Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 176: Die fragmentierte Gesellschaft

Für ein bedin­gungs­loses Grund­ein­kommen

Die Krise der Arbeitsgesellschaft erfordert eine neue Politik der Inklusion,

aus: vorgänge Nr. 176 (Heft 4/2006), S. 60-67

Unsere Arbeitsgesellschaft befindet sich in einer paradoxen Situation. Während sich ihr Integrationsversprechen für immer weniger Menschen erfüllt, wird das Festhalten an der Integration durch Erwerbsarbeit politisch verzweifelt verteidigt. Wo millionenfach Arbeitsplätze fehlen werden Erwerbslose immer stärker unter Druck gesetzt, sich um Arbeit zu bemühen. Erwerbstätige werden zu immer größeren Konzessionen genötigt, um ihren Arbeitsplatz behalten zu können. Das klassische Normalarbeitsverhältnis – abhängige Vollzeitbeschäftigung für einen einzigen Arbeitgeber ohne zeitliche Befristung mit regelmäßigen Arbeitszeiten, umfassenden gesetzlichen Schutz- und Teilhaberechten sowie Tarifleistungen – besitzt zwar nach wie vor für die Mehrheit der Erwerbstätigen Gültigkeit. Es erodiert aber in rasantem Tempo und die Gruppe der Prekären wächst.
Mittlerweile arbeiten weit über 6 Millionen Menschen in Deutschland zu Niedriglöhnen, rund 10 Prozent aller Beschäftigten sind „working poor“ – arbeitende Arme. Gut 32 Prozent arbeiten Teilzeit, gut vier Prozent oder 6,5 Mio. in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Die Arbeitslosigkeit liegt noch immer bei knapp vier Million. 1,6 Millionen Menschen befinden sich in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen – sind also nach wie vor erwerbslos, werden aber in der Statistik nicht mitgezählt. Vom derzeitigen Sinken der offiziellen Arbeitslosenquote profitieren in erster Linie die kurzzeitig Erwerbslosen, an den Heerscharen der arbeitslosen Hartz IV-Bezieher geht der Aufschwung weitgehend vorüber. Ihre Zahl liegt weiterhin bei knapp 2,7 Mio. Zählt man ihre Familienangehörigen mit, sind es fast 7 Million Menschen, die in Deutschland von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende leben müssen. Die Zahl der Armen wächst rapide, Lohnspreizung und soziale Polarisierung nehmen zu. Da der deutsche Sozialstaat immer noch stark auf das männlich geprägte Normalarbeitsverhältnis ausgerichtet ist, verliert er gegenüber den Gruppen, die dieser Normalitätsannahme nicht mehr entsprechen, zunehmend seine Schutzfunktion.
Arbeitslosigkeit und Prekarisierung führen zu Verunsicherung bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein. Für die Betroffenen bedeuten sie häufig Armut und Ausgrenzung von gesellschaftlicher Teilhabe und Anerkennung. Die Politik der letzten Jahre hat auf diese Krise vor allem mit Leistungskürzungen, der Deregulierung des Arbeitsmarktes und dem in den Hartz-Gesetzen formulierten Programm zur Aktivierung Erwerbsloser  reagiert. Diese Maßnahmen haben vor allem mehr Druck auf Arbeitslose entfaltet, sozialstaatliche und arbeitsrechtliche Standards unterhöhlt und die soziale Verunsicherung verstärkt, die Krise der deutschen Arbeitsgesellschaft haben sie nicht gelöst. Innerhalb des Arbeitsmarktes und außerhalb leiden die Menschen millionenfach an dieser Krise. Wo die einen immer mehr Kontrollen, Schikanen und Sanktionen ausgesetzt sind und von staatlichen Leistungen leben müssen, die nicht geeignet sind, ein Leben in Würde und gesellschaftliche Teilhabe zu gewährleisten, steigt der Druck auf die, die noch Arbeit haben, immer mehr an. Sie werden erpressbar und zu immer größeren Konzessionen hinsichtlich der Entlohnung und der Bedingungen, zu denen sie arbeiten, genötigt. Diese Entwicklungen gefährden den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft und die Demokratie.

