Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 176: Die fragmentierte Gesellschaft

Election by call

In den USA sind mittlerweile Umfragen repräsentativer als Wahlen,

aus: vorgänge Nr. 176 (Heft 4/2006), S. 133-135

In den USA liegt die Wahlbeteiligung traditionell so niedrig wie das in Deutschland in den letzten Jahren bei Kommunal- und Landtagswahlen der Fall ist und zu recht laut beklagt wird. Bei den jüngsten Kongresswahlen haben etwa 40 % der Wahlberechtigten gewählt; eine Wahlbeteiligung von knapp über 50 % bei der letzten Präsidentschaftswahl galt als sensationell hoch.  Es klingt zynisch, ist aber sachlich korrekt:  selbst eine schlecht gemachte Telefonumfrage würde in den USA ein besseres Bild des Volkswillens erbringen als allgemeine Wahlen.  Die viel zitierten Pannen bei den Wahlen und dem Auszählen der Stimmen sind nur das sichtbarste Zeichen des vordemokratischen US-Wahlsystems. Man kann sich das in Deutschland kaum vorstellen: um Wahlbetrug zu verhindern und Pannen bei der Stimmabgabe und der Auszählung aufzudecken, hatte die Demokratische Partei für die jüngsten Kongresswahlen 7000 Anwälte und Jurastudenten zur Überwachung angeheuert!
Die niedrige Wahlbeteiligung der Amerikaner hat viele Gründe: das beginnt mit den fehlenden Einwohnerregistern und endet bei der Einschüchterung von Angehörigen von Minderheiten. Seit einigen Jahren kommt ein weiterer Grund hinzu: Misstrauen gegenüber dem  Wahlakt und dem Auszählen: laut einer Umfrage des Fernsehsenders CNN haben bei den Kongresswahlen 71 Prozent der Wähler mit Wahlpannen und inkorrekten Zählergebnissen gerechnet. Bei einer anderen Umfrage glaubten immerhin 46 Prozent der Wähler, dass korrekt gezählt würde.  Beide Umfragen zeigen aber auf jeden Fall, dass eine Mehrheit der Amerikaner glaubt, dass nicht korrekt gewählt und ausgezählt wird! Viele glauben, dass ihre Stimme ohnehin nicht gezählt wird. Insofern braucht man sich über die niedrige Wahlbeteiligung wirklich nicht zu wundern.
Und tatsächlich gab es bei der jüngsten Kongresswahl wieder Pannen. Wenn auch kein Desaster wie 2000 in Florida, als der Präsidentschaftskandidat Bush von seinem Bruder, dem Gouverneur  Bush, faktisch zum Präsidenten gemacht wurde.  Jede Menge der elektronischen Wahlmaschinen arbeiteten auch in diesem November nur mühsam und versagten zeitweise oder gänzlich.  Da – wie in Deutschland – viele Wahlhelfer den älteren Semestern angehörten, konnten sie bei Problemen oft nicht helfen. Am Ende wurde in vielen Wahllokalen wieder mit Stimmzetteln gewählt. Dadurch mussten viele Wahlberechtigte oft eine Stunde oder länger warten.  Viele Alten gaben deswegen auf – und etliche Erwerbstätige sind unverrichteter Dinge wieder gegangen. Denn in den USA wird immer an einem Dienstag gewählt. Wer keinen festen Job hat überlegt sich genau, ob er wegen seines demokratischen Ur-Rechts „Wählen gehen“ seinen Job riskiert.  Das Establishment – im wahrsten Sinne des Wortes – kann sich die umständliche und zeitraubende Wählerei leisten und tut das auch.
Das US-Wahlsystem ist von Grunde auf hochproblematisch. So wissen die einzelnen Staaten in den USA gar nicht wie viele Menschen in ihnen  wirklich leben. Bei den amtlichen Erhebungen, so auch bei den Volkszählungen, werden in den USA schätzungsweise 5 Prozent der Bevölkerung nicht erfasst, weil sie keinen festen Wohnsitz haben, gerade umziehen oder in Gegenden leben, in die sich Zähler nicht hineintrauen. Dem „Census Bureau“ ist das seit Langem völlig klar und es hatte für die 2000er Volkszählung vorgeschlagen, dass durch zusätzliche Stichprobenerhebungen versucht werden sollte, die Untererfassung abzuschätzen und zu korrigieren. Die Republikaner haben dies mit einem erfolgreichen Gang zum Verfassungsgericht verhindert, da sie glaubten, dass eine genauere Schätzung der Bevölkerung aller Voraussicht nach dazu führen würde, dass traditionell demokratisch wählende Staaten wie New York und Kalifornien  mehr Sitze im Repräsentantenhaus bekommen würden. Die Republikaner zogen zum Supreme Court und der  folgte dem Argument der Republikaner, die argumentierten, dass die amerikanische Verfassung vorschreibt, dass bei Volkszählungen nur „gezählt“, nicht aber auf Basis von Stichproben „geschätzt“ wird.
