Qualmende Vergangenheit
Zur Debatte um die SED-Diktatur,
aus: vorgänge Nr. 176 (Heft 4/2006), S. 108-125
Die Auseinandersetzungen um die SED-Diktatur, ihre Geschichte und Folgen, schlagen immer wieder in fast regelmäßigen Abständen hohe Wellen in der Öffentlichkeit. Dabei geht es zumeist weniger um historische Interpretationen. Vielmehr stehen politische Instrumentalisierungsversuche und Kämpfe um Ressourcen im Mittelpunkt, so dass die eigentlichen historischen Debatten Vehikel bei der Durchsetzung eigener Interessen bilden. Abseits der politisch und emotional aufgeladenen Diskussionen, wie sie immer wieder in der Öffentlichkeit ausgetragen werden, hat sich längst eine breit ausgerichtete, methodisch und theoretisch pluralistische historische DDR- und Kommunismusforschung etabliert, die mit Problemen zu kämpfen hat, wie sie kaum einer Wissenschaftsdisziplin fremd sind. Und doch gibt es Spezifika, die die historische DDR-Forschung von anderen Teilgebieten der Zeitgeschichte unterscheiden. Die folgenden Ausführungen versuchen, einigen dieser Besondertheiten nachzuspüren und ihre Wurzeln frei zu legen. Die Grundthese des Essays lautet: Auch wenn die DDR- und Kommunismusgeschichte noch in besonderer Weise qualmt, es gibt viele Gründe, gelassen die öffentlichen Debatten über die SED-Diktatur aufzunehmen. Einen „richtigen Weg“ des Erinnerns und ein „gültiges Geschichtsbild“ gibt es nicht.
Vergangenheit als Geschichte
Geschichte, und sei sie als noch so „total“ apostrophiert, ist immer nur ein kleiner Vergangenheitsausschnitt. Das Vergangene bestimmt die Gegenwart, gerade weil diese, „allenfalls die Breite eines Rasiermessers“ hat, „dessen Klinge unaufhörlich Teilstücke der Zukunft abschneidet und der Vergangenheit zuweist.“ [1] Historische Debatten sind deshalb auch immer Auseinandersetzungen mit Gegenwartsbezügen, nicht selten geht es allein um Gegenwart und Zukunft. Historische Re-Konstruktionen haben von ihrer Profession her zwar vor allem Historiker zum Hauptgegenstand ihrer Arbeit gemacht, aber tatsächlich kommt von ihnen nur ein Teil, wahrscheinlich sogar nur ein sehr geringer, dessen, was Gesellschaften zur Selbstvergewisserung als Geschichte, als Geschichtsbilder annehmen, verteidigen, verwerfen und immer wieder aufs Neue diskutieren. Die Vergangenheit der Geschichte ist offen und veränderbar, ihre Zukunft nicht minder.
Die Vehemenz, mit der zuweilen historische Debatten, Diskussionen um Vergangenheit und Geschichtsbilder, um historische Deutungen und gegenwartsbezogene Interpretationen, geführt werden, diese Vehemenz und Leidenschaft lässt sich nur mit der Gegenwart von Vergangenheit als Geschichte erklären. Es geht um Fakten, Kontexte, Mythen, Verkürzungen, Auslassungen und natürlich um Interpretationen. So wie niemand frei ist von Geschichte, so ist auch keine Geschichte „wahr“ oder „falsch“. Offenkundige oder bewusste Lügen und Auslassungen beeinträchtigen die Glaubwürdigkeit historischer Darstellungen. Aber die Abwesenheit eines Historischen Wächterrates in Offenen Gesellschaften verhindert, anders als in geschlossenen Gesellschaften, eine allgemeingültige Qualifizierung des Wahrheitsgehaltes zu suchen. Individuell kann qualifiziert werden, was und wie auch immer, aber es bleibt eine subjektive Einschätzung, die auch nicht dadurch objektiver wird, dass sie in bestimmten sozialen Räumen oder von bestimmten sozialen Gruppen geteilt und zur Objektivität (v)erklärt wird.
Auseinandersetzungen in und um die Gegenwart sind so auch immer „Kämpfe um Geschichte“. Deutschland hat in den Jahren seit 1989/90 mehrere solcher „Kämpfe“ erlebt. Drei Erinnerungsstränge fielen angesichts ihrer medial aufgeladenen, gesellschaftlich breiten, politisch kontroversen und wissenschaftlich von Schuldenken charakterisierten Diskussionsformen besonders auf: Die Auseinandersetzungen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, mit den Verbrechen und Folgen, blieben der Fixpunkt der deutschen Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Sie bilden den Referenzrahmen, der aber auch Veränderungen unterworfen ist. Das Ende der Nachkriegsgeschichte 1989/90 und die deutsche Suche nach einem neuen Platz im europäischen und globalen Konzert verlangt augenscheinlich nach einem historischen Selbstbewusstsein, das die Deutschen, wenn schon nicht die Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen und die Shoah geleugnet oder marginalisiert werden kann, so wenigstens zum Opfer ihrer selbst stilisiert. Ob nun „Wehrmachts-“, „Bombenkriegs-“ oder „Vertreibungs-opfer“ – mit diesen und anderen Debatten erhielten die Auseinandersetzungen um die nationalsozialistische Vergangenheit neue Töne, die in dieser gesellschaftlichen Breite so vor 1989/90 in der Bundesrepublik kaum möglich gewesen wären. Auch wenn es zu keiner Relativierung der NS-Verbrechen kam, der kausale Zusammenhang zwischen diesen und den Folgen, wie sie sich etwa im Bombenkrieg oder in der gigantischen und mörderischen Vertreibung auftaten, schien doch zuweilen verloren zu gehen.
Erreichten diese Debatten ganz Deutschland, so blieben zwei andere geographisch weitgehend separiert. Über die „68er“ und die Folgen (Stichwort: Bundesaußenminister a.D. Joseph Fischer) wird östlich von Werra und Elbe weitaus weniger gestritten, werden weitaus weniger Emotionen ausgelöst wie umgekehrt die historischen Debatten über die DDR- und Kommunismusgeschichte westlich von Werra und Elbe ebenso eher mit ethnologischem Interesse verfolgt und aufgenommen werden. Dabei liegt es doch auf der Hand, dass ein staatlich geeintes Deutschland in einem sich einigendem Europa, zumal an der Nahtstelle zwischen dem politisch alten West- und dem politisch alten Osteuropa, gar nicht umhin kommen kann, neben der nationalsozialistischen Vergangenheit auch die beiden Geschichten in der Teilungszeit als etwas Gemeinsames anzunehmen und zu verarbeiten. Wie weit wir aber von dieser gemeinsamen, integrativen deutschen Geschichte noch voneinander entfernt sind, zeigte anschaulich die Debatte um das „Schwarzbuch des Kommunismus“ Ende der neunziger Jahre. Im Gegensatz zu anderen Ländern ging es in Deutschland, das als einziges Land beide totalitären Diktaturformen als Staatspolitik erlebt hatte, nicht um den Inhalt des „Schwarzbuches“ und auch nicht um die SED-Diktatur. Im Zentrum der deutschen Debatte stand das Selbstverständnis der Bundesdeutschen vor und nach 1989. [2]
Vor allem „68er“ arbeiteten sich in dieser Debatte ganz verschieden ab und suchten nach ihrem historischen und gegenwärtigen Platz. Als Joseph Fischer dann im Zentrum einer „68er-Debatte“ stand, blieb sie im Osten merkwürdig ungehört. Und obwohl gerade diese beiden Auseinandersetzungen exemplarisch vorführten, wie eng die ost- und die westdeutsche Geschichten verzahnt und verbunden sind und wie stark diese in die Gegenwart reichen, scheinen wir vom Projekt einer gemeinsamen deutschen und damit auch europäischen Nachkriegsgeschichte fast so entfernt zu sein wie vor 15 Jahren. Bislang jedenfalls überwiegt in den Debatten und den Darstellungen (ob nun in Form von Büchern, Filmen oder Ausstellungen) eher ein additives Nebeneinander als die synthetische Integration. [3] Nur mit Appellen werden wir diese Sackgasse nicht verlassen können. Es ist eben nicht nur methodisch ein schwieriges Unterfangen zu synthetisieren, ohne dabei gleich zu synchronisieren, [4] es stellt auch eine emotionale Herausforderung in der Zeitgeschichte, Geschichts- und Erinnerungspolitik dar, Trennendes und Verbindendes, Gegensätzliches und Gemeinsames zu analysieren und auch darzustellen.