Das Grund­ein­kommen als Ausweg aus der Krise der Arbeits­ge­sell­schaft

Wäre es angesichts dieser Situation nicht vernünftiger, der Staat zahlte allen Bürgerinnen und Bürgern ein bedingungsloses Grundeinkommen? Es würde die Menschen vom existenziellen Druck befreien, ihre Arbeitskraft am Markt verkaufen zu müssen, und gewährte ihnen eine Existenzgrundlage, auf deren Basis sie selbst bestimmt tätig werden können. Ja, sagen die Befürworter dieser Idee, die aus so unterschiedlichen Spektren wie der Wissenschaft, der Erwerbslosen- und Armenbewegung, kirchlichen Verbänden sowie aus verschiedenen Parteien stammen und im Juli 2004 das deutsche Netzwerk Grundeinkommen (www.grundeinkommen.de) gegründet haben, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens(1) in Gesellschaft und Politik zu befördern. Sie wollen, dass jedem Mitglied der Gesellschaft ein Existenz sicherndes Grundeinkommen als individueller Rechtsanspruch, ohne Bedürftigkeitsprüfung und Zwang zur Arbeit gezahlt wird. Ein solches Grundeinkommen würde sich von den gegenwärtigen Sozialsystemen dadurch unterscheiden, dass es nicht wie bei den Sozialversicherungen an vorherige Beitragszahlungen geknüpft und nicht wie die existierenden Grundsicherungssysteme an die Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt gebunden ist.
Jenseits dieser geteilten Definition werden in der Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen eine ganze Reihe unterschiedlicher Modelle und Ausgestaltungsformen vertreten, die sich hinsichtlich der Höhe, der Finanzierungsform und der Stellung zu den anderen Sozialsystemen teilweise deutlich voneinander unterscheiden. Wollen die einen etwa ein armutsfestes und Teilhabe sicherndes Grundeinkommen – im Gespräch sind hier 950 Euro (Bundesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen in und bei der Linkspartei), 800 Euro plus 260 Euro durchschnittliche Wohnkosten (Bundesarbeitsgemeinschaft der Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen) oder auch mal 1.200 bis 1.500 Euro (Götz Werner, Chef der Drogeriekette dm) –, geben sich andere mit einem Satz in der Höhe der heutigen Hartz IV-Leistungen zufrieden oder gehen sogar darunter, wie z.B. der thüringische Ministerpräsident Dieter Althaus, bei dessen Bürgergeldmodell von 800 Euro noch 200 Euro Kopfpauschale zur Krankenversicherung zu leisten sind. Will Götz Werner das Grundeinkommen allein über eine 50-prozentige Mehrwertsteuer finanzieren und alle anderen Abgaben abschaffen, wollen andere die Ressourcenbasis für ein bedingungsloses Grundeinkommen durch eine zusätzliche hälftige Abgabe auf alle Einkommen oder durch einen Mix von Besteuerungsformen, der vor allem hohe Einkommen und Unternehmensgewinne belastet, schaffen. Wo die einen die anderen sozialen Sicherungssysteme durch das Grundeinkommen ersetzen wollen, begreifen die anderen das Grundeinkommen als Ergänzung und Unterbau der Sozialversicherungen.
Grundsätzlich lassen sich zwei Varianten des bedingungslosen Grundeinkommens unterscheiden: die Sozialdividende, bei der jedem Mitglied der Gesellschaft unabhängig von seinem bzw. ihrem Einkommen und Vermögen ein Grundeinkommen gezahlt wird – also auch den Reichen, die aber bei der Besteuerung entsprechend zur Finanzierung herangezogen werden.
Der Charme dieses Modells besteht darin, dass eine Einkommensprüfung bei der Auszahlung des Grundeinkommens entfällt, jedem Mitglied der Gesellschaft das Grundeinkommen als universelles soziales Menschenrecht zukommt und eine offensichtliche Spaltung in Zahler und Empfänger vermieden wird. Bei der negativen Einkommenssteuer erhalten dagegen nur diejenigen ein Grundeinkommen, deren Einkommen unterhalb einer bestimmten Grenze bleibt. Geringfügige Einkommen werden bis zu dieser Schwelle durch eine steuerliche Gutschrift aufgestockt. Da das Grundeinkommen nicht an alle ausgezahlt wird, fällt in diesem Modell das zu bewegende Finanzierungsvolumen deutlich geringer aus als bei der Sozialdividende. Wie die Sozialdividende wird das bedingungslose Grundeinkommen nach der negativen Einkommenssteuer aber individuell, also nicht an Familien oder Bedarfsgemeinschaften, gezahlt und ist – im Gegensatz zu anderen negativen Einkommenssteuermodellen wie etwa dem Bürgergeld der FDP – nicht an Arbeitsbereitschaft geknüpft.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen – ob in Form der Sozialdividende oder der negativen Einkommenssteuer – würde, so die Überzeugung der Befürworter, Armut verhindern, gesellschaftliche Teilhabe sicherstellen und familiale Abhängigkeiten vermindern. Es würde die Abhängigkeit von Erwerbsarbeit verringern – ein Umstand der in der sozialpolitischen Fachsprache als „De-Kommodifizierung“ bezeichnet wird – und den Zwang zur Unterwerfung unter staatlich verordnete Ersatzmaßnahmen außer Kraft setzen.
Entgegen dem herrschenden Reformtrend würde die „Reservearmee“ nicht in eine immer härtere Konkurrenz um immer unattraktivere Jobs getrieben. Stattdessen hätten die Menschen die Möglichkeit, Arbeit auch abzulehnen und sich in verschiedenen Bereichen jenseits der Erwerbsarbeit – in Familienarbeit, gemeinnütziger Arbeit, Ausbildungs- und Mußezeiten – zu betätigen (oder auch nicht), ohne um ihre Existenz fürchten zu müssen. Damit würden neue Möglichkeiten der Betätigung, der Integration und Anerkennung geschaffen, die geeignet wären, den gegenwärtigen Gefährdungs- und Fragmentierungstendenzen, die aus der Krise der Arbeitsgesellschaft erwachsen, solidarische und zukunftsweisende Alternativen entgegen zu setzen.

Vollbe­schäf­ti­gung als Illusion

Nicht allen scheint diese Perspektive jedoch einleuchtend. So lehnen neoliberale wie gewerkschaftlich und sozialdemokratisch orientierte Akteure das bedingungslose Grundeinkommen in seltener Einigkeit ab, weil sie glauben, den beschriebenen gesellschaftlichen Fragmentierungstendenzen durch die Wiederherstellung von Vollbeschäftigung begegnen zu können und den programmatischen Abschied von der alleinigen Integration durch Erwerbsarbeit für falsch halten. Das Ziel gesellschaftlicher Integration über Vollbeschäftigung wollen sie auf sehr unterschiedlichen Wegen erreichen.
Die Neoliberalen wollen eine höhere Nachfrage vor allem nach gering qualifizierter Arbeit schaffen, indem sie den Preis der Ware Arbeitskraft reduzieren, sozialstaatliche Dekommodifizierungspotenziale zurücknehmen und Unternehmen finanziell entlasten. Die Ausweitung von Prekarität und „Armut trotz Arbeit“ nehmen sie dabei billigend in Kauf und preisen Niedriglohnjobs als Einstiegschance für diejenigen, die derzeit draußen stehen. Sozialdemokratische und gewerkschaftliche Akteure glauben dagegen, dass Vollbeschäftigung auf Basis einer nachfrageorientierten Lohn- und Beschäftigungspolitik und eines starken öffentlichen Sektors unter Aufrechterhaltung sozial- und arbeitsrechtlicher Standards möglich ist. Sie sagen: „Vollbeschäftigung ist machbar, Herr Nachbar“ und blicken dabei nach Schweden oder Dänemark, die als exemplarische Vorbilder der Synthese eines starken Wohlfahrtsstaats mit einer erfolgreichen Beschäftigungspolitik gelten.
Sie folgen damit der auch in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung verbreiteten Einschätzung, dass es den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten auf eindrucksvolle Weise gelungen ist, wirtschaftliche Effizienz und gesellschaftliche Wohlfahrt miteinander zu verbinden (Esping-Andersen 1999). An dieser Diagnose ist zwar manches richtig. In der Tat weisen die skandinavischen Länder (heute wieder) eine vergleichsweise geringe Arbeitslosenquote von 4 bis 5 Prozent und hohe Beschäftigungsraten auf. Das Niveau der sozialen Sicherung ist im internationalen Vergleich immer noch hoch, auch wenn es hier in den letzten Jahren ebenfalls zu Kürzungen und Einschränkungen gekommen ist. Die Armutsquoten sind gering. Erzielt werden diese Ergebnisse zum einen durch eine international hochgradig wettbewerbsfähige Industrie, zum anderen verfügen die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten aber über einen stark ausgebauten öffentlichen Sektor, der vor allem Frauen Arbeitsplätze bietet und so für hohe weibliche Beschäftigungsquoten sorgt, was wiederum die Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen erhöht. Der beschäftigungspolitische Erfolg ist also zu einem nicht unwesentlichen Teil einer starken staatlich geleiteten Nachfragepolitik mit sich selbst verstärkenden Effekten geschuldet.
Allerdings muss diese skandinavische Erfolgsstory kritisch hinterfragt werden. Denn die offiziellen Arbeitslosenzahlen zeigen nur die halbe Wahrheit. In Skandinavien – wie auch in anderen beschäftigungspolitisch vermeintlich erfolgreichen Ländern wie den Niederlanden oder Großbritannien – befindet sich eine große Zahl von Menschen, die nicht in der Arbeitslosenstatistik auftauchen, nicht im ersten Arbeitsmarkt, sondern in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, in Frühverrentung, im Krankengeldbezug oder in Systemen für Erwerbsunfähige. So ist zwar in Dänemark die Arbeitslosigkeit um einiges niedriger als in Deutschland, insgesamt befinden sich aber deutlich mehr Menschen im Erwerbsalter im Leistungsbezug verschiedener staatlicher Sicherungssysteme (Knuth/Schweer/Siemes 2004: 91). Gleiches gilt für Schweden, wo fast vier Prozent mehr Menschen im erwerbsfähigen Alter von sozialstaatlicher Unterstützung leben als in Deutschland (OECD 2003). Das skandinavische ‚Beschäftigungswunder‘ beruht also zu einem nicht unerheblichen Teil auf der Verschiebung von Arbeitslosen in andere Sicherungssysteme, die Wiederherstellung von Vollbeschäftigung ist auch nach skandinavischem Rezept nicht gelungen. Das skandinavische Modell eignet sich daher nur bedingt als ‚role model’ für die Überwindung der deutschen Arbeitsmarktkrise und als Kronzeuge gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Bedin­gungs­loses Grund­ein­kommen als Mittel gegen                       soziale Ausgrenzung

Ein zweiter Einwand der den Befürwortern eines bedingungslosen Grundeinkommens von seinen Gegnern immer wieder entgegen gehalten wird, ist die Behauptung, ein Grundeinkommen könne Probleme der Armut und sozialen Ausgrenzung nicht lösen, da es allein am Individuum ansetze und den Kampf gegen soziale Benachteiligung auf monetäre Transfers verkürze. Materielle Armut sei gar nicht das Problem der heutigen Unterschicht, sondern „Armut im Geiste“, „mangelnde Lebenschancen und Lebensanleitung“ (Miebach 2005) oder wie der Vorsitzende der SPD, Kurt Beck, kürzlich meinte, „mangelnder Aufstiegswille“. Daher könne es nicht darum gehen, mehr Geld zu verteilen, es müssten vielmehr Teilhabechancen verbessert werden – so das Mantra der neuen Sozialdemokratie(2). Außerdem seien die sozial Benachteiligten gar nicht in der Lage, die Autonomie produktiv zu nutzen, die ein bedingungsloses Grundeinkommen biete.
An dieser Argumentation, die sowohl in der neu-sozialdemokratischen Aktivierungs- und Unterschichtendiskussion als auch in der Grundeinkommensdebatte eine prominente Rolle spielt, ist mehrerlei problematisch. Erstens beruht sie auf einem dichotomischen Verständnis sozialer Ausgrenzung, bei dem der stabilen Kerngesellschaft ein problematischer ‚Rand’ gegenüber gestellt wird, der als ganz anders und negativ porträtiert wird. Damit werden Verursachungszusammenhänge von Armut und Ausgrenzung, die im Zentrum der Gesellschaft angesiedelt sind, ausgeblendet und die Suchscheinwerfer nach den Schuldigen auf diejenigen an der Peripherie gerichtet. Nicht in den strukturellen Bedingungen werden die Ursachen sozialer Ausgrenzung gesucht, sondern im Verhalten und den vermeintlich abweichenden Werten der Armen.
Zweitens blendet ein solch dichotomischer Begriff sozialer Ausgrenzung Zonen des Übergangs und der Gefährdung (Castel 2000), ebenso wie soziale Ungleichheiten innerhalb der Zone der Inklusion, systematisch aus. Das ‚Drinnen’ wird als unproblematisch betrachtet, Formen des ‚Drinnen und doch Draußen’ – wie „Armut trotz Arbeit“ – geraten aus dem Blick. In der Re-Integration der ‚Ausgegrenzten’ in den ersten Arbeitsmarkt wird der Königsweg zur Integration gesehen. Arbeit für alle – egal zu welchem Preis – wird damit zur gebotenen Politik im Namen der Inklusion. Dass Lohnarbeit immer auch Ausbeutung bedeutet, mehr oder weniger entfremdet und in vielen Fällen noch nicht einmal existenzsichernd ist, spielt aus einer solchen Perspektive kaum mehr eine Rolle. Schließlich werden aus einem solchen Verständnis sozialer Ausgrenzung heraus soziale Schutzrechte gegen andere Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenschancen benachteiligter Bevölkerungsgruppen ausgespielt.
Außerdem verkennt diese Argumentation, dass ein Grundeinkommen zentrale Ursachen sozialer Ausgrenzung tatsächlich überwinden kann. Ein Grundeinkommen – oder auch nur eine bedarfsorientierte soziale Grundsicherung –, die im Gegensatz zu den heute bestehenden letzten Netzen sozialer Sicherung Armut tatsächlich verhindert, würde Teilhabemöglichkeiten in vielen gesellschaftlichen Bereichen verbessern. Zwar gibt es in der ‚Grundeinkommensszene’ keinen Konsens über die Höhe eines Grundeinkommens, in der Regel wird aber ein Satz gefordert, der deutlich über dem heutigen Sozialhilfeniveau liegt.
Für diejenigen, die mit wenig leben müssen, machen aber auch schon 100 oder 200 Euro einen signifikanten Unterschied und ermöglichen ein deutliches Mehr an sozialer und kultureller Teilhabe. Als Beispiele seien hier nur das Zeitungsabonnement, der Sportverein, der Kinobesuch, Klassenfahrten und Kindergeburtstage genannt, die unter den Bedingungen von ‚Hartz IV’ zu unerfüllbaren Wünschen werden. Aber nicht nur aktuell, auch auf längere Sicht verbessert ein Grundeinkommen gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten, indem es eine verlässliche Lebensgrundlage bietet und so auch den Benachteiligten ermöglicht, Lebenspläne zu verfolgen, die individuelle Entwicklung befördern und Lebenschancen verbessern.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen, das universell, unabhängig von Bedürftigkeitsprüfungen und Arbeitspflichten gewährt wird, bricht außerdem mit den ausgrenzenden bzw. ausgrenzungsverschärfenden Logiken gegenwärtiger Sozialpolitik (vgl. hierzu Mohr 2007). Der gegenwärtige Wohlfahrtsstaat sortiert seine Klienten fein säuberlich nach Anspruchsbedingungen, betreibt Leistungssysteme erster Klasse (die Sozialversicherungen), in denen sich die Anspruchsberechtigten ihre Leistung durch Beiträge verdient haben, und residuale, bedürftigkeitsgeprüfte Systeme zweiter Klasse für den Rest. Diese sind mit einem Stigma verbunden, das die soziale Ausgrenzung der Hilfebedürftigen noch verschärft und dazu führt, dass Menschen ihr Recht auf staatliche Unterstützung teilweise gar nicht erst in Anspruch nehmen.
Da bedürftigkeitsgeprüfte staatliche Leistungen bei Arbeitsfähigkeit immer unter dem Vorbehalt der Arbeitsbereitschaft stehen und mit Pflichten verbunden sind, die der Staat im Zweifelsfall mithilfe der Drohung des Entzugs der Existenzmittel durchsetzen kann, sind Hilfebedürftige schließlich immer auch Objekte staatlicher Kontrolle und Disziplinierung mit allen negativen Konsequenzen wie Ausgeliefertsein gegenüber den Behörden, Ohnmachtsgefühlen, negativen Auswirkungen auf Motivation und Kreativität, etc. Ein universell gezahltes, bedingungsloses Grundeinkommen eröffnet dagegen allen Menschen ein Recht auf soziale Teilhabe unabhängig von Aufenthaltstitel, sozialrechtlichen Anspruchsbedingungen und Arbeitspflichten. Es räumt mit dem Stigma des Leistungsbezugs auf und ermöglicht Selbstbestimmung und freie Entfaltung.

