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Editorial

aus vorgänge Nr. 176 (Heft4/2006): Die fragmentierte Gesellschaft, S. 1-4

Das Fortschrittsgefühl der postmodernen Gesellschaft hat der Philosoph Peter Sloterdijk einmal als die Empfindung von Passanten auf einer Rolltreppe beschrieben, auf der man automatisch vorankommt. Es ist ein Fortschritt im Stillstand, der jedem seinen Aufstieg garantiert und bei dem jedes individuelle Vorwärts drängeln, das darüber hinausgeht, als eine Störung der gesellschaftlichen Choreografie angesehen werden muss.

Die Rolltreppe ist schon vor einiger Zeit ins Stocken geraten. Der Schaden wird als irreparabel angesehen. Das gemeinsame Gleiten ist einem drängelnden Stolpern gewichen. Die hohen Stufen, die zuvor noch dem Fortschritt seine soziale Ordnung gaben, erweisen sich nun als hinderliche Barrieren, an deren Überwindung der Einzelne seine Stärke erweist. Bei vielen hat sich das Gefühl breit gemacht, dass ohne Rolltreppe das Vorwärtskommen einfacher wäre. Aber einige sind auf ihrer Stufe einfach stehen geblieben und nicht wenige im allgemeinen Gedrängel zurückgefallen. Dort harren sie nun darauf, dass es noch einmal vorwärts geht und hadern mit sich und der Mechanik. Doch sie sind abgehängt, weil es den Fortschritt für alle nicht mehr gibt.

Als die Friedrich-Ebert-Stiftung vor wenigen Wochen eine Studie über die sozialdemokratischen Wählermilieus verbreitete und jeden zwölften Deutschen zum „abgehängten Prekariat“ zählte, da staunte die Öffentlichkeit, wie groß das Unten der Gesellschaft mittlerweile geworden ist. Und fing sogleich an, darüber zu streiten, ob dieses
Unten auch Unterschicht genannt werden dürfe. Ganz so, als bürge ein anderer Name bereits für eine bessere Lage.

Nun ist das Unterschichten-Problem nicht neu. Wer die Daten des Statistischen Bundesamtes aufmerksam studiert, konnte es Jahr für Jahr wachsen sehen. Und es ist nicht mehr allein ein Problem der unteren Schichten. Die Angst vor sozialen Abstieg ist längst in die höheren Etagen der Gesellschaft gekrochen. Die Furcht, nicht mehr mithalten zu können, den Anschluss zu verlieren und am Ende zu den Ausgeschlossenen zu gehören, grassiert auch dort. Neben „Oben“ und „Unten“ sind „Drinnen“ und „Draußen“ zu entscheidenden Koordinaten der Selbstverortung in der Gesellschaft geworden. Doch diese neuen Koordinaten beschreiben keine gemeinsame soziale Lage, sie bergen keine kollektiven Handlungsoptionen. Solidarität ist zu einer knappen Ressource geworden, die sich vornehmlich im Nahbereich entfaltet. Die Gesellschaft als Ganzes zerfällt in Teilgesellschaften, sie ist fragmentiert, es exitiert kein einheitlicher Begriff von ihr.

Die Vorgänge werfen in dieser Ausgabe einen Blick auf die Fragmente, auf ihre jeweilige Eigenheit, aber auch auf das nach wie vor Verbindende zwischen ihnen. Frank Nullmeier und Frauke Hamann haben den Versuch unternommen, die grundlegenden
Entwicklungen auf einen Begriff des Ganzen zu bringen. Es sind genau genommen zwei Begriffe geworden: eine in Teilgesellschaften fragmentierte Konkurrenzgesellschaft, die jeweils und als Ganzes nach den Prinzipien des Wettbewerbs funktionieren und die ihr
entsprechende Herrschaftsform, die Postdemokratie, welche zwar noch den formalen Kriterien parlamentarischer Demokratie gehorcht, in ihrem Wesen aber auf den akklamatorischen Nachvollzug von Reformnotwendigkeiten geschrumpft ist. Eine solche Gesellschaft
bietet nur noch einen geringen Resonanzboden für die überkommenen, den Zusammenhalt stiftenden Vorstellungen von Gerechtigkeit. Was an deren Stelle die gesellschaftliche Kohäsion gewährleisten kann, ist einstweilen noch offen.

Diese pessimistische Aussicht wird bekräftigt durch die Ergebnisse einer Untersuchung, die Klaus Dörre der Dimension und den subjektiven Verarbeitungsformen des Prekariats widmet. Das Prekariat wirkt weit über den Kreis der unmittelbar Betroffenen
hinaus. Die Herausbildung einer Zone unsicherer Beschäftigungsverhältnisse forciert die Umstellung auf einen neuen gesellschaftlichen Integrations- und Herrschaftsmodus. An die Stelle einer Einbindung durch Teilhabe treten disziplinierende, marktförmige Integrationsformen. Diese generieren offenkundig einen Zwang zum Selbstzwang, der tendenziell auf die gesamte Persönlichkeit ausstrahlt. In unterschiedlicher Weise bringt dieser Modus der Selbstzuschreibung in allen Zonen der Arbeitsgesellschaft Formen der Überanpassung hervor, die – wenn auch nicht zwangsläufig – in rechtspopulistische Orientierungen einmünden können.

Kein anderer Begriff hat in der Politik wie in der Soziologie in den letzten Jahren einen solchen Aufschwung erlebt, wie derjenige der Exklusion. Sina Farzin sieht diese Erfolgsgeschichte kritisch, denn die Popularisierung ging und geht auf Kosten der wissenschaftlichen
Aussagekraft. Ein Jenseits der Gesellschaft, wie es manche Verwendung des Begriffs nahe legt, gibt es nicht. Die Angst, durch die Maschen zu fallen und nirgends dazu zu gehören, beschreibt
Sigrun Anselm als das treibende Motiv einer Gesellschaft, in der „Erfolg und Überlegenheit“ sakrosankte Werte darstellen. In ihr wird Unterlegenheit zu einem Mangel schlechthin, denn wird das Erfolg haben selbst zum alleinigen Motiv, dann trifft einen die Scham des Unterlegenen doppelt, dann nämlich quält nicht nur der Misserfolg hinsichtlich des angestrebten Ziels, sondern genauso die Tatsache, dass einen der Misserfolg quält. In dieser Scham wird offenbar, dass gerade diejenigen, die man überflügeln wollte, nun den Maßstab der eigenen Niederlage abgeben. Die Bedrohung durch Beschämung ist insofern allgegenwärtig, als jeder ehrgeizige Konkurrent einen ohne eigenes Zutun zum Verlierer machen kann. Die Grenzen werden immer wieder neu gezogen, das ist das Schicksal des flexiblen Menschen.

Dass nichtsdestotrotz von einer gewissen Stabilität der sozialen Milieus und einer Kontinuität der sie prägenden Einstellungen auszugehen ist, verdeutlicht der Beitrag von Heiko Geiling, der sich seit Jahren forschend mit diesen Milieus befasst. So lassen sich auch heute noch sechs relativ konstante gesellschaftspolitische Lager beschreiben und bestimmten Milieus zuordnen. Diese Stabilität von Lage und Einstellung ist für Geiling auch der Grund, weshalb alle an die unteren Schichten gerichteten Appelle für mehr Flexibilität und Mobilität nicht fruchten können. In einer Lebenswelt, die nach wie vor von traditionellen Pflicht- und Akzeptanzwerten geprägt, deren Status zugleich aber massiv bedroht ist, erscheinen solche Parolen als unzulässige Verhaltenszumutungen und markieren eher die eklatanten Milieudifferenzen zwischen jenen Parteivorsitzenden
und Feuilletonisten, welche diese Flexibilität predigen und denen, die ihnen nicht folgen wollen.

Die da Flexibilität predigen, leben selbst in stabilen Verhältnissen. Michael Hartmann macht bei den deutschen Eliten einen wachsenden Trend zur Homogenisierung aus. Man bleibt sozial lieber unter seinesgleichen und allem Gerede von Leistungsgerechtigkeit
zum Trotz selektiert man den Nachwuchs der Führungsetagen weniger nach den Fähigkeiten der Aspiranten als vielmehr nach den habituellen Gemeinsamkeiten. Dass sich dieses Closed-shop-Prinzip auch in der für soziale Aufsteiger vermeintlich offenen politischen Elite Geltung verschafft, sollte zumindest den Teilen dieser Elite,
die gerne Gegenteiliges behaupten, zu denken geben. Mit dem Andauern der Krise der Arbeitsgesellschaft werden die Stimmen lauter, die in sich von einem garantierten Grundeinkommen eine Besserung der Lage versprechen. Katrin Mohr gibt einen profunden Überblick über die verschiedenen Modelle, die derzeit in der Diskussion sind und warnt angesichts knapper Finanzlagen davor, den Kreis der Berechtigten zu weit zu fassen. Diese Warnung dürfte den Vorschlag des Thüringischen Ministerpräsidenten Dieter Althaus nicht berühren. Er ist solide durchgerechnet, verspricht dafür aber auch nicht für jeden eine Besserung seines sozialen Standards. Althaus ist derzeit einer der prominentesten Verfechter einer garantierten Grundsicherung, von Gewerkschaften deshalb ebenso angegriffen wie in seiner eigenen Partei.

Während die Klage über die neuen Formen sozialer Ungleichheiten noch einen Adressaten sucht, ist Benachteiligung, wenn sie im Gewand der Diskriminierung einher kommt, eindeutig sanktioniert. Wer aufgrund von Rasse, Geschlecht, Religion oder sexueller
Identität eine Schlechterstellung erfährt, kann sich in seinem Widerstand auf ein umfassendes Regelwerk stützen. Allerdings, das macht der Beitrag von Albert Scherr deutlich, ist diese Eindeutigkeit trügerisch. Denn Diskriminierung ist gerade keine von sozioökonomischen Ungleichheiten eindeutig und trennscharf unterscheidbare soziale Tatsache. Sie stehen vielmehr historisch und systematisch in einem engen, in einigen Fällen konstitutiven Zusammenhang mit sozioökonomischen Ungleichheiten sowie mit
politischen Herrschaftsverhältnissen.

Mit der Parallelgesellschaft wurde ein Begriff gefunden, auf den eine gleichermaßen kulturell wie sozial definierte Exklusion in Migrantenmilieus gebracht werden kann. Dirk Halm und Martina Sauer haben dieses Schreckensbild gesellschaftlicher Desintegration auf seinen empirischen Gehalt hin abgeklopft. Ihr Befund ergibt ein höheres Maß an Integration, als es die öffentliche Berichterstattung vermuten lässt. Allerdings konstatieren sie auch eine Tendenz zum Religiösen.

Menschen ohne Papiere bilden noch nicht einmal eine Parallelgesellschaft, sie leben in einer Schattenwelt. Selbst ihre genaue Zahl ist unbekannt. Gerd Pflaumer kritisiert, dass ihnen aufgrund ihrer klandestinen Lebensweise elementare Hilfen, auf die sie einen menschenrechtlichen Anspruch haben, verwehrt sind.
Eine aktuelle Literaturschau gibt Anregungen zur vertiefenden Lektüre.

In seinem luziden Essay arbeitet der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit auf, und kommt auf diese Weise zu einer geradezu salomