Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 176: Die fragmentierte Gesellschaft

Prekäre Arbeit und soziale Desin­te­graton

Anmerkungen zu den subjektiven Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigung*,

aus: vorgänge Nr. 176 (Heft 4/2006), S. 13-22

Nachfolgend möchte ich über eine grundlegende Veränderung im System der Erwerbsarbeit sprechen, die ich als Prekarisierung bezeichnen will. Begünstigt durch die außergewöhnlich lange Nachkriegsprosperität ging die gesellschaftliche Verallgemeinerung von Lohnarbeit über Jahrzehnte mit einer Tendenz zur sozialen und politischen Einhegung von Einkommens-, Armuts- und Beschäftigungsrisiken einher. Lohnarbeit wurde zu einer Institution, gekoppelt mit „sozialen Eigentum“ – einem Eigentum zur Existenz- und Statussicherung, das sich u. a. in garantierten Rentenansprüchen, Mitbestimmungsrechten oder in verbindlichen tariflichen Normen manifestierte. Erst die enge Koppelung mit sozialem Eigentum verwandelte Lohnarbeit in ein zentrales gesellschaftliches Integrationsmedium. Geschützte, halbwegs sichere Lohnarbeit war die Basis für einen Bürgerstatus, der – gleichsam als Klammer zwischen System- und Sozialintegration – zuvor besitzlosen Klassen und Gruppen trotz fortbestehender Ungleichheiten zu einem respektierten Status in der Gesellschaft verhalf.
Wenn nicht alles täuscht, so erleben wir seit den 1980er Jahren eine Umkehrung dieser Entwicklung. Dafür gibt es vor allem zwei Ursachen. Erstens drängen die neuen Formen von „immaterieller“ Dienstleistungs- und Informationsarbeit nach einem flexibleren Arbeitsmanagement, das in einem Spannungsverhältnis zu Regelungsformen des fordistischen Nachkriegskapitalismus steht (Castells 1996). Zweitens – und das ist für den hier interessierenden Kontext entscheidend – kommt es unter dem Druck eines internationalisierten Finanzmarktkapitalismus (Windolf 2005) zur Ausweitung prekärer Beschäftigung und damit zu einer „Rückkehr der Unsicherheit“ in die historisch gesehen reichen und überaus sicheren Gesellschaften des Westens (Castel 2005: 54 ff.). Obwohl „diese Gesellschaften von Sicherungssystemen umgeben und durchzogen sind“, bleibt die Sorge „um die Sicherheit allgegenwärtig“, sie „beschäftigt weite Teile der Bevölkerung“ (ebd.: 8). Robert Castel hat diese Diagnose auf die französische Lohnarbeitsgesellschaft bezogen.
Darüber, ob sie auf Deutschland übertragbar ist, wird in den Sozialwissenschaften gestritten (vgl. Brinkmann u. a.). Meine These ist, dass ein Empfinden sozialer Unsicherheit, welches sich wesentlich aus prekären Beschäftigungs- und Lebensverhältnissen speist, auch hierzulande wegen der noch immer hohen Sicherheitsstandards zu massiven gesellschaftlichen Desintegrationsprozessen führt. Zur Begründung dieser Sichtweise will ich auf Ergebnisse einer eigenen empirischen Studie [1]zurückgreifen, die sich mit der Ausbreitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und deren subjektiver Verarbeitung befasst.
Als heuristische Folie dient die Castelsche Zentralhypothese (Castel 2000). Danach spalten sich die Lohnarbeitsgesellschaften in drei große „Zonen“. Die „Zone der Entkoppelung“ umfasst die von regulärer Erwerbsarbeit dauerhaft Ausgeschlossenen. Die oberen und mittleren Ränge der Arbeitsgesellschaft sind noch immer in einer – allerdings schrumpfenden – „Zone der Integration“ mit formal gesicherten Normbeschäftigungsverhältnissen angesiedelt. Dazwischen expandiert eine „Zone der Prekarität“ mit heterogenen Beschäftigungsformen, die sich allesamt dadurch auszeichnen, dass sie oberhalb eines kulturellen Minimums nicht dauerhaft Existenz sichernd sind. Dazu gehören Leih- und Zeitarbeit, niedrig entlohnte Beschäftigung, erzwungene Teilzeitarbeit und befristete Stellen ebenso wie Mini- und Midi-Jobs, abhängige Selbstständigkeit oder sozialpolitisch geförderte Arbeitsgelegenheiten. Wie sich die Ausbreitung unsicherer Beschäftigungsformen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt auswirkt, lässt sich angemessen nur erfassen, wenn man die subjektiven Verarbeitungsformen von Prekarisierungsprozessen in die Analyse einbezieht.

