitzenpositionen anderer Sektoren, vor allem aus der Verwaltung. Charakteristisch für diesen Trend ist der Berufsweg von Justizministerin Zypries. Sie wechselte nach einer kurzen Tätigkeit an der Universität zunächst als Referentin in die hessische Staatskanzlei, von dort dann als Mitarbeiterin an das Bundesverfassungsgericht, darauf als Referatsleiterin an die Staatskanzlei in Niedersachsen und schließlich als Staatsekretärin in das Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales in Hannover und ins Bundesinnenministerium. Wer aber aus einer Spitzenposition in der Verwaltung, der Justiz oder der Wirtschaft kommt, der hat seinen Aufstieg den vom Bürgertum geprägten Karrieremustern dieser Sektoren zu verdanken. Die veränderten Aufstiegspfade begünstigen also in jeder Hinsicht eine sozialstrukturelle Verbürgerlichung der Volksparteien.

Fazit

Die hinsichtlich ihrer sozialen Rekrutierung unübersehbare Annäherung der politischen Elite an die anderen wichtigen Eliten entspricht einer Entwicklung, die auch für die übrige Gesellschaft charakteristisch ist. Die „Gewinner der Globalisierung“ schotten sich zunehmend ab. Aufstiegswege werden immer mehr blockiert, und das stärker als früher auch durch institutionelle Regelungen. So sollen z.B. durch die Etablierung von Eliteuniversitäten im deutschen Hochschulsektor spezielle Elitebildungsinstitutionen nach dem Vorbild der USA  geschaffen werden. Derartige Einrichtungen, das zeigen die Erfahrungen in den USA, aber auch in Frankreich, Großbritannien und Japan deutlich, haben vor allem eine Aufgabe. Auf ihnen wird der Nachwuchs der bürgerlich-großbürgerlichen Kreise schon frühzeitig vom Rest der Bevölkerung getrennt ausgebildet und auf seine zukünftigen Machtpositionen vorbereitet (Bourdieu 2004; Hartmann 2004, 2006; Karabel 2005).
Die Verlierer, und das sorgt ganz wesentlich für die ideologische Rechtfertigung der zunehmenden Unterschiede zwischen „oben und unten“, werden gleichzeitig als die Hauptverantwortlichen für ihre Lage dargestellt. Typisch für diese Haltung ist der Leiter des Hauptstadtbüros des Spiegel, Gabor Steingart. In seinem neuen Buch „Weltkrieg um Wohlstand“ zeichnet er (unter Missachtung aller aktuellen Forschungsergebnisse über „Underclass“ und Armut) ein Bild der neuen Proleten bzw. der neuen Unterschicht, das dieses Argumentationsmuster sehr deutlich macht. Sie seien im Unterschied zu ihrem historischen Pendant früherer Tage nicht durch materielle Armut vom Rest der Bevölkerung getrennt, sondern durch „geistige Verwahrlosung“. Ihr mangelndes Bildungsinteresse mache die entscheidende Differenz sowohl zum eigenen geschichtlichen Vorgänger als auch zu den anderen Teilen der Bevölkerung aus.(4) Letztlich wiederholt sich hier eine Grundmelodie, die Dahrendorf schon vor über vier Jahrzehnten intoniert hat, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Die Verlierer sind selbst schuld. Deshalb müssen sich die Eliten, so der Umkehrschluss, für ihre Privilegien auch nicht rechtfertigen. Sie haben sie verdient. So einfach kann das sein, vorausgesetzt, man will sich mit der Wirklichkeit nicht ernsthaft auseinandersetzen.
 

1   Zum Großbürgertum zählen Großunternehmer, Vorstände oder Geschäftsführer größerer Unternehmen, Spitzenbeamte und Angehörige von Generalität und Admiralität.
2   Zum übrigen Bürgertum gehören größere Unternehmer, leitende Angestellte, akademische Freiberufler und höhere Beamte sowie Offiziere. Dabei ist immer zu beachten, dass es sich bei diesen Managern um Personen handelt, die bis spätestens Anfang der 1960er Jahre geboren sind. Ihre Väter hatten ihre beruflichen Positionen also in einer Zeit inne, in der im Unterschied zur heutigen Zeit sowohl die höheren Beamten als auch die akademischen Freiberufler noch fast ausnahmslos zum Bürgertum zu zählen waren.
3    In den großen Elitebefragungen fällt die Antwortquote bei den Angehörigen der Wirtschaftselite mit circa einem Drittel immer besonders niedrig aus.
4     Zitiert nach Auszügen aus dem Buch in Spiegel online vom 16.9.2006

 
Literatur  

Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.
Bourdieu, Pierre  (2004): Der Staatsadel. Konstanz
Dahrendorf, Ralf  (1962): Eine neue deutsche Oberschicht. Notizen über die Eliten der Bundesrepublik. Die neue Gesellschaft, 9, 18-31
Elias, Norbert (1997): Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychognetische Untersuchungen. Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Frankfurt a. M.
Hartmann, Michael (2002): Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft. Frankfurt a. M.
Hartmann, Michael (2004): Elitesoziologie. Eine Einführung. Frankfurt a. M.
Hartmann, Michael (2006): Die Exzellenzinitiative – ein Paradigmenwechsel in der deutschen Hochschulpolitik. Leviathan, 34 (im Erscheinen)
Karabel, Jerome (2005): The Chosen. Boston

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