Die hohe Mobilität der Amerikaner erschwert nicht nur statistische Erhebungen, sondern auch die Registrierung von Wählern. Deswegen ist es relativ leicht, dass  schwarzen Amerikanern, die zu 90 Prozent und mehr für demokratische Kandidaten stimmen, immer wieder die Registrierung verweigert wird.  In Georgia wird geschätzt, dass eine halbe Million Wahlberechtigter gar keine Papiere haben. Meist Arme, Schwarze und Alte. Faktisch lässt sich ein viel höherer Anteil weißer und gut verdienender Wähler registrieren und geht auch wählen, als dies bei Minoritäten der Fall ist. Insgesamt wählt heute in den USA nur maximal die Hälfte der Wahlberechtigten und das sind auch noch die Besserverdienenden.
Eine  professionell gemachte Telefonumfrage würde mit Sicherheit ein besseres Abbild des amerikanischen Volkswillens liefern als die tatsächliche Wahl. Während die Wahlbeteiligung bei 50 Prozent und weniger liegt, beträgt die Teilnahmebereitschaft an Umfragen in den USA bei 70 Prozent und mehr (in Europa ist es umgekehrt). Nun sind zwar bei Umfragen die tatsächlichen Teilnehmer keineswegs ein exaktes Spiegelbild der Bevölkerung, aber die Verzerrung ist mit Sicherheit viel kleiner als bei allgemeinen Wahlen. Bei einer Telefonumfrage muss man auch nicht lesen können – was für viele Amerikaner keine Selbstverständlichkeit ist – und man kann auch nichts mit einer Wahlmaschine falsch machen. Denn bei der Umfrage hilft einem ein professioneller Befrager, der bei einer seriösen Erhebung zudem noch ständig von einem Supervisor kontrolliert wird, um sicherzustellen, dass die Befragung auch korrekt abläuft.
Würde statt einer allgemeinen Wahl in den USA eine Telefonumfrage unter einem Prozent der potentielle Wähler gemacht, also etwa einer Million Menschen, wäre der statistische „Stichprobenfehler“ nahezu Null und es würden tatsächlich alle Stimmen korrekt verbucht. Im Gegensatz zur amtlichen Statistik, die Slums ein zu geringes Gewicht gibt, erreicht eine Telefonumfrage auch Leute in ärmlichen Verhältnissen. Wer  keinen Festnetzanschluss hat, sondern nur ein Handy, kann heutzutage mit einer Telefonumfrage auch erreicht werden. Der Anteil junger Leute bei der Stimmabgabe würde damit drastisch erhöht werden. Und selbst wenn  einige Kinder und Ausländer unberechtigterweise ihre Stimmen am Telefon abgeben würden, wäre diese Verzerrung nicht so schlimm wie die bei der tatsächlichen Wahl. Und: für das Ausländerwahlrecht spricht auch in den USA ohnehin viel und manche meinen ja sowieso, dass auch Kinder wählen können sollten.
Die Vorstellung, dass der Volkswille auf Grundlage einer Stichprobe ermittelt wird, und nicht  durch eine allgemeine Wahl, sieht auf den ersten Blick schlicht bizarr  aus und hört sich nach Kabarett an. Aber: in den USA wird die Benutzung von Stichproben  – auch wenn das Verfassungsgericht natürlich dagegen ist – ansatzweise schon ernsthaft diskutiert:  das „Brennan Center of  Justice“ an der Fakultät für Rechtswissenschaften der New Yorker Universität (New-York School of Law)  schlägt  vor,  dass  die fehleranfällige elektronische Stimmabgabe am Computer durch Stichproben kontrolliert werden sollte.  Dabei sollen Papierquittungen, die die Wahlcomputer auswerfen, mit den elektronisch registrierten Stimmen verglichen werden.  Kaum zu glauben – aber so ist es.
Fasst man zusammen, kommt man zu der Schlussfolgerung, dass aufgrund der bei den tatsächlichen Wahlen niedrigen Beteiligung von Minderheiten und armen Amerikanern die Ergebnisse regelmäßig zu Gunsten der Republikaner verzerrt sind. Unverzerrte Abbilder des Volkswillens würden dem Demokraten permanent satte Mehrheiten verschaffen.  Offenkundig will das politische Establishment den Volkswillen gar nicht so genau wissen.

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