    

1. Typische Verar­bei­tungs­formen unsicherer Beschäf­ti­gung

Anhand von empirischem Material, das ausgewählte Problemkonstellationen aus allen Zonen der Arbeitsgesellschaft erfasst, können wir neun typische Formen der (Des)-Integration unterscheiden (Schaubild 1). Arbeitskraft- (reproduktive Dimension) und Tätigkeitsperspektive (arbeitsinhaltliche, professionsbedingte Ansprüche) beinhalten die primären Integrationspotentiale einer Erwerbstätigkeit. In der „Zone der Integration“ bilden drei Typen (1, 3, 4) die Integration in formal gesicherte Normbeschäftigung ab. Im Fall der „Selbstmanager“ dominiert das Integrationspotential der Tätigkeitsperspektive (inhaltliches Interesse an der Tätigkeit, Streben nach Professionalität) über den unsicheren Beschäftigungsstatus. In der „Zone der Prekarität“ sind unstete Beschäftigungsverhältnisse angesiedelt, die jedoch subjektiv höchst unterschiedlich bewertet werden. In der „Zone der Entkoppelung“ befinden sich Erwerbs- und Langzeitarbeitslose mit ebenfalls divergierenden subjektiven Orientierungen. Unsicherheitsempfinden kann insbesondere bei den „Abstiegsbedrohten“ (Typ 4) deutlich ausgeprägter sein als bei Befragten, die aufgrund der Struktur ihres Beschäftigungsverhältnisses der „Zone der Prekarität“ zuzurechnen sind (Typ 5, 7). Selbst bei den Veränderungswilligen (Typ 8) in der „Zone der Entkoppelung“ besteht noch die Hoffnung, die eigene Lage über kurz oder lang deutlich verbessern zu können. Im Falle der „Abstiegsbedrohten“ (Typ 4) erscheinen Brüche in der beruflichen Biographie und sozialer Abstieg hingegen fast schon als Gewissheit. Der Neigungswinkel individueller Biographien zeigt bei dieser Gruppe nach unten und es sind nicht genügend Ressourcen vorhanden, um diese Abwärtsbewegung grundlegend korrigieren zu können. Daher nehmen Bedrohungsgefühle nicht linear zu, je weiter man in der Hierarchie der Typen nach unten steigt. Vielmehr sind Abstiegsängste bei jenen Gruppen besonders präsent, die noch etwas zu verlieren haben. Die Angst vor Statusverlust ist ein wichtiger Ursachenherd für Prekarisierungsängste und soziale Desintegration, der innerhalb der „Zone der Normarbeit“ angesiedelt ist.           

 Schaubild 1: (Des-)Integrationspotentiale von Erwerbsarbeit –                                                 eine Typologie [2]

                            Zone der Integration (67,7 %) 

 1. Gesicherte Integration („Die Gesicherten“; 31,5%)

 2. Atypische Integration („Die Unkonventionellen“ oder „Selbstmanager“; 3,1%)

 3. Unsichere Integration („Die Verunsicherten“; 12,9%)

 4. Gefähdete Integration („Die Abstiegsbedrohten“; 33,1%)

                            Zone der Prekarität (13,8 %)

 5. Prekäre Beschäftigung als Chance/temporäre Integration („Die Hoffenden“;3,1%)

 6. Prekäre Beschäftigung als dauerhaftes Arrangement („Die Realistischen“; 4,8%)

 7. Entschärfte Prekarität („Die Zufriedenen“; 5,9%)

                                    Zone der Entkoppelung (1,7 %)

 8. Überwindbare Ausgrenzung („Die Veränderungswilligen“)