Geschichte in der europäischen Revolution 1989/91
Der „Wiederbeginn der Geschichte“ (Dahrendorf) 1989/90 hatte eine Ursache darin, dass die kommunistischen Gesellschaften sich den zwangsverordneten Geschichtskonstruktionen zu entledigen suchten und ihre Vergangenheit einer vielgliedrigen Selbstverwaltung anvertrauen wollten. Anfang der 1980er Jahre publizierten die beiden ungarischen Emigranten, Philosophen und Eheleute Agnes Heller und Ferenc Fehér ein Buch über die Geschichte und Folgen der gescheiterten ungarischen Revolution von 1956. Sie scheuten sich nicht, eine politische Prognose abzugeben, eine Prognose, die anschaulich vermittelt, dass die Sehnsucht nach Hoheit über die Deutung der eigenen Vergangenheit in diktatorischen, geschlossenen Gesellschaften zumeist ein gesellschaftliches Grundbedürfnis darstellt. Heller und Fehér schrieben: „Wer wollte mit Sicherheit voraussagen, dass es nicht doch einmal ein Staatsbegräbnis für Imre Nagy in Budapest geben wird? Und sollte die Stadt es erleben und ihr Ministerpräsident findet letztlich Ruhe an einem Ehrenplatz, dann können kaum mehr Zweifel bestehen, welche Parolen auf den Transparenten des Volkes stehen werden, das ihn begleitet.“ [5] Nur wenige Jahre später, am 16. Juni 1989, erlebte Budapest das Bild, das von Heller und Fehér prophezeit worden war. 31 Jahre nach der Hinrichtung von Imre Nagy und seinen Schicksalsgefährten gedachten in Budapest Hunderttausende in einer nationalen Trauerfeier der Ermordeten von 1958 und dem Vermächtnis der blutig niedergeschlagenen ungarischen Revolution von 1956. „Die wahre Bedeutung der Revolution von 1956 für die Geschichte Ungarns zeigte sich dadurch, dass die Rehabilitierung der Revolution die entscheidende politische Wende in der jüngsten Geschichte des Landes markierte.“ [6] Der endgültige Zusammenbruch der „fröhlichsten Baracke im Kommunismus“, wie Ungarn etwas ironisch, aber auch etwas neidisch im Ostblock genannt wurde, stand in einem engen Zusammenhang, wie in fast allen anderen kommunistischen Gesellschaften, mit der Wiederaneignung der eigenen Vergangenheit als Ausgangspunkt einer antiutopischen Revolution zum Zwecke der Wiederherstellung der bürgerlichen Gesellschaft und einer selbstverwalteten Vergangenheit. [7]
In der CSSR stand die kurze Phase des Reformkommunismus Mitte der 1960er Jahre bereits im Zeichen einer nachholenden Entstalinisierung, und die Revolution 1989 ist ohne die konkrete historische (wenn auch zeitlich kurze) Rückbesinnung der Gesellschaft auf die jüngere Vergangenheit nicht hinreichend zu erklären. Mit Alexander Dubcek und Václav Havel hatte sie zudem zwei Führungspersönlichkeiten, die diese nunmehr freizulegende Vergangenheit symbolisch personifizierten.
Der Untergang des europäischen Kommunismus begann Anfang der 1980er Jahre in Polen. Auch hier war der Protest gegen die politische und soziale Situation verbunden mit historischer Erinnerungsarbeit. Ein 1980 von Oppositionellen errichtetes Monument in Danzig erinnerte unübersehbar an die getöteten Arbeiter der Streiks und Unruhen in verschiedenen polnischen Städten zehn Jahre zuvor. Im „zweiten Umlauf“, im polnischen Samisdat spielte die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ohnehin eine große Rolle. Wahrscheinlich war der Samisdat in Osteuropa das wichtigste Medium, in dem die Vergangenheit der eigenen Gesellschaft aus den Fängen der Ideologiewächter befreit wurde. [8] Nirgends spielte der Samisdat eine solche Rolle wie in Polen. Die Verbreitung, die Auflagenhöhe, die Anzahl der Bücher, Broschüren und Periodika und die Etablierung einer geradezu illegalen Wirtschaftsstruktur waren in keinem Land so ausgeprägt wie in Polen. Hier existierten Zeitschriften im Samisdat, die Auflagen von über 5.000 Stück erzielten und an deren Herstellung 100 Personen aktiv beteiligt waren. Einzelne Bücher erreichten Auflagen von über 10.000 Exemplaren.
Aber auch im Mutterland des Kommunismus, in der Sowjetunion, waren Samisdat-Produkte seit den sechziger Jahren weit und vielfältig verbreitet. Den halbherzigen Reformprozess in der Gorbatschow-Ära begleiteten von Anfang an Geschichtsdebatten, die letztlich die Unausweichlichkeit des kommunistischen Untergangs historisch belegten. Parteichef Chruschtschow hatte auf dem XXII. Parteitag der KPdSU 1961 die Errichtung eines Memorials, eines Denkmals für einige kommunistische Opfer der Stalin-Herrschaft gefordert. Der Plan wurde nicht umgesetzt, ist aber 1987/88 in der Sowjetunion erneut aufgegriffen und auch von Gorbatschow unterstützt worden. [9] Nunmehr sollte aber an alle Opfer der kommunistischen Herrschaft erinnert werden. Bürgerrechtler, Schriftsteller und Historiker gründeten die Vereinigung „Memorial“, die sich bald nicht mehr nur zum Ziel setzte, Denkmäler zu errichten, sondern auch Bibliotheken, Ausstellungen, Forschungs- und Informationszentren sowie eine Kartei aller Opfer betreuen wollte. Ihr Anliegen wurde damals von Zehntausenden unterstützt. Heute ist „Memorial“ eine der wichtigsten zivilgesellschaftlichen Institutionen in Russland, die neben wertvoller historischer Aufklärungs- und Forschungsarbeit auch die Demokratisierung des autokratischen Russlands einfordert und deshalb staatlichen Repressionen ausgesetzt ist.
Auch in der DDR sind die sowjetischen Debatten aufmerksam und leidenschaftlich verfolgt worden. [10] Zu einer ähnlichen Geschichtsdebatte aber kam es in der DDR nicht, weil die SED-Führung bis zum Herbst 1989 jede Revision ihrer dogmatischen Geschichtsbilder unterband, was sich am deutlichsten im Verbot sowjetischer Zeitschriften und Filme 1988/89 zeigte. Hinter den gut gesicherten Akademietüren soll es zwar zaghafte Versuche gegeben haben, die alten Geschichtsdogmen aufzuweichen, aber wirklich nachweisbar sind solche Bemühungen kaum. Viele Menschen konnten zwar mit den kommunistischen Geschichtsbildern nicht viel anfangen, zumal meist eigene Erfahrungen und das Familienwissen die offizielle Geschichtspropaganda konterkarierten, aber öffentliche Debatten darüber konnten nicht geführt werden. Lediglich in oppositionellen Kreisen und in manchen Kirchengemeinden sind historische Gegenbilder entworfen worden. 1986 etwa unterschrieben ostdeutsche Oppositionelle einen Aufruf zum 30. Jahrestag der ungarischen Revolution, was heftige Gegenreaktion hervorrief, weil offiziell die ungarische Revolution in der DDR ebenso wie der „17. Juni 1953“ als faschistischer bzw. konterrevolutionärer Putschversuch galt. Im DDR-Samisdat erschien 1988 der Sammelband „Spuren“, in dem Protagonisten der Opposition erstmals die Entwicklung der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR darstellten. Schließlich haben Oppositionelle im September 1989 die Samisdat-Publikation „Urkunde. 40 Jahre DDR“ [11] vorgelegt, die individuell erfahrene DDR-Geschichte spiegelte und so die offiziell propagierten Geschichtsbilder zurückwies.
Der enge Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Realität, politischen Absichten der SED-Führung, historischen Debatten und individuellen Erfahrungen lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen, das damals viele Menschen bewegte und heute weithin der Vergessenheit anheim gefallen ist. Am Dienstag, den 13. Oktober 1987, sendeten das sowjetische Staatsfernsehen und das ZDF erstmals ein gemeinsames, mehrstündiges Programm in einer Liveschaltung zwischen Leningrad und Mainz. Der Höhepunkt war erreicht, als zum Abschluss der gemeinsamen Sendung im ZDF ein bis 1986 in der Sowjetunion verbotener sowjetischer Film ausgestrahlt wurde, der zum gesamtdeutschen Ereignis geriet: In „Die Reue“ rechnet der georgische Filmemacher Tengis Abuladse in einer über zweistündigen Tragikomödie kompromisslos mit dem Kommunismus und dem Totalitarismus jedweder Spielart ab. Der Film handelt vom verstorbenen Diktator Warlam, der von einer Frau ausgegraben wird, die seine Verbrechen offen legen will. Warlam sieht in der Rückblende aus wie Stalins Staatssicherheitschef Berija, trägt einen Hitlerbart und ein faschistisches Schwarzhemd. Um einen Eindruck zu vermitteln, wie dieser Film auf Ostdeutsche wirkte, zitiere ich aus dem Tagebuch eines 20jährigen. Er schrieb am Morgen des 14. Oktober 1987: „Ein bewegender Abend liegt hinter mir. Gestern Abend lief im ZDF der 1984 gedrehte sowjetische Film ‚Die Reue’. Vor Augen wurde ein Stück realer Sozialismus geführt. Der Teil des Sozialismus, den ich und Tausende andere bekämpfen, ausmerzen wollen. Meine Haltung wurde eher noch verschärft: Diese korrupten Verbrecher sind physisch zu vernichten, eine Psyche besitzen diese Schweine nicht. Ich bin ohne Worte.“
Der Tagebuchschreiber war kein militanter Antikommunist, sondern eher ein junger Mann, der vom realen Kommunismus desillusioniert worden war und der dem Traum vom demokratischen Sozialismus anhing. Gerade deswegen, so scheint es, verteidigte er seine Utopien militant gegen jene, die vorgaben, diese Utopien verwirklicht zu haben. Seine irritierende Sprache ist offenbar Ausdruck seiner gefühlten Ohnmacht.
Das Medienereignis geriet in der DDR zu einer der zahlreichen offiziellen Anti-Perestroika-Kampagnen, die ihrerseits gänzlich unbeabsichtigt die Gesellschaft aus ihrem Dornröschenschlaf erweckten und die Geschichte nicht an ihr Ende führte, wie Francis Fukuyama meinte, sondern, wie Ralf Dahrendorf beobachtete, deren Wiederbeginn letztlich zur Folge hatte. Es brodelte nach diesem Film in der DDR heftig, so heftig, dass sich erst in der „Jungen Welt“ am 28. Oktober 1987 und dann im „Neuen Deutschland“ am 31. Oktober/1. November 1987 zwei SED-Demagogen – Hans-Dieter Schütt und Harald Wessel – genötigt sahen zu reagieren. Sie saßen sprichwörtlich in der Zwickmühle. Sie mussten den Film verurteilen, und zugleich durfte diese Verurteilung nicht in antisowjetische Ressentiments ausarten. Dieser Spagat ist den beiden deshalb nicht gelungen, weil sie die reine Lehre weisungsgemäß vom Moskauer Zentrum ablösten und urplötzlich wieder vom spezifisch nationalen Weg zum Sozialismus die Rede war. Sie setzten um, was Kurt Hager am 20. März 1987 dem „stern“ in einem Interview, das vom SED-Politbüro nur wenige Tage zuvor abgesegnet worden war, übermitteln ließ. SED-Chefideologe Hager („Tapeten-Kutte“) hatte verlautbaren lassen: „Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“ Das war die deutlichste und zugleich bekannteste Absage an Perestroika und Glasnost, die ein SED-Funktionär formuliert hatte. Sowohl auf Schütts und Wessels als auch auf Hagers Einlassungen folgten jeweils Hunderte schriftliche Reaktionen empörter DDR-Bürger. Die drei Ideologen hatten es geschafft, zum Gesprächsthema Nr. Eins zu werden. Die Hinterfragung der verordneten Geschichtsbilder wurde so auch in der DDR, wenn auch weniger offensiv als etwa in Polen, Ungarn oder gar der Sowjetunion, zu einer zentralen Wegmarke hin zur Herbstrevolution.
Die Sehnsucht nach selbstverwalteter Vergangenheit
Die Revolution selbst war bereits von einem hohen Geschichtsbewusstsein geprägt, ein Geschichtsbewusstsein, das anzeigte, die revolutionierte Gesellschaft müsse auch dadurch charakterisiert sein, dass die demokratische, pluralistische und individuelle Aneignung von Vergangenheit und Geschichte als Selbstverständlichkeit in der neuen Gesellschaft geradezu axiomatisch gesetzt sei. Die Urkunde „40 Jahre DDR“ gehörte zu diesem Prozess ebenso wie die Wiederbegründung einer sozialdemokratischen Partei Anfang Oktober, die allein durch ihre Existenz die SED historisch delegitimierte. Auch dass Bürgerrechtler die brutalen Übergriffe von Staatssicherheit und Volkspolizei am 7. und 8. Oktober in Berlin sofort mit etwa 70 Erinnerungsberichten dokumentierten, zeugten von dem Bewusstsein, Geschehenes nicht mehr dem Vergessen anheim fallen zu lassen. Als schließlich Ende Oktober 1989 der Schauspieler Ulrich Mühe im Ostberliner „Deutschen Theater“ aus den Erinnerungen Walter Jankas vorlas, der etwa die brutalen Verhörmethoden der Staatssicherheit schilderte, war das öffentliche Schweigen über die Vergangenheit endgültig gebrochen und auch nicht mehr rückgängig zu machen. Gerade weil ein treuer Kommunist über seine Erfahrungen berichtete, hinterließ dieses Buch und die landesweit übertragene Lesung bis tief in die Reihen der SED sichtbare Spuren, die von Irritation bis hin zu Wut, Trauer und Scham reichten.
Dieses wiedererwachte gesellschaftliche Geschichtsbewusstsein zeigte sich übrigens auch am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz, als etwa eine halbe Million Bürger und Bürgerinnen die Demokratisierung der DDR einforderten und Repräsentanten des Regimes wie Markus Wolf oder Günter Schabowski, die auch als Redner auftraten, gnadenlos ausbuhten. Tausende Spruchbänder waren zu sehen. Der Versammlungsleiter rief kurz vor dem Ende der Kundgebung dazu auf, die „Fülle der Transparente“ zu sammeln. Die kreativen Plakate und Transparente sollten „bewahrt“ bleiben, weshalb sie hinter der „Bühne“ abgelegt und in einem eigenen Depositum aufbewahrt werden sollten. Das geschah auch und bedeutete zugleich den Beginn einer geschichtspolitischen und geschichtswissenschaftlichen Debatte, die im Prinzip bis heute anhält.
Die Menschen begannen aber nicht nur, ihre Revolution schon während der Revolution zu historisieren, sie sorgten auch dafür, dass die Vergangenheit überhaupt als Geschichte, Erinnerung und Memorial diskutiert werden konnte. Denn die ab Anfang Dezember 1989 erfolgten Besetzungen von Bezirks- und Kreisdienststellen des MfS hatten ihren Ausgangspunkt in Mutmaßungen, die Staatssicherheit würde Teile ihrer Unterlagen ins Ausland verbringen. Der Slogan „Meine Akte gehört mir“ war nur einer von vielen sinnfälligen Ausdrücken, der das Verlangen nach Hoheit über die eigene Vergangenheit symbolisierte. Zum Ende der Staatssicherheit gehörte der Wunsch, deren geheimnisumwittertes Wirken zu erkennen und gesellschaftlich wie individuell zu verarbeiten. Die Öffnung dieser und anderer Akten, etwa der SED, geschah ohne Vorbild und fand auch nirgends Nachahmer.
Dieser Prozess ist vor der Wiedervereinigung in Gang gesetzt worden, zu einem Zeitpunkt, als noch niemand genau wissen konnte, wann es zur deutschen Einheit käme. Das ist zu betonen, weil immer wieder behauptet wird, der „deutsche Weg“ in Sachen „Aufarbeitung“ hänge eng mit dem radikalen Elitenaustausch zusammen, der aufgrund der Teilung auch nur in Deutschland möglich gewesen sei. Das ist nur der kleinere Teil der Wahrheit. Das Stasiunterlagengesetz ist von der Volkskammer erarbeitet worden. Als es nicht Bestandteil des Einigungsvertrages wurde, waren es wieder beherzte Bürger und Bürgerinnen, die mit phantasievollen Aktionen und Protesten dafür sorgten, dass eine Zusatzklausel in den Einigungsvertrag aufgenommen wurde, die ein baldiges neues Stasiunterlagengesetz in Anlehnung an das Volkskammergesetz verbindlich festschrieb. Und dies ist letztlich nur möglich gewesen, weil in der Revolution der Staatssicherheitsdienst von der Gesellschaft besetzt und aufgelöst wurde. Nicht nur das Stasiunterlagengesetz mit seinen Folgen war singulär, auch die Besetzung der Stasizentralen fand in diesem Umfang in Osteuropa nirgends ein Pendant.
Auch der radikale Umbau der historischen Wissenschaft in der DDR einschließlich der personellen und institutionellen Konsequenzen hatte seinen Ursprung in der DDR selbst. Zunächst meldeten sich im November und Dezember einige tonangebende, aber auch einige jüngere SED-Historiker zu Wort, die selbstkritisch einräumten, dass die Geschichtswissenschaft als Magd der Politik agierte und grundlegend erneuert werden müsse. Wolfgang Küttler, in den achtziger Jahren der maßgebliche leninistische Geschichtstheoretiker an der Akademie der Wissenschaften, erklärte am 10. November 1989 auf einer Tagung in Bayern: „Es ist einfach vieles neu aufzuarbeiten, aber es muss natürlich, weil alles nicht so schnell geht, auch noch mit Vorhandenem gearbeitet werden. Ich kann für die Historiker sagen: was die Geschichte der DDR betrifft, sind Synthesen, die bisher erschienen sind, wirklich nicht mehr zu verwenden. Das war keine wissenschaftlich betriebene Geschichte, sondern zum großen Teil ein Ritual, ein zelebrierender Kult, an dem wir leider alle teilgehabt haben – nolens volens – mehr oder weniger, aber man soll das nicht zu sehr differenzieren. Das muss mit aller Schärfe gesagt werden. Hier kann die Selbstkritik gar nicht radikal genug sein, aber das ist auch erst ein im Streit durchzusetzender Prozeß.“ [12]
Wenig später verschärfte sich die Kritik, die nunmehr aber von Außenseitern des Faches und Nichtkommunisten vorgetragen wurde, was dann dazu führte, dass die „Selbstkritik“ der SED-Historiker verstummte und sie bald dazu übergingen, ihr Tun und ihre Produkte vehement zu verteidigen. Am 10. Januar 1990 veröffentlichten schließlich die beiden Historiker Armin Mitter und Stefan Wolle einen Aufruf, der die Bildung eines Unabhängigen Historiker-Verbandes in der DDR anregte. Darin hieß es: „Auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften herrscht eine erschreckende Situation. Jahrzehntelang erstickte ein ungenießbarer Brei aus Lügen und Halbwahrheiten jede freie geistige Regung. Scholastische Albernheiten und abgestandene Gemeinplätze wurden als ‚einzige wissenschaftliche Weltanschauung‘ ausgegeben. Pseudowissenschaftler schwangen sich auf den Richterstuhl marxistischer Allwissenheit und diffamierten in dümmlicher Arroganz ganze Epochen der modernen Geistesgeschichte.“ In dem Papier hieß es weiter, dass „Philosophie, Soziologie, selbst Kunst- und Literaturwissenschaft …. zu Bestätigungsinstanzen der SED-Beschlüsse [wurden]. Das traurigste Los aber traf die Geschichtswissenschaft.“ Klar benannten die Autoren zudem, warum das „traurigste Los“ die Historiographie traf: „Die Legitimation, die ihr das Volk vom ersten Tag ihrer Machtergreifung an verweigerte, versuchte die SED durch eine neue Geschichtsideologie zu ersetzen.“ [13]
Bald zeigte sich, dass es in der historischen Debatte nicht mehr nur um Veränderungen, sondern um einen radikalen Neuaufbau gehen müsse, der neben institutionellen und personellen Veränderungen letztlich zum Ziel habe, das kommunistische Geschichtsbild durch wissenschaftliche Geschichtsbilder zu ersetzen. Dies konnte dann verglichen mit den anderen postkommunistischen Staaten schneller und substantieller erfolgen, weil mit der Wiedervereinigung ganz andere Möglichkeiten vorhanden waren. Die wichtigste aber wiederum war vor der Einheit geschaffen worden: die Öffnung der Archive. Von diesem Prozess, den die Kommunisten mehrfach zu stoppen sich anschickten, freilich erfolglos, gingen die maßgeblichen Impulse für die wissenschaftliche und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte der SBZ/DDR, des Kommunismus und des Verhältnisses des Westens zum Ostblock aus.
In der ostdeutschen Gesellschaft war das Bedürfnis nach historischer Auseinandersetzung, und sei es nur die eigene Biographie oder die der Familie, immens. Als kurz vor den Volkskammerwahlen im März 1990 der Band „Ich liebe euch doch alle“ mit Lageberichten des MfS aus dem Jahre 1989 herauskam, versammelten sich vor dem „Haus der Demokratie“ in Ost-Berlin, wo von LKW-Pritschen herunter der Band verkauft wurde, Tausende Menschen, um die heiß begehrte Ware zu erhalten. Die Menschen wollten wissen, was mit ihnen und um sie herum in den vergangenen Jahren eigentlich geschehen ist. Dieser Quellenband der beiden Historiker Mitter und Wolle ging innerhalb weniger Wochen in 250.000 Exemplaren über die Ladentische. Eine neue Geschichtsproduktion, die ganz elementare Bedürfnisse in Umbruchzeiten bediente, war geboren worden. Es ging um allgemeine Aufklärung und um die persönliche Frage, wer für welche markanten biographischen Punkte wirklich verantwortlich war.
Mitter und Wolle hatten Anfang 1990 gegen die etablierte kommunistische Historikerzunft den bereits erwähnten „Unabhängigen Historiker-Verband“ gegründet. Im Gründungsaufruf war als eine zentrale Aufgabe benannt, SED-, MfS-Unterlagen sachkundig sicherzustellen und die „gegenwärtige Demokratiebewegung“ zu dokumentieren. Damit waren drei zentrale Felder der historiographischen Forschung und geschichtspolitischen Erinnerung benannt.
Während die Debatte um die SED-Unterlagen im Sommer 1992 beendet war und mit der Gründung der SAPMO Anfang 1993 ein institutionell sichtbares Ende gefunden hatte – für die SED-Akten wie für alle anderen Unterlagen mit Ausnahme der Archivalien des DDR-Außenministeriums, die im Auswärtigen Amt liegen, gibt es keine dreißigjährige Sperrfrist wie sie im Regelfall das Bundesarchivgesetz vorsieht – blieben die Auseinandersetzung um die MfS-Akten und die Unterlagen der DDR-Opposition bis in die Gegenwart hinein hochaktuell und politisch.
Geschichtspolitik und politische Kultur
Die Anfang 1990 entzündete Geschichtsdebatte in der DDR hat die Geschichtskultur, Geschichtspolitik, Geschichtswissenschaft und die politische Kultur der Bundesrepublik mehr verändert als es viele Beobachter wahrnehmen. Die Gedenkkultur der Bundesrepublik hat erst nach 1990 allmählich Plätze und Räume gefunden, um die Opfer und Gegner des Kommunismus wirklich zu würdigen. Der seit den sechziger Jahren zunehmend sinnentleerte „Tag der deutschen Einheit“ am 17. Juni ist zwar 1990 durch den eher technokratisch zustande gekommenen Feiertag am 3. Oktober abgelöst worden, das verhinderte aber nicht, dass in einem breiten gesellschaftlichen Diskussionsprozess der Opfer des Kommunismus intensiver, würdiger und inhaltsreicher gedacht wird als jemals zuvor.
Auch wenn dies noch längst nicht im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert sein mag, das Gedenken etwa 2003 an den 50. Jahrestag des „17. Juni“ hat eindrücklich vor Augen geführt, dass die Bundesrepublik eine neue, nicht nur um neue Varianten angereicherte Erinnerungs- und Geschichtskultur besitzt. [14] Bis dahin war es ein weiter und dornenreicher Weg, der hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden kann. Entscheidend war jedoch dabei, dass die wichtigsten Impulse dafür aus der Gesellschaft selbst kamen, in der Regel aus Kreisen, die als Opfer und Gegner des Regimes anzusprechen sind. Die beiden Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages (1992-98) etwa, deren Wirkung kaum hoch genug veranschlagt werden kann, gingen auf eine Initiative ostdeutscher Abgeordneter zurück, die selbst aktiv in der DDR-Opposition tätig waren.