Das Grund­ein­kommen ist ein wichtiger Schritt, aber kein Allheil­mittel

Das bedingungslose Grundeinkommen ist damit geeignet zentrale Ausgrenzungsfaktoren – materielle Armut, Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe und sozialstaatliche Ausgrenzung und Stigmatisierung – zu überwinden. Ist es auch dazu geschaffen, Arbeitslosigkeit als eine zentrale Ursache sozialer Ausgrenzung zu eliminieren oder dient es, wie manche Gegner befürchten, nur der Entsorgung der Überflüssigen (Schlecht 2006)?
Der Verlust von Erwerbsarbeit – und dies wird auch unter Befürwortern des bedingungslosen Grundeinkommens niemand bestreiten – bedeutet unter den herrschenden Bedingungen für die übergroße Mehrheit der Betroffenen nicht nur den Verlust der Einkommensquelle, sondern auch von gesellschaftlicher Integration und sozialer Anerkennung. In einer Gesellschaft, die nicht nur Güter, sondern auch soziale Wertschätzung nach wie vor im Wesentlichen über den Allokationsmechanismus Arbeitsmarkt verteilt, ist es ungemein schwer, „glücklich arbeitslos“ (Paoli 2002) zu sein.
Allerdings würde Erwerbsarbeit an symbolischer Bedeutung verlieren, wenn das Einkommen auch unabhängig von ihr gesichert wäre. Um mehr als eine Stillhalteprämie für die Opfer der Arbeitsmarktkrise sein und seine integrativen Wirkungen entfalten zu können, müsste das Grundeinkommen aber zudem von einer Neuordnung der gesellschaftlichen Anerkennungsordnung von Arbeit begleitet sein. Andere Formen der Tätigkeit, jenseits der Erwerbsarbeit, müssten mehr materielle und symbolische Wertschätzung erfahren und Hierarchien zwischen Erwerbsarbeit und anderen Tätigkeiten abgebaut werden. Außerdem müsste die Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Sphären gesellschaftlich notwendiger Arbeit gewährleistet sein, damit die Spaltung der Gesellschaft in ‚Arbeitsmarktinsider’ und ‚Arbeitsmarktoutsider’ mit einem Grundeinkommen nicht perpetuiert wird. Dazu müssten Menschen ohne Verlust künftiger Chancen auf einen Widereinstieg in den Arbeitsmarkt, zwischen verschiedenen Sphären gesellschaftlicher Tätigkeit wechseln können. Gesellschaftlich müsste sich ein neuer Arbeitsbegriff durchsetzen, der alle gesellschaftlich notwendige und nützliche Arbeit als solche anerkennt.
Damit das Grundeinkommen seine integrativen Wirkungen entfalten kann, bedarf es zudem der Einbettung der individuell garantierten Existenzsicherung in eine soziale Infrastruktur und der Begleitung durch eine Bildungspolitik, die die Menschen befähigt, mit den neuen Autonomiepotenzialen umzugehen. Das Bildungssystem – so der Soziologe Wolfgang Engler – müsste sich „von seiner monokausalen Abhängigkeit vom Erwerbsleben als einzig legitimer Existenzform des Menschen lös[en]“ und den Menschen beibringen, „[d]em eigenen Leben Sinn und Bewandtnis zu vermitteln, wenn der Absprung ins Berufsleben oder in weiterführende Ausbildungsprozesse mißlingt“ (Engler 2005: 150).
Damit Tätigsein jenseits der Erwerbsarbeit nicht zur einsamen, allein in die eigene Hand zu nehmenden Angelegenheit wird, bedarf es schließlich sozialer Räume und einer Infrastruktur sowie der Organisation kollektiver Projekte und Aktivitäten (Gorz 2000). Kontaktbörsen, Agenturen für gemeinnützige Arbeit, Häuser der Eigenarbeit und Begegnung sowie die professionelle Betreuung von Projekten wären die Voraussetzung dafür, dass das Grundeinkommen auch seine kollektivistisch-integrativen Potenziale entfalten kann.
Und wer macht dann bitteschön noch die „Drecksarbeit“ und wie soll das Ganze finanziert werden? Hierzu sei gesagt: Unabhängig vom Modell bietet das Grundeinkommen nur eine bescheidene Basisabsicherung. Den meisten Menschen wird diese nicht ausreichen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Erwerbsarbeit als Einkommensquelle wird damit weiterhin attraktiv bleiben, insbesondere da das Erwerbseinkommen nicht auf das Grundeinkommen angerechnet wird. Unattraktive Tätigkeiten müssten aber     eventuell deutlich besser bezahlt werden als heute, damit sich jemand findet, der sie verrichtet. Denn das Grundeinkommen gibt auch die Freiheit, nein zu sagen.
Und die Finanzierung? Hier liegt in der Tat ein Knackpunkt der Grundeinkommensdiskussion. Denn würde jedem Einwohner und jeder Einwohnerin Deutschlands unabhängig vom Einkommen ein Grundeinkommen in Höhe von 800 bis 1.000 Euro gezahlt, beliefen sich die Kosten auf 650 bis 850 Mrd. Euro. Will man zur Gegenfinanzierung nicht den kompletten Rest-Sozialstaat abreißen und auch noch Geld für eine soziale Infrastrukturpolitik übrig behalten, stellt sich in der Tat die Frage, woher die riesigen Summen, die für ein bedingungsloses Grundeinkommen nach dem Modell der Sozialdividende gebraucht werden, kommen sollen.
Zwar liegen verschiedene in sich schlüssige Finanzierungskonzepte – etwa von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen, der Ulmer Arbeitsgruppe für ein Bürgergeld und der Bundesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen in und bei der Linkspartei – vor. Sie alle leiden jedoch daran, dass sie mit hohen zusätzlichen steuerlichen Belastungen einhergehen und damit kaum gesellschaftlich durchsetzungsfähig sein dürften. Angesichts dieser Problematik und eines wahrscheinlichen Trade-offs zwischen der Höhe des Grundeinkommens und der Größe des Berechtigtenkreises, wäre es daher aus meiner Sicht angezeigt, als Einstieg in eine Gesellschaft mit Grundeinkommen, zunächst einmal für eine bedingungslose Basisabsicherung für diejenigen zu streiten, die sie wirklich nötig haben, statt auch den Ackermännern dieser Republik ein Grundeinkommen zu zahlen.
Denn auch ein einkommensgeprüftes Grundeinkommen kann eine ganze Reihe sozialer Probleme lösen und gesellschaftlichen Fragmentierungs- und Ausgrenzungstendenzen entgegen wirken – ganz abgesehen davon, dass auch beim Modell der Sozialdividende schnell klar sein dürfte, wer „Nettozahler“ und „Nettoempfänger“ ist.