 9. Kontrollierte Ausgrenzung / inszenierte Integration („Die Abgehängten“)

 
2. Bedeutungswandel von Erwerbsarbeit

Diese Feststellung ist wichtig, weil sich Desintegrationserfahrungen nicht auf die „Zone der Prekarität“ beschränken lassen. Unsere Studie liefert viele Hinweise, die für einen sozial gestuften, letztlich aber zonenübergreifenden Bedeutungswandel von Erwerbsarbeit sprechen. In großen gesellschaftlichen Gruppen beginnt abhängige Erwerbsarbeit ihre zentrale Funktion als Bindemittel der Gesellschaft zu verlieren. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse bedeuten nicht allein Unsicherheit und materiellen Mangel, vielfach bewirken sie Anerkennungsdefizite und eine Schwächung der Zugehörigkeit zu sozialen Netzen, die eigentlich dringend benötigt würden, um den Alltag einigermaßen zu bewältigen. Leiharbeiter, Befristete, aber auch Projektarbeiter (Typ 5, 6, 2) sehen sich gezwungen, die Anerkennung ihres wechselnden Umfeldes beständig neu zu erwerben. Je mehr Energie sie darauf verwenden, diesen symbolischen Zyklus der Anerkennung (Kraemer/Speidel 2005: 367 ff.) zu bewältigen, desto problematischer wird es mitunter für sie, soziale Netze außerhalb der Arbeit zu stabilisieren.
Arbeitslosen oder prekär Beschäftigten, die sich unter die „Grenze der Respektabilität“ gedrängt sehen, fällt es generell schwer, gesellschaftliche Anerkennung zu erwerben. Insofern trifft die castelsche Diagnose (2005: 38), wonach soziale Unsicherheit „demoralisierend, als Prinzip sozialer Auflösung“ wirkt, auch auf viele unserer Befragten zu. Gemeinsam ist ihnen die Erfahrung, dass sich Lohnarbeit für sie nicht mehr als stabile Basis einer geplanten Zukunft eignet.
Unabhängig von der konkreten Beschäftigungsform beklagen die „Prekarier“ mehr oder minder alle, dass sie im Vergleich zu den Stammbeschäftigten über weitaus geringere Möglichkeiten verfügen, eine längerfristige Lebensplanung zu entwickeln. Befristete, niedrig entlohnte Beschäftigung blockiert „die Ausarbeitung eines rationalen Lebensplans“ (Bourdieu 2000: 109) allerdings nicht vollständig. Auch bei den „Prekariern“ findet sich noch immer das Bemühen, der eigenen Lebensplanung Kohärenz zu verleihen. Bei Teilzeitarbeiterinnen mit unbefristeten Arbeitsverträgen (Typ 7) gelingt das noch einigermaßen, sofern die Partnerschaften stabil sind. Im Falle von Leiharbeitern und befristet Beschäftigten (Typ 5, 6) sind die Bemühungen um einen kohärenten Lebensplan spürbar, aber weitaus weniger erfolgreich. Es ist nicht allein die Unsicherheit als solche, sondern auch der soziale Abstand zur angestrebten Normalität, der eine Mischung aus Verunsicherung, Scham, Wut und Resignation erzeugt.
Überraschend ist, dass wir in der „Zone der Integration“ auf ähnliche Verarbeitungsformen stoßen. Bei den „Verunsicherten“ (Typ 3) und den „Abstiegsbedrohten“ (Typ 4) ist das Vermögen zu einer längerfristig ausgerichteten Lebensplanung noch nicht verloren gegangen; aber es besteht die mehr oder minder begründete Befürchtung, dass die für eine realistische Zukunftsplanung notwendige Kalkulationsgrundlage abhanden kommen könnte. Abstiegsängste sind auch in diesen Gruppen kein unmittelbarer Reflex auf reale Bedrohungen. Selbst die bevorstehende Betriebsschließung kann je nach Lebensalter, Qualifikation und Ressourcenausstattung höchst unterschiedlich verarbeitet werden. Für jüngere Arbeiter z. B. wirkt sie mitunter als Antrieb, individuelle Weiterbildungspläne vorzuziehen. Ältere und weniger qualifizierte Befragte befürchten hingegen einen nur schwer korrigierbaren Knick in ihrer beruflichen Laufbahn.
Was die noch Integrierten als Befürchtung umtreibt, ist bei den Langzeitarbeitslosen in der „Zone der Entkoppelung“ längst Lebensrealität. Sowohl bei den „Veränderungswilligen“ (Typ 8) als auch bei den „Abgehängten“ (Typ 9) kann von einem über den Tag hinausreichenden Lebensplan im Grunde keine Rede sein. Während die „Veränderungswilligen“ die Hoffnung auf eine Normalisierung ihrer Biographien aber noch nicht aufgegeben haben, richten sich die „Abgehängten“ bereits in einem Leben jenseits regulärer Erwerbsarbeit ein. Hier zeigt sich besonders deutlich, dass sich ohne festen Arbeitsplatz und ein halbwegs sicheres Einkommen allmählich eine Desorganisation des Raum- und Zeitempfindens einstellt.

3. Sekundäre oder kompen­sa­to­ri­sche Integration

Allerdings, das bleibt in der Castelschen Hypothese unterbelichtet, nehmen selbst Langzeitarbeitslose soziale Desintegration nicht passiv hin. Unter Bedingungen, die sie zu struktureller Benachteiligung verdammen, entwickeln Ausgegrenzte und prekär Beschäftigte eigene Überlebensstrategien. Das ist der Grund, weshalb es nicht zu sich beständig verstärkenden, letztlich die Systemreproduktion gefährdenden Desintegrationsprozessen kommt.
In der „Zone der Prekarität“ und der „Zone der Entkoppelung“ erfolgt Einbindung allerdings nicht mehr über primäre (reproduktive und qualitative) sondern über tradierte oder neu erzeugte sekundäre, häufig kompensatorische Integrationspotentiale. Von sekundären Integrationspotentialen kann gesprochen werden, wenn junge Leiharbeiter ihr prekäres Beschäftigungsverhältnis als Sprungbrett in eine Normbeschäftigung betrachten und dabei auf den „Klebeffekt“ ihrer Tätigkeit hoffen (Typ 5). Um sekundäre Integration handelt es sich bei älteren Leiharbeitern, die sich pragmatisch mit ihrer Lage arrangieren, indem sie beständig zwischen Arbeitslosigkeit und Leiharbeit pendeln (Typ 6). Sekundäre Integrationspotentiale verschaffen sich auch Geltung, sofern sich Verkäuferinnen scheinbar vorbehaltlos in ihre Rolle als mehr oder minder zufriedene Zuverdienerinnen (Typ 7) fügen und damit eine stabile Partnerschaft und ein Existenz sicherndes Einkommen des Lebenspartners zur stillen Voraussetzung ihres Arrangements machen. Und selbst bei den „Abgehängten“ (Typ 9) zeigt sich die Wirksamkeit sekundärer Integrationsmechanismen, wenn sich jugendliche Erwerbslose als „arbeitende Arbeitslose“ definieren, weil sie ihr Einkommen in der Schattenwirtschaft verdienen und dabei auf die informellen Netze von Familie, Nachbarn und Freunden setzen.
Die Orientierung auf Teilhabe an regulärer Erwerbsarbeit haben die Betreffenden aufgegeben. Sie richten sich auf ein Leben in Subgesellschaften mit eigenen informellen Strukturen und Integrationsmechanismen ein. Ausgegrenzte Jugendliche z. B. setzen alles daran, ihre verbliebenen sozialen Kontakte zu stabilisieren, um so zumindest ein Minimum an Selbstbestätigung zu erfahren. Häufig ist ihnen das Risiko, diese Kontakte wegen der vagen Aussicht auf einen unsicheren Job aufzugeben, einfach zu hoch. Daher tendieren subgesellschaftliche Orientierungen, die sich im Osten gerade erst herauszubilden beginnen, zur Selbstreproduktion.      
Schon aus diesem Grund nimmt die Wirksamkeit sekundärer Integrationspotentiale den Prekarisierungserfahrungen nichts von ihrer Brisanz. Im Grunde handelt es sich um schwache, kompensatorische Formen der Integration, die entweder auf Fiktion, auf der Hoffnung, irgendwann doch noch Anschluss an die Normalität regulärer Beschäftigung zu finden, oder auf einer Mobilisierung quasi-ständischer Zugehörigkeiten und Ressourcen beruhen. Sofern dies in Handlungsstrategien mündet, die ein Überleben in prekären Verhältnissen sicherstellen sollen, ist Integration in normativer Hinsicht gerade kein „Erfolgsbegriff“ (Peters 1993: 92). Dass sekundäre Integrationspotentiale überhaupt wirksam werden können, hängt wesentlich mit der disziplinierenden Wirkung von Arbeitsmarktrisiken zusammen. Die Disziplin des Marktes kann z. B. dazu führen, dass tradierte Formen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung revitalisiert werden. So definieren sich Verkäuferinnen mitunter auch dann als Zuverdienerinnen, wenn ihr Einkommen aufgrund der Arbeitslosigkeit des Lebenspartners längst den Lebensunterhalt der Familie sichert (Typ 7). Als Hysteresis-Effekte über ihre Erzeugungsbedingungen hinaus wirksam, illustrieren derartige Haltungen die Verfestigung einer sozialen Lage, die sich über eine dauerhafte Betätigung in prekären Beschäftigungsverhältnissen konstituiert. Zufrieden sind diese Befragten nur insofern, als sie sich als Teilzeitarbeiterinnen gesellschaftlich durchaus integriert fühlen. Diese Zufriedenheit ändert nichts daran, dass die Betreffenden ihre Berufstätigkeit überaus kritisch beurteilen. Teilweise werden sie in Interessenvertretungen und Gewerkschaften aktiv, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. In diesen Fällen handelt es sich um eine Variante der Integration durch „Streit“ (Simmel 1903), die allerdings an der grundsätzlichen Akzeptanz des Zuverdienerinnen-Status nichts ändert. 

3. Unter­schiede zwischen flexibler und prekärer Arbeit    

             
Ein bekannter Einwand gegen die Desintegrationshypothese lautet, Prekarität stelle allenfalls eine Facette flexibler Beschäftigung dar, einer Flexibilität, die im Großen und Ganzen der Interessenlage vieler Beschäftigter entgegen komme (Kronauer/Linne 2005). Und in der Tat, „manche Gruppen von Arbeitnehmern profitieren zweifellos“ von einem Arbeitsmanagement, das sie „zur Freiheit verdammt“. Sie „maximieren ihre Chancen, bauen ihr Potential aus, entdecken an sich ungeahnte unternehmerische Fähigkeiten, die unter bürokratischen Zwängen und strengen Regelungen bisher verkümmerten“ (Castel 2005: 63 f.). Doch der Lobgesang auf positive Seiten der Flexibilisierung ignoriert die neuen „Trennlinien“, die Arbeitswelt und Gesellschaft durchziehen.
Diese Trennlinien werden in unserer Typologie abgebildet. So unterscheidet sich die Selbstwahrnehmung der prekär Beschäftigten gravierend von den subjektiven Verarbeitungsformen flexibler Beschäftigung, wie sie sich in der „Zone der Integration“ finden. Das zeigt sich besonders deutlich bei den „Selbstmanagern“ (Typ 2), zu denen in unserer Untersuchung u. a. Freelancer aus der IT-Industrie und Werbefachleute zählen. Für diese Befragten wird das Sicherheitsrisiko, das in den Beschäftigungsverhältnissen angelegt ist, subjektiv durch den Freiheitsgewinn kompensiert, den sie mit der Abwesenheit hierarchischer Zwänge verbinden. Zudem vertrauen sie auf ihre Qualifikation und ihre materiellen Ressourcen, mit denen sie Phasen der Beschäftigungsunsicherheit einigermaßen gut überbrücken können. Integrationsstiftend wirkt in diesen Gruppen die    Identifikation mit der eigenen Tätigkeit, das Streben nach Professionalität. Das ist bei den prekär Beschäftigten grundsätzlich anders. Hier kann die Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse kaum positiv erlebt werden.
Damit ist nicht gesagt, dass eine individuelle Positionierung in der „Zone der Integration“ mit Problemfreiheit gleichzusetzen sei. Selbst in Segmenten „immaterieller“ Angestellten- und Informationsarbeit können massive Desintegrationseffekte auftreten. Letztere werden allerdings nicht primär durch unsichere Beschäftigungsverhältnisse verursacht. Sie resultieren ganz im Gegenteil aus einer Identifikation mit der Arbeitstätigkeit, die mit Arbeitswut, Leistungsdruck, Stress, Beeinträchtigung des Privatlebens, Entspannungsunfähigkeit, blockierten Aufstiegsmöglichkeiten und Diskontinuitätserfahrungen bei der Projektarbeit einher geht. Solche Desintegrationseffekte können sich dramatisch zuspitzen und eine zuvor stabile Beschäftigung in ein heikles Arbeitsverhältnis verwandeln – ein Prozess, der dann wegen der „Fallhöhe“ subjektiv als besonders schmerzlich empfunden wird.

Dennoch sind flexible und prekäre Beschäftigungsverhältnisse nicht identisch. Manche Formen flexibler Beschäftigung können mit gesicherter Integration einhergehen. Das gilt z. B. für verschiedene Varianten von Projektarbeit, die Boltanski/Chiapello (2003) zum Charakteristikum eines „neuen kapitalistischen Geistes“ stilisieren. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind stets flexibel; doch längst nicht alle Formen flexibler Beschäftigung erweisen sich zugleich als prekär. Die „Selbstmanager“ (Typ 2) agieren allesamt oberhalb einer „Schwelle der Berechenbarkeit“, welche von der Verfügung    über Einkünfte und Ressourcen abhängt, die von der Sorge um die Subsistenz dauerhaft entlasten (Bourdieu 2000: 92). Bei den prekär Beschäftigten, die sich an der Schwelle der Respektabilität, gekennzeichnet durch eine feste Arbeitsstelle und ein regelmäßiges Einkommen, bewegen, ist das so nicht der Fall.