Jürgen Habermas hat 1994 vor dieser Kommission davon gesprochen, dass in Deutschland ein „antitotalitärer Konsens“ unabdingbar für die weitere Entwicklung der Demokratie sei. [15] Das war vielen auch schon vorher klar. Die Bedeutung der Rede von Habermas liegt weniger im Inhalt als vielmehr darin, dass er diese Rede zu diesem Zeitpunkt hielt. Er hat damit nicht nur implizit seine Skepsis gegenüber der Wiedervereinigung aufgegeben, er hat sogleich mit dem Schlagwort vom „antitotalitären Konsens“ die Totalitarismus-Theorie und die komparatistische Sicht auf Diktaturen für viele Linke und Linksliberale „salonfähig“ gemacht und den Kalten Krieg gegen Antikommunisten beendet. Das war für die politische Kultur der Bundesrepublik wohltuend, weil außerhalb dogmatischer Zirkel der Kommunismus endgültig seine angebliche Sozialutopie verlor.
Ein ähnlicher Vorgang spielte sich ein paar Jahre später ab. Es musste 2002 Günter Grass im „Krebsgang“ kommen, um eine Vertreibungsdebatte überhaupt in all ihren Facetten führen zu können. Dass in diesen und allen anderen Debatten stets auch ideologische Annahmen und Vorurteile eine Rolle spielen, liegt auf der Hand, aber diese Vorgänge sind deshalb fundamental, weil sie die Themen von den Rändern der Gesellschaft dorthin holten, wohin sie gehören: in ihre Mitte. Und dies funktioniert in der Bundesrepublik nur, wenn Ikonen der Linken und Linksliberalen Themen „frei geben“. Das mag sich plakativ anhören, scheint aber der Realität zu entsprechen. Während noch die „Walser-Bubis-Debatte“ allein politisch und ideologisch zur Stellungnahme herausforderte, konnten die jüngsten Einlassungen von Grass zu seiner eigenen Vergangenheit ein gesellschaftliches Differenzierungsvermögen befördern, das bei einem ähnlichen Bekenntnis – wofür es freilich keinen autobiographischen Anlass gibt – etwa von Ernst Nolte wohl kaum zu erwarten gewesen wäre.
Natürlich wäre es völlig abwegig, alle historischen Debatten der letzten 16 Jahre in Deutschland allein auf die ostdeutsche resp. europäische Revolution zurückführen zu wollen. Aber deren Anteil daran ist wiederum auch nicht zu leugnen. Die Debatte etwa um die Verstrickung herausgehobener bundesdeutscher Historiker in die nationalsozialistische Diktatur [16] wäre, so eine These, ohne die Debatte um die legitimatorische Arbeit der ostdeutschen Historiker für die kommunistische Diktatur nicht möglich gewesen. [17] Man könnte eine ganze Reihe weiterer Geschichtsdebatten der vergangenen Jahre anführen und könnte immer wieder eine solche These behaupten. Dass dabei die veränderte weltpolitische Rolle Deutschlands, die Suche nach einem angemessen Platz im Konzert der Mächtigen und nach einem neuen weltpolitischen Selbstverständnis eine erhebliche Rolle spielen, ist unbestritten. Ebenso ist zu konstatieren, dass die Indienstnahme der Vergangenheit zur Konstruktion neuer Geschichtsbilder mit dem Ziel erfolgt, die Demokratie zu stärken und auszubauen. Dass dabei zuweilen Konstruktionen zu Verzerrungen führen, mag aufregen, ist aber kaum zu ändern.
Die wissenschaftliche und breite gesellschaftliche Beschäftigung mit der DDR-Geschichte und der Geschichte des Kommunismus hat ihre Wurzeln in der Revolution von 1989/90. In der alten Bundesrepublik war die „DDR-Forschung“ mehr Anhängsel der Politik als im Wissenschaftsbetrieb verankert. Sie führte ein Schattendasein, das allerdings stabil und gut subventioniert war. Verbände von Opfern der kommunistischen Diktatur und von DDR-Flüchtlingen galten gemeinhin als konservativ oder reaktionär. Ab den siebziger Jahren waren sie in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit kaum noch wahrnehmbar. Die Fernsehsendungen von Gerhard Löwenthal galten vielen als nicht akzeptabel und nicht konsumierbar, als letzte Ausgeburt des Kalten Krieges. Wer sich heute unbefangen Löwenthals Sendungen anschaut, wird dies nicht verstehen können. Diese Abwehrhaltung aber symbolisiert deutlich einen in den siebziger und achtziger Jahren verbreiteten Zeitgeist, der in der DDR weder eine Diktatur noch das Teuflische an der kommunistischen Ideologie und Praxis erkennen konnte und wollte.
Das muss hier nicht vertieft werden. Es muss aber darauf hingewiesen werden, weil es wirkungsmächtig auch nach der Revolution blieb, zum Beispiel dort, wo den Ereignissen von 1989/90 strikt der Revolutionscharakter abgesprochen wird. Oder dort, wo das MfS, die ostdeutsche Geheimpolizei, als ein Pendant des BND/VS missverstanden wird. Oder auch dort, wo der freiheitlichen Gesellschaft arkadische Gleichheitsvorstellungen gegenübergestellt werden.
SED-Diktatur: Gesellschaftliche Aufarbeitung und wissenschaftliche Auseinandersetzung
Im Mai 2006 stellte eine von der Bundesregierung ein Jahr zuvor berufene zehnköpfige Kommission unter Leitung des Potsdamer Zeithistorikers Martin Sabrow ihren Abschlussbericht zur Bildung eines Geschichtsverbundes „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ der Öffentlichkeit vor. Die Kommission setzte sich aus Historikern, Journalisten, Museumsfachleuten und ostdeutschen Bürgerrechtlern zusammen. Hinter verschlossenen Türen mühte sich die Kommission ein Jahr lang, Ideen und Vorschläge zu entwickeln und zu sammeln, um die Beschäftigung mit der SED-Diktatur in einen neuen strukturellen Zusammenhang zu stellen und so eine gewisse Dauerhaftigkeit zu erreichen. Kaum hatte die Kommission ihr Papier der Öffentlichkeit präsentiert, entwickelte sich eine heftige Debatte, die wohl Kommissionsmitglieder wie interessierte Beobachter gleichermaßen überraschte.
Neben viel Berichtsprosa enthält das Papier als zentralen Vorschlag die Schaffung von drei Aufarbeitungsschwerpunkten: „Herrschaft – Gesellschaft – Widerstand“, „Überwachung und Verfolgung“ sowie „Teilung und Grenze“. Im Kern geht es der Kommission darum, die gesellschaftliche Aufarbeitung der SED-Diktatur zu bündeln und zu zentralisieren und so die gewachsene Institutionenlandschaft neu zu sortieren. Außer strukturellen und damit finanziellen Empfehlungen schlägt die Kommission vor, künftig stärker als angeblich bislang geschehen, den Alltag und die Alltagskultur in den Blick zu nehmen, um so das Interaktionsverhältnis zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Herrschern und Beherrschten besser verstehen und abbilden zu können.
Der Kommission blies sogleich starker Gegenwind entgegen. Es war von „parteipolitischer einseitiger Besetzung“ der Kommission ebenso die Rede wie ihr vorgeworfen wurde, eine „Weichspülung der SED-Diktatur“ betreiben zu wollen oder wenigstens einer solchen dienlich zur Seite zu stehen. Vor allem aus der „Provinz“ kam der Vorwurf, die Aufarbeitung „verstaatlichen“ zu wollen und eine berlinzentristische Struktur installieren zu wollen. Wochenlang wurden Zeitungsseiten und Radiosendungen mit erhitzten Beiträgen gefüllt, ohne dass sich absehen ließ, wer mit wem worüber eigentlich stritt. Alte „Frontlinien“ schienen nicht mehr zu existieren, neue taten sich auf, die nur wenige Wochen zuvor undenkbar schienen. Der Großtanker der Aufarbeitung, die Behörde der Bundesbeauftragten für die MfS-Unterlagen, kam gleich noch mit unter Beschuss. Die einen forderten vehement dessen Untergang und die Übergabe der Akten ins Bundesarchiv bzw. die Landesarchive, die anderen verteidigten dessen Existenz und forderten ein dauerhaften Existenzrecht. Hinzu kamen Stimmen, die eine zu starke Fixierung auf die SED-Diktatur im bundesdeutschen Erinnerungskanon beklagten. Ihre Widersacher freilich äußerten ebenso lautstark, dass eine solche Wahrnehmung geradezu grotesk sei, da genau das Gegenteil zuträfe.
Worum geht es eigentlich? Ganz einfach: um einen Streit, der seit der Wiedervereinigung mit unterschiedlicher Intensität immer wieder entfacht und geführt worden ist und regelmäßig im Sande zu verlaufen schien, um jedoch genauso regelmäßig wieder zu entflammen. Er wies immer drei Dimensionen auf, die nicht immer scharf voneinander zu trennen waren: es ging erstens um juristische Aspekte der Aufarbeitung, die von Entschädigungen, über Renten und Überprüfungen im Öffentlichen Dienst bis hin zu strafrechtlich relevanten Vorgängen (z.B. „Politbüroprozess“, „Mauerschützenprozess“) reichten.