1   Zur Einführung in Theorie und Konzeption des bedingungslosen Grundeinkommens vgl. Opielka/Vobruba 1986 sowie Vanderborght/Van Parijs 2005. Zu Mindestsicherungsmodellen siehe Blaschke 2006.
2   Zur Kritik am verkürzten Ausgrenzungsbegriff der neuen Sozialdemokratie vgl. Mohr/Riedmann 2005

Literatur  

Blaschke, Ronald (2006): Garantierte Mindesteinkommen. Modelle von Grundsicherungen und Grundeinkommen im Vergleich, Meißen/Dresden, hrsg. vom DGB Bezirksverband Sachsen und der      Evangelischen Akademie Meißen
Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz: UVK
Engler, Wolfgang (2005): Bürger, ohne Arbeit. Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft, Berlin: Aufbau-Verlag
Esping-Andersen, Gøsta (1999): Social Foundations of Postindustrial Economies, Oxford: Oxford University Press
Gorz, André (2000): Arbeit zwischen Misere und Utopie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp
Knuth, Matthias /Schweer, Oliver /Siemes, Sabine (2004): Drei Menüs – und kein Rezept? Dienstleistungen am Arbeitsmarkt in Großbritannien, in den Niederlanden und in Dänemark, Gelsenkirchen: Institut für Arbeit und Technik/Wissenschaftszentrum Nordrheinwestfalen
Miebach, Michael (2005): Die armen Reichen. Das Konzept der relativen Armut hat sich überholt. Deutschland hat das noch nicht begriffen, Ausgerechnet Großbritannien zeigt, wie gut neue Ideen weiterhelfen können, in: die tageszeitung vom 11. März 2005, S. 11
Mohr, Katrin (2007): Soziale Exklusion im Wohlfahrtsstaat. Arbeitslosensicherung und Sozialhilfe in Großbritannien und Deutschland, Wiesbaden: VS – Verlag für Sozialwissenschaften (i.E.)
Mohr, Katrin/Riedmann, Erwin (2005): Armut der Sozialdemokratie. Wer kein Geld hat, hat in der Gesellschaft kaum Chancen. Der Ausgrenzungsbegriff von New Labour ist verkürzt und spielt Armut gegen andere Formen der Benachteiligung aus, in: die tageszeitung vom 22. März 2005, S. 12
OECD (2003): Employment Outlook 2003, Paris: OECD
Opielka, Michael/Vobruba, Georg (1986): Das garantierte Grundeinkommen. Entwicklung und Perspektiven einer Forderung, Frankfurt a.M.: Fischer Verlag
Paoli, Guilluame (Hrsg.) (2002): Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche. Aufrufe, Manifeste und Faulheitspapiere der Glücklichen Arbeitslosen, Berlin: Edition Tiamat
Schlecht, Michael (2006): Die Überflüssigen entsorgt, in: die tageszeitung vom 2.11.2006
Vanderborght, Yannick/Van Parijs, Philippe( 2005): Ein Grundeinkommen für alle? Geschichte und Zukunft eines radikalen Vorschlags, Frankfurt a.M./New York: Campus

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