5. Prekarität als Herrschafts- und Kontroll­system

Allerdings wirkt prekäre Beschäftigung auf die „Zone der Integration“ zurück. Im Unterschied zu den subproletarischen Existenzen des 19. Jahrhunderts verursacht sie weder vollständige Entwurzelung noch absolute Pauperisierung. Vielmehr befinden sich die „Prekarier“ in einer eigentümlichen „Schwebelage“. Einerseits haben sie den Anschluss an die „Zone der Normalität“ noch immer vor Augen und müssen alle Energien mobilisieren, um den Sprung vielleicht doch noch zu schaffen. Andererseits sind permanente Anstrengungen auch nötig, um einen dauerhaften sozialen Abstieg zu vermeiden. Wer in seinen Anstrengungen nachlässt, dem droht der Absturz in die „Zone der Entkoppelung“. Aufgrund der Diskontinuitäten des Beschäftigungsverhältnisses besitzen die modernen „Prekarier“ keine Reserven, kein Ruhekissen. Sie sind die ersten, denen in Krisenzeiten Entlassungen drohen. Ihnen werden bevorzugt die unangenehmen Arbeiten aufgebürdet. Sie sind die Lückenbüßer, die „Mädchen für alles“, deren Ressourcen mit anhaltender Dauer der Unsicherheit allmählich verschlissen werden.
Gerade weil sich die prekär Beschäftigten im unmittelbaren Erfahrungsbereich der über Normarbeitsverhältnisse Integrierten bewegen, wirken sie als ständige Mahnung. Festangestellte, die Leiharbeiter zunächst als wünschenswerten „Flexibilisierungspuffer“ betrachten, beschleicht ein diffuses Gefühl der Ersetzbarkeit, wenn sie an die Leistungsfähigkeit der Externen denken. Sie sehen, dass ihre Arbeit zu gleicher Qualität auch von Personal bewältigt werden kann, das für die Ausübung dieser Tätigkeit Arbeits- und Lebensbedingungen in Kauf nimmt, die in der Stammbelegschaft kaum akzeptiert würden. Wenngleich Leiharbeiter und befristet Beschäftigte betrieblich meist nur kleine Minderheiten sind, wirkt ihre bloße Präsenz disziplinierend auf die Stammbelegschaften zurück. In Bereichen mit hoch qualifizierten Angestellten produzieren Freelancer und neuerdings auch Zeitarbeitskräfte einen ähnlichen Effekt. So finden sich im Grunde in allen Beschäftigungssegmenten Wechselbeziehungen zwischen Stammbelegschaften und flexiblen Arbeitskräften, die den „Besitz“ eines unbefristeten Vollzeiterwerbsverhältnisses als verteidigenswertes Privileg erscheinen lassen.        

Dieser disziplinierende Effekt lässt sich nur mit einer Verallgemeinerung sozialer Unsicherheit erklären, die längst auch die „Zone der Integration“ erreicht hat. Dies erklärt das Integrationsparadoxon nachfordistischer Arbeitsgesellschaften. Die Herausbildung einer Zone unsicherer Beschäftigungsverhältnisse forciert die Umstellung auf einen neuen gesellschaftlichen Integrations- und Herrschaftsmodus. An die Stelle einer Einbindung, die nicht ausschließlich, aber doch wesentlich auf materieller und demokratischer Teilhabe beruhte, treten Integrationsformen, in denen die subtile Wirkung markförmiger Disziplinierungsmechanismen eine deutliche Aufwertung erfährt (Heitmeyer 1997: 27).
Die Disziplinierung durch den Markt kann, zumal in einer reichen Gesellschaft, eine Vielzahl an Hoffnungen, Ängsten und Traditionen funktionalisieren. Auf diese Weise sorgt die Konfrontation mit unsicheren Beschäftigungsverhältnissen nicht nur für eine „Destabilisierung des Stabilen“ (Castel 2000: 357). Indem sie die einen diszipliniert und den anderen elementare Voraussetzungen für Widerständigkeit nimmt, fördert sie zugleich eine eigentümliche „Stabilisierung der Instabilität“. Auch deshalb ist die Prekarisierung kein Phänomen an den Rändern der Arbeitsgesellschaft. Sie bewirkt eine allgemeine subjektive Unsicherheit, die bis tief hinein in die Lebenslagen der formal Integrierten reicht. Prekarität wirkt desintegrierend und zugleich als disziplinierende Kraft. Zunehmende Marktsteuerung erzeugt Flexibilitätsanforderungen und produziert doch auch neue Abhängigkeiten. Insofern stützt die Prekarisierung ein Kontrollsystem, dem sich auch die Integrierten kaum zu entziehen vermögen.
Diese disziplinierende Wirkung ist im Übrigen für Gruppen folgenreich, die – wie eine große Zahl von Frauen und Migranten – auch während der Blütezeit des fordistischen Kapitalismus allenfalls partiell an einem durch Normarbeit konstituierten Bürgerstatus partizipieren konnten. Wenn die „Sorge um den Erhalt ihres Arbeitsplatzes, so widerwärtig er auch sein mag“ (Bourdieu 2000: 72), zunehmend auch das Handeln der Integrierten bestimmt, geraten selbst in den Stammbelegschaften qualitative Arbeitsansprüche unter Druck. Je weiter die Schwelle für „zumutbare Arbeit“ sinkt, desto größer wird die Konkurrenz um prekäre Jobs und umso wahrscheinlicher sind Verdrängungseffekte, die vor allem Frauen und Migranten treffen.      