Hinzu kamen Rehabilitierungen für erlittenes Unrecht sowie als überlagernder Dauerbrenner die Frage, wie mit MfS-belasteten Personen umgegangen werden sollte und welche beruflichen Positionen diese in einem freiheitlichen Gemeinwesen einnehmen dürften. Dieser Komplex, der auch in der Gegenwart immer noch aktuell ist, wenn er auch seine Breitendimension aus den neunziger Jahren verloren hat, soll hier unbeachtet bleiben. Mit ihm hingen und hängen aber die anderen beiden anzusprechenden Dimensionen der Aufarbeitung eng zusammen, weil von ihnen wesentliche Impulse zur Deutungsgeschichte der SED-Diktatur und DDR-Gesellschaft ausgingen und immer noch ausgehen.
Diese beiden anderen Dimensionen lassen sich einerseits mit „gesellschaftlicher Aufarbeitung“ und andererseits mit „wissenschaftlicher Auseinandersetzung“ umschreiben, ohne dass es immer möglich ist, beide Bereiche scharf voneinander zu trennen.
Die „gesellschaftliche Aufarbeitung“ wurzelt in der Revolution selbst. Nach der Erstürmung und Besetzung der MfS-Zentralen bildeten sich „Bürgerkomitees“, die zunächst die Vernichtung von MfS-Akten zu verhindern suchten, sodann erste Dokumentationen mit MfS-Akten herausgaben und schließlich Projekte zur historischen Aufarbeitung der SED-Diktatur initiierten. Bürgerkomitees in Leipzig, Magdeburg oder Berlin haben sich dabei Meriten erworben, die kaum überschätzt werden können. Daneben bildeten sich in allen ostdeutschen Bundesländern unabhängige Aufarbeitungsinitiativen und Vereine, die nichtstaatliches Material in unabhängigen Archiven sammeln, Ausstellungen organisieren, Dokumentationen veröffentlichen und historische Darstellungen publizieren, die allesamt dem Anliegen verbunden sind, dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der SBZ/DDR nachzuspüren. Auch wenn die Geschichte von Opposition und Widerstand den zentralen Gegenstand dieser Bemühungen darstellt, so sind doch in den vergangenen Jahren viele andere Themenbereiche aufgegriffen und debattiert worden.
Diese Initiativen, die den Anspruch einer selbstverwalteten Vergangenheit verkörpern, werden zumeist von früheren Oppositionellen getragen, sind in ihrer personellen Größe zumeist überschaubar und stehen fast durchweg auf einem unsicheren finanziellen Boden. Ihr Idealismus hat viel dazu beigetragen, dass die Beschäftigung mit der SED-Diktatur in den letzten Jahren überhaupt ein öffentliches Thema wurde und blieb. Gerade die Nicht-Berliner Vereine sind oftmals die wichtigsten Motoren und Multiplikatoren in ihren Regionen, wenn es um die Beschäftigung mit der kommunistischen Vergangenheit geht. Gemeinsam mit Opferverbänden, die neben juristischen und politischen Anliegen auch Aufarbeitungsprojekte betreiben, haben diese Initiativen immer wieder dazu beigetragen, dass die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur ein wichtiges Thema in der Erinnerungskultur und Geschichtspolitik blieb.
In Verbindung mit Politikern und Abgeordneten der SPD, CDU und Bündnis 90/Die Grünen, die selbst aus oppositionellen Zusammenhängen vor 1989/90 kamen, gelang es immer wieder, die gesellschaftliche Aufarbeitung der SED-Diktatur in übergeordnete politische und staatliche Zusammenhänge einzuordnen. Dazu gehören als bekannteste Beispiele etwa die Verabschiedung des Stasiunterlagengesetzes und die Bildung der Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des MfS, die zwei vom Deutschen Bundestag eingesetzten Enquete-Kommissionen (1992-98), deren insgesamt 33 Berichtsbände mit Protokollen und Expertisen mittlerweile zur Grundlage der historischen DDR-Forschung überhaupt geworden sind, oder die 1998 gegründete Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, deren wichtigstes Arbeitsfeld die Förderung von Projekten der gesellschaftlichen Aufarbeitung darstellt. Hinzu kommen vom Bund und den Ländern geförderte oder initiierte Museen, Gedenkstätten und Veranstaltungen. Es existiert ein weit verzweigtes Aufarbeitungs- und Förderungsnetz, in das viele Institutionen und Verbände involviert sind, so dass zuweilen auch erhebliche Kompetenzstreitigkeiten zu beobachten sind.
„Gesellschaftliche Aufarbeitung“ in der offenen Gesellschaft umfasst aber nicht nur die bislang erwähnten autodidaktischen und erfahrungsgesättigten Profis, dazu zählt ebenso der gesamte Medienbereich, der nicht nur skandalisierte und manchmal für Überdruss am Thema sorgte, sondern auch viele seriöse und wichtige Beiträge zur Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit lieferte.
Schließlich gehört dazu auch die in sich relativ abgeschottete postkommunistische Szene im Umkreis der SED/PDS/Linkspartei, die nicht nur eine erstaunliche Produktivität auszeichnet, sondern es auch immer wieder versteht, die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Allerdings wäre es verfehlt anzunehmen, dass deren Geschichtsbilder ebenso milieuverhaftet blieben wie ihre Gruppenstruktur. Ganz im Gegenteil: in den letzten Jahren ist zu beobachten, dass zwar die Vertreter kommunistischer oder DDR-verklärender Geschichtsbilder im öffentlichen Diskurs immer seltener in Erscheinung treten, dafür aber scheinen ihre Theorien und Interpretationen, ihre Erklärungen und Verklärungen immer präsenter in den öffentlichen Debatten zu sein. Eine freiheitliche Gesellschaft kann und muss das aushalten.
Neben der „gesellschaftlichen Aufarbeitung“ existiert die „wissenschaftliche Auseinandersetzung“ mit der kommunistischen Vergangenheit. Und es ist wirklich eher einen Neben- als ein Miteinander. Die so genannten „Barfußhistoriker“ können oft mit der Sprache, dem Denkstil, den Fragestellungen und erkenntnistheoretischen Zielen der Wissenschaftler nichts anfangen. Denen wiederum sind die Beiträge aus der gesellschaftlichen Aufarbeitung oftmals zu moralisierend, methodisch zu unbedarft, zu politisch oder einfach nur zu „naiv“. Die existierende Grenze wird beidseitig nur selten überschritten, das Interesse am Tun der jeweils anderen Seite ist eher gering. Es gibt nur ganze wenige Personen und Institutionen, die zielgerichtet, bewusst und systematisch zwischen den verschiedenen Ansätzen zu vermitteln suchen, die beide zu integrieren beabsichtigen und die überhaupt die unterschiedlichen Herangehensweisen als nicht nur legitim und nötig ansehen, sondern überhaupt in ihrer Unterschiedlichkeit realisiert haben.
Die Grenze ist kulturell und von unterschiedlichen Erfahrungen geprägt. Denn während die „gesellschaftliche Aufarbeitung“ ziemlich eindeutig „ostdeutsch“ geprägt ist, erscheint der wissenschaftliche Diskurs „westdeutsch“ dominiert. Das mag plakativ klingen. Aber der Elitentransfer und die Rekrutierungspraxis nach 1989/90 haben nun einmal zur Folge gehabt, dass alle wissenschaftlichen Institutionen, die sich in den letzten Jahren mit der SED-Diktatur beschäftigten, ganz eindeutig von Wissenschaftlern geprägt wurden, die bundesdeutsche Sozialisierungsmuster aufwiesen. Das hat zahlreiche Auswirkungen auf die Nachwuchsrekrutierung, die Debattenkultur, die Finanzierungspolitik, methodische Ausrichtungen und nicht zuletzt erkenntnistheoretische Fragestellungen gezeitigt. Das gilt im Übrigen für die universitäre Lehre und Forschung ebenso wie für die außeruniversitären Forschungseinrichtungen (z.B. Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, Hannah-Arendt-Institut Dresden, Forschungsabteilung bei der BStU, Forschungsverbund SED-Staat). Es geht hier nicht darum, diese Entwicklung zu kritisieren oder zu beklagen, sie ist lediglich zur Kenntnis zu nehmen.
Die DDR- und Kommunismusforschung hat sich nach 1989/90 methodisch, theoretisch und empirisch so breit und plural entwickelt, wie es für andere Zweige der Geistes- und Sozialwissenschaften auch typisch ist. Nach einer langjährigen selbstgewählten Verinselung scheint sich die DDR- und Kommunismusforschung nun auch immer stärker in den allgemeinen Wissenschaftsbetrieb zu integrieren, was sich zum Beispiel an der zunehmenden Zahl komparatistischer Studien zeigt, auch die Internationalisierung hat in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht.
Es ist nicht zu erwarten, dass gesellschaftliche Aufarbeitung und wissenschaftliche Beschäftigung zukünftig die Grenzen zwischen beiden Ansätzen fließender machen werden. Das wäre zwar wünschenswert, ist aber gar nicht nötig. Denn die Selbstverwaltung der Vergangenheit folgt anderen Regeln als die wissenschaftliche Sezierung und Interpretation. Beide habe zwar zum Ziel, Geschichte zu konstruieren, aber ihre Erkenntnisinteressen unterscheiden sich so erheblich voneinander, dass über gelegentliche Berührungspunkte hinaus ein Ineinanderaufgehen geradezu als herber gesellschaftlicher Verlust angesehen werden müsste. Die Subtilität wissenschaftlicher Ziele, Methoden und Interessen kann sich nicht an messbarer unmittelbarer gesellschaftlicher Wirkung ausrichten. Ebenso wäre es verfehlt, gesellschaftliche Aufarbeitung ohne diese sofortige Wirkung betreiben zu wollen. Beide mögen voneinander mehr profitieren können, als es in den letzten Jahren zumeist geschah. Und gewiss könnten auch bestehende gegenseitige Ressentiments, die manchmal zu einem Gegen- statt einem Nebeneinander führen, abgebaut werden. Aber mehr als ein konstruktives Nebeneinander könnte es nur zu dem Preis geben, dass ein Ansatz seine Regeln und Ziele aufgibt, was weder wünschenswert noch auch nur denkbar oder machbar ist.
Die Sabrow-Kommission ist denn auch beredter Ausdruck eines solches Missverständnisses, dieses Nebeneinander aufheben zu wollen. Dafür ist weniger die Kommission als vielmehr ihr Auftraggeber verantwortlich. Denn in dieser Kommission arbeiteten gestandene Wissenschaftler aus traditionellen Wissenschaftseinrichtungen und bis auf eine Ausnahme solche Bürgerrechtler, die nicht in der gesellschaftlichen Aufarbeitung institutionell fest verankert sind, mit dem Auftrag zusammen, Perspektiven für die gesellschaftliche Aufarbeitung zu entwickeln, ohne dabei die Forschungsperspektiven universitärer und außeruniversitärer Wissenschaftseinrichtungen mit einbeziehen zu dürfen. So kam denn auch ein Papier heraus, das die gesellschaftliche Aufarbeitung mit wissenschaftlichen Perspektiven versah und dabei übersah, dass ein Großteil der Vorschläge prinzipiell am Selbstverständnis der gesellschaftlichen Aufarbeitung vorbeizielte und eher im wissenschaftlichen Kontext zu verorten wäre.
Geschichte und Gesellschaft
Es gibt weder richtiges noch falsches Erinnern. Objektive Wahrheiten stehen den Ansprüchen offener, freiheitlicher Gesellschaften entgegen. Kritik an Geschichtsbildern, -konstruktionen und -deutungen hat nicht nur zum Ziel, andere Bilder, Konstruktionen und Deutungen öffentlich ins Bewusstsein zu bringen, sondern diese zugleich über die Kritik an anderen Entwürfen zu schärfen und zu hinterfragen. Die Geschichtslüge und bewusste Geschichtsklitterung hat in der offenen Gesellschaft nur eine begrenzte Halbwertszeit. Man mag sie harsch als solche entlarven, man kann aber auch auf den Schultern der Muse Klio sitzend gelassen bleiben. Klio schläft nie, auch wenn man manchmal Stillstand oder Endgültigkeit zu spüren vermeint.
Insofern ist die öffentliche Debatte um die SED-Diktatur und die DDR-Gesellschaft notwendig, weil sie uns exemplarisch vorführt, was ohnehin geschieht. Etwas anderes aber ist die Frage, für wen wirft sich Klio eigentlich ins Zeug; oder: für wen sollte sie sich ins Zeug werfen? Diese Frage ist nicht ganz so einfach zu beantworten und doch zeigt sie nochmals den unterschiedlichen Ansatz von Wissenschaft und Aufarbeitung. Denn die Aufarbeitung hat das Jetzt und Hier viel stärker im Blick als die Wissenschaft. Aufarbeitung will bewegen, erinnern, dem Vergessen entreißen, rehabilitieren, Denkmäler errichten, Gedenkstätten unterhalten, sie will zeigen, wie Unterdrückung funktionierte, wer unterdrückte und wer sich wie warum wann und mit welchen Folgen dagegen zur Wehr zu setzen suchte. Sie ist ständig auf der Suche nach dem Besonderen, dem Ungewöhnlichen, dem Außergewöhnlichen, dem Erregenden und dem Wiedergutzumachenden, sie bleibt bewusst regional verankert und auf Einzelschicksale, kleinere Gruppen und dem dann übermächtig wirkenden Staat orientiert. In der Wissenschaft sind dies alles bestenfalls Nebenerscheinungen, zumeist durch Multiplikatoren erst bewirkt. Ihr Hauptanliegen ist die Rekonstruktion, die theoretische Einordnung, die Kontextualisierung, die Erklärung, das Verstehen, Einzelnes geht als Exemplarisches im Größeren auf. Mikrostudien, Biographien sind Bausteine für Synthesen. Das Besondere ist interessant, das Allgemeine aber erkenntnisleitend.
Insofern stellt der Streit um die SED-Diktatur, soweit es sich um Aufarbeitung und Wissenschaft, ihre Themen und Methoden handelt, ein ziemlich großes Missverständnis dar. Es ist eigentlich ziemlich egal, womit sich wie beschäftigt und wie darüber publiziert wird. Weniger egal freilich ist die Frage, wer was macht. Den regionalen Aufarbeitungsinitiativen etwa zentral vorschreiben zu wollen, was sie zu tun und zu lassen haben, wäre absurd. Finanzielle Zuwendungen mit inhaltlichen Vorgaben zu verknüpfen ist zwar unumgänglich, aber eben auch gefährlich für die Aufarbeitung selbst. Genauso wäre es auch grotesk, wenn etwa eine Forschungseinrichtung der Öffentlichen Hand, die einen ganz spezifischen, gesetzlichen und privilegierten Auftrag hat, diesem nicht nachkommen würde und ihr Profil und ihre Projekte so ausrichten würde, als wäre sie ein ganz normales Forschungsinstitut.
Mit anderen Worten: der Geld- und Auftragsgeber darf und soll bestimmen, wer sich womit auseinandersetzt. Es sollte aber tunlichst vermieden werden, dass andere als diese darüber zu befinden haben. So wie sich die DFG ihre Gutachter aus einem bestimmten Sample aussucht, so sollte auch die gesellschaftliche Aufarbeitungsszene nicht durch die Brille „fremder“ Gutachter betrachtet werden, weil deren Empfehlungen fast zwangsläufig vor einem Kriterienhintergrund entstehen, der das Eigene gut zu evaluieren, das Fremde aber einfach nicht zu erfassen vermag.
Die Debatte um die SED-Diktatur leidet nicht an „falschen“ Themen oder „falschen“ Methoden und Theorien, sie leidet aber sehr wohl daran, und dies nun schon seit über 15 Jahren, dass es offenbar bei vielen eine Sehnsucht nach „Wahrheit“ und dem „richtigen Weg“ gibt. Das äußert sich in Zentralisierungswünschen und im Ansinnen, Geschichtspolitik, Geschichtsbilder, Erinnerung und Gedenken zu verstaatlichen. Respekt und Toleranz vor der prinzipiellen und vielgliedrigen Pluralität und dem Neben- und Miteinander von Aufarbeitung und Wissenschaft erscheinen als der simple, aber zentrale Schlüssel, um die vielschichtigen Debatten um SED-Diktatur und Kommunismusgeschichte verzahnen zu können.
Dann wird auch die Aufregung ausbleiben, ob nun Alltagsgeschichte wichtiger sei als Widerstandsgeschichte, MfS-Geschichte wichtiger als Konsumverhalten, Subkultur wichtiger als Staatskunst, Repressionsgeschichte wichtiger als Anpassungsstrategien. Wahrscheinlich wird dann leichter erkennbar, dass alles seinen Sinn hat und alles eng miteinander zusammenhängt. Und wenn die Universitäten und bestimmte Forschungseinrichtungen spezifische Themen aus welchen Gründen auch immer favorisieren, dann wird auch vor einem solchen Hintergrund für Skeptiker und Kritiker leichter verständlich, warum anderswo andere Thema gefördert werden. Am Ende werden alle Teilergebnisse zu größeren Bildern zusammengefügt, nur um sich erneut dekonstruieren zu lassen. Man hüte sich nicht vor jenen, die an selbst entdeckten Themen arbeiten und dafür werben, selbst wenn es zuweilen penetrant sein mag, aber man hüte sich vor jenen, die einen Königsweg preisen und auch noch zu wissen glauben, was für Andere gut und für die Gesellschaft notwendig ist. Dahinter stehen ja nicht nur Denkverbote, sondern auch Sanktionsmöglichkeiten, meist über Projekt- und Stellenfinanzierung oder Rezensions- und Fußnotenkartelle.
Der Streit um die SED-Diktatur ist daher weniger ein Streit um Deutungen und Themen, sondern vielmehr ein Streit um Ressourcen. Wie in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen wird auch in diesem Streit etwas gesagt, aber was ganz anderes gemeint. Insofern ist die öffentliche Debatte um die Geschichte der DDR und den Umgang mit ihr ein Lehrbeispiel dafür, wie unsere Gesellschaft der Gegenwart funktioniert. Um die SED-Diktatur und die DDR-Gesellschaft zu verstehen, braucht man diese öffentliche Debatte jedenfalls nicht zu verstehen. Da kann man getrost auf jene Mittel zurückgreifen, die es ermöglichen, uns historischen Epochen und Prozessen mit all ihren Widersprüchlichkeiten anzunähern, die niemand mehr selbst erlebt hat. Und dafür haben gesellschaftliche Aufarbeitung und wissenschaftliche Debatten in den letzten Jahren so viel Material und Analysen bereitgestellt, dass man diesen Annäherungsprozess an die Vergangenheit auf gesichertem Terrain vollziehen kann. Die Geschichte des Kommunismus in Theorie und Praxis ist ungemein aufwühlend, tragisch, spannend und lehrreich. Es hat nicht den Anschein, als würde dies künftig anders werden. Dafür sorgen die heute und künftig an der Sache Arbeitenden, nicht die in Verteilungskämpfen Verschanzten.
1 Wehler, Hans-Ulrich: Einleitung, in: Ders. (Hrsg.): Geschichte und Soziologie. 2. Aufl., Königstein/Ts. 1984 (ursprünglich 1976), S. 15.
2 Vgl. Courtois, Stéphane u.a.: Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror. Mit einem Kapitel „Die Aufarbeitung des Sozialismus in der DDR“ von Joachim Gauck und Ehrhart Neubert. München, Zürich 1998; Courtois, Stéphane u.a.: Das Schwarzbuch des Kommunismus 2: Das schwere Erbe der Ideologie. München, Zürich 2004; als repräsentativer Reader ist anzusehnen: Möller, Horst (Hrsg.): Der rote Holocaust und die Deutschen. Die Debatte um das „Schwarzbuch des Kommunismus“. München, Zürich 1999; eher in den Bereich ideologischer Kampfschriften gehören: Mecklenburg, Jens; Wippermann, Wolfgang (Hrsg.): „Roter Holocaust“? Kritik des Schwarzbuch des Kommunismus. Hamburg 1998; Klotz, Johannes (Hrsg.): Schlimmer als die Nazis? Das „Schwarzbuch des Kommunismus“ und die neue Totalitarismusdebatte. Köln 1999; Roth, Karl Heinz: Geschichtsrevisionismus. Die Wiedergeburt der Totalitarismustheorie. Hamburg 1999.
3 Vgl. etwa: Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen. Bd. 2; Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung. München 2000; Kielmansegg, Peter Graf: Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland. Berlin 2000; Alter, Peter; Rohlfes, Joachim; Wolfrum, Edgar; Wolle, Stefan: Deutsche Geschichte. Wie wir wurden, was wir sind. 20. Jahrhundert: 1918 – 2000. Stuttgart, Düsseldorf, Leipzig 2002; Wolfrum, Edgar (Hrsg.): Die Deutschen im 20. Jahrhundert. Darmstadt 2004. Es gibt freilich eine Reihe von Beispielen, die dieses Pauschalurteil abmildern, als besonders gelungen auf europäischer Ebene erscheint mir das Buch des niederländischen Schriftstellers: Mak, Geert: In Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert. München 2005.
4 Dafür gibt es viele Beispiele, vgl. jüngst etwa: Burrichter, Clemens; Nakath, Detlef; Stephan, Gerd-Rüdiger (Hrsg.): Deutsche Zeitgeschichte von 1945 bis 2000. Gesellschaft – Staat – Politik. Ein Handbuch. Berlin 2006.
5 Heller, Agnes; Fehér, Ferenc: Ungarn ’56. Geschichte einer antistalinistischen Revolution. Hamburg 1982, S. 187.
6 Alföldy, Geza: Ungarn 1956.
Aufstand, Revolution, Freiheitskampf. Heidelberg 1997, S. 46.
7 Vgl. dazu: Ash, Timothy Garton: Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas. 1980 – 1990. München, Wien 1990; Dahrendorf, Ralf: Der Wiederbeginn der Geschichte. Vom Fall der Mauer zum Krieg im Irak. Reden und Aufsätze. München 2004.
8 Zum Samisdat vgl. nur: Hirt, Günter; Wonders, Sascha (Hrsg.): Präprintium. Moskauer Bücher aus dem Samizdat. Bremen 1998; Samizdat. Alternative Kultur in Zentral- und Osteuropa: Die 60er bis 80 Jahre. Bremen 2000; Skilling, H. Gordon: Samizdat and an Independent Society in Central and Eastern Europe. Columbus 1989.
9 Zur Bedeutung der historischen Debatten für den Umgestaltungsprozeß siehe etwa: Davies, Robert W.: Perestroika und Geschichte. Die Wende in der sowjetischen Historiographie. München 1991; sowie auch: Geyer, Dietrich: Die Umwertung der sowjetischen Geschichte. Göttingen 1991.
10 Als Beispiel für die Wahrnehmung innerhalb der Opposition siehe den Aufsatz von: Poppe, Gerd: „Wir sind dabei, uns selbst zu erkennen“. Die Zukunft der Vergangenheit der Sowjetunion (Juli 1989), in: Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hrsg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002, S. 527 – 542.
11 Die Textvariante ist auch als Buch in der Bundesrepublik erschienen. Die Samisdat-Publikation war hingegen gestalterisch aufwendig produziert worden, so dass im Prinzip jedes der etwa 500 Exemplar ein Unikat darstellt.
12 Protokoll einer Podiumsdiskussion, abgedruckt in: Burrichter, Clemens (Hrsg.): Sozialgeschichte der Wissenschaften. Zur Methodologie einer historischen Wissenschaftsforschung. Erlangen 1991, S. 68.
13 Mitter, Armin; Stefan Wolle: Aufruf zur Bildung einer Arbeitsgruppe unabhängiger Historiker in der DDR (10. Januar 1990), in: Eckert, Rainer; Kowalczuk, Ilko-Sascha; Stark, Isolde (Hrsg.): Hure oder Muse? Klio in der DDR. Dokumente und Materialien des Unabhängigen Historiker-Verbandes. Berlin 1994, S. 22.
14 Dazu vgl. ausführlich: Eisenfeld, Bernd; Kowalczuk, Ilko-Sascha; Neubert, Ehrhart: Die verdrängte Revolution. Der Platz des 17. Juni in der deutschen Geschichte. Bremen 2004.
15 Protokoll der 76. Sitzung der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, 5. Mai 1994, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Band IX: Formen und Ziele der Auseinandersetzungen mit den beiden Diktaturen in Deutschland. Baden-Baden, Frankfurt/M. 1995, S. 690.
16 Vgl. als Einstieg: Schulze, Winfried; Oexle, Otto Gerhard (Hrsg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Frankfurt/M. 1999. Die Debatte ist seither – zumindest innerfachlich – nicht mehr abgebrochen, vgl. etwa: Hürter, Johannes; Woller, Hans (Hrsg.): Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte. München 2005.
17 Vgl. dazu ausführlicher: Kowalczuk, Ilko-Sascha: Warum erst jetzt?“ Deutsche Historiker in der Diktatur – Anmerkungen zu einer aktuellen Debatte, 1. 12. 1999 (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/essays/koil1299.htm).