6. Politische Verar­bei­tungs­formen von Preka­ri­sie­rung

Diese Feststellung ist auch für die Frage nach den politischen Verarbeitungsformen sozialer Unsicherheit bedeutsam. Prekarisierung korrespondiert offenbar mit unterschiedlichen Formen des Selbstregierens und der Selbstdisziplinierung. Die Übersetzung entsprechender Erfahrungen in ausgrenzende Integrationsvorstellungen und deren Aktivierung in einer bipolaren Logik, die sich gegen stigmatisierte Outsidergruppen wendet, stellt ein zentrales Bindeglied zu rechtspopulistischen Orientierungen dar.
Wir haben solche Orientierungen bei mehr als einem Drittel unserer Befragten aus allen Zonen der Arbeitsgesellschaft gefunden. Unweigerlich drängen sich Parallelen zur klassischen Autoritarismus-These Fromms (1983) und Adornos (1973) auf. Der neue Autoritarismus lässt sich indessen wohl kaum auf eine Ich-Schwäche zurückführen, die in Defiziten frühkindlicher Sozialisation wurzelt.

Vielmehr werden Überanpassung und Autoritätshörigkeit durch Mechanismen und Erfahrungen mit erzeugt, die auf direkten oder indirekten Wirkungen von Prekarisierungsprozessen beruhen.
Aber auch dort, wo moderne, partizipative Arbeitsformen existieren, gibt es offenbar einen Zusammenhang zwischen der zunehmenden Marktsteuerung von Arbeit, Formen des „Selbstregierens“ (Foucault 2000: 41 ff.) und einer Art Selbstinstrumentalisierung, die nicht nur Leidensdruck erzeugt, sondern auch nach „Druckventilen“ sucht. Marktförmige Steuerungsmechanismen generieren offenkundig einen Zwang zum Selbstzwang, der tendenziell auf die gesamte Persönlichkeit ausstrahlt. In unterschiedlicher Weise bringt dieser Modus der Selbstzuschreibung in allen Zonen der Arbeitsgesellschaft Formen der Überanpassung hervor, die – wenn auch nicht zwangsläufig – in rechtspopulistische Orientierungen einmünden können. Je nach Position in der Arbeitswelt besitzen diese Orientierungen eine „konformistische“, eine „konservierende“ oder eine „rebellische“ Ausprägung (Dörre 2006). Gemeinsam ist ihnen indessen, dass sie eine Form der „imaginären Integration“ in die Gesellschaft darstellen, die auf Kosten von Anderen, Schwächeren, Ausländern, eben von Outsidergruppen vollzogen werden soll. Mit diesem Befund wird die Castelsche Befürchtung, der zu Folge Gruppen im sozialen Abstieg ihre eigene soziale Position zu verteidigen suchen, indem sie Ressentiments als Triebfeder „gesellschaftlicher und politischer Aktion“ nutzen (Castel 2005: 67 f.), im Grunde noch überboten. Denn offenkundig ist das Ressentiment auch ein Mittel, das integrierte Gruppen nutzen können, um Wohlfahrtsansprüche der „Prekarier“ und „Entkoppelten“ zu delegitimieren. Allerdings gibt es auch Gegentendenzen. Sofern Prekarisierung aktiv-partizipatorisch bearbeitet wird, wächst die Chance, einen durch schwindendes „soziales Eigentum“ gefährdeten Bürgerstatus zu revitalisieren.
In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass partizipative und ressentimentgeleitete Verarbeitungsformen von Prekarität häufig dicht beieinander liegen. Die gleichen Leiharbeiter, die sich in heftigen ausländerfeindlichen Attacken ergehen, gründen eine Tarifkommission und erkämpfen einen Tarifvertrag, sobald sie eine realistische Möglichkeit zur kollektiven Verbesserung ihrer Situation sehen. Um partizipatorische Verarbeitungsformen zu fördern, bedürfte es indessen einer mutigen „Politik der Entprekarisierung“, die neue Sicherheiten (z. B. gesetzlicher Mindestlohn, Grundsicherung) mit einer konsequenten Förderung von Selbstorganisation der „Prekarier“ (vgl. Brinkmann u. a. 2006, Kap. 7) und Ansätzen einer „solidarischen Ökonomie“ (Altvater 2006: 5 ff.) zu kombinieren hätte. Aus Sicht vieler von uns Befragter sind solche Ansätze seitens der politischen Parteien und Gewerkschaften jedoch allenfalls schwach entwickelt. Aktuell dominiert offenbar eine Grammatik sozialer Auseinandersetzungen, die eine Überlagerung klassenspezifischer Verteilungskonflikte durch entsolidarisierende Konkurrenzen um das „Drinnen“ und „Draußen“ verursacht. Diese Konflikte sind, wie gezeigt, durchaus mit Formen einer partikularen Sozialintegration vereinbar. Um „gehegte Konflikte“ (Dubiel 1995), die gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern könnten, handelt es sich bei diesen Gruppenkonkurrenzen jedoch nicht. Einstweilen scheinen Prekarisierungsprozesse die systemische Reproduktion westlicher Arbeitsgesellschaften nicht zu gefährden; dass die Sozialintegration intakt sei, wird man indessen kaum behaupten können. 

* Es handelt sich um eine bearbeitete Fassung meines Vortrages auf dem Soziologiekongress in Kassel am 11. Oktober 2006.

1    Es handelt sich um das Projekt „Prekäre Beschäftigung – Ursache von sozialer Desintegration und Rechtsextremismus“, das ich gemeinsam mit Klaus Kraemer und Frederic Speidel durchgeführt habe. Das Vorhaben ist im vom BMBF geförderten Forschungsverbund „Integrationspotentiale moderner Gesellschaften“ (Leitung: W. Heitmeyer/Universität Bielefeld). Es basiert auf knapp 100 halbstrukturierten Interviews, Gruppenbefragungen und mehr als 30 Expertengesprächen, die anhand ausgewählter Problemkonstellationen quer durch die „Zonen“ der Arbeitsgesellschaft geführt wurden.  

2    Die Typologie basiert auf einer qualitativen Erhebung mit ca. 100 Befragten aus allen Zonen der Arbeitsgesellschaft, die ich gem. mit Klaus Kraemer und Frederic Speidel durchgeführt habe. Die Prozentzahlen stammen aus einer quantitativen Befragung des INIFES Stadtbergen, die auf einer geschichteten, zufällig ausgewählten Stichprobe (n=5.388) basiert. Tatjana Fuchs hat versucht, mit unserer Typologie zu rechnen. Die Prozentangaben müssen insofern relativiert werden, als die Zuordnung des repräsentativen Materials zu unseren Typen nur annähernd erfolgen konnte. 3,9 % der quantitativ Befragten waren nicht zuzuordnen.

Literatur  

Adorno, Th. W. u.a. (1973, Original 1950): The Authoritarian Personality, New York.
Altvater, E. (2006): Solidarische Ökonomie. In: Widerspruch 50. Zürich: 5-16.
Boltanski, L./Chiapello, È. (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz. Frz. (1999): Le nouvel Ésprit du Capitalisme. Paris.
Bourdieu, P. (2000) Die zwei Gesichter der Arbeit. Konstanz.
Brinkmann, U./Dörre, K./Röbenack, S. (2006): Prekäre Arbeit. Ursachen, Ausmaß, soziale Folgen und politische Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigungsverhältnisse. Eine Expertise. Bonn.
Bröckling, U./Krasmann, S./Lemke, Th. (Hrsg.) (2000): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M.
Castel, R. (2005): Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat. Hamburg.
Castel, R. (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz.
Dörre, K. (2006): The increasing precariousness of the employment society – driving force for a new right-wing populism? Paper prepared for presentation at the 15th Conference of Europeanists. Chicago, March 30 – April 2, 2006.
Dubiel, H. (1995): Gehegte Konflikte. In: Merkur, Heft 12/1995: 1095-1106.
Foucault, M. (2000): Die Gouvernementalität, in: U. Bröckling u.a., a.a.O., S. 41-67.
Fromm, E. (1983): Arbeiter und Angestellte am Vorabend des dritten Reiches. Frankfurt/M.
Heitmeyer, W. (1997): Einleitung: Sind individualisierte und ethnisch-kulturell vielfältige Gesellschaften noch integrierbar? In: Ders. (Hrsg.): Was hält die Gesellschaft zusammen? Frankfurt/M.: 23-65.
Heitmeyer, W./Imbusch, P. (Hrsg.): Integrationspotenziale einer modernen Gesellschaft. Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration. Wiesbaden.
Kraemer, K./Speidel, F. (2005): Prekarisierung von Erwerbsarbeit – Zur Transformation des arbeitsweltlichen Integrationsmodus. In: Heitmeyer/Imbusch (Hrsg.), a.a.O.: 36-390.
Kronauer, M./Linne, G. (Hrsg.) (2005): Flexicurity. Die Suche nach Sicherheit in der Flexibilität. Berlin.
Simmel, G. (1903/1992): Der Streit. In: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt/M.: 284-382.
Windolf, P. (Hrsg.) (2005): Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen. Wiesbaden.

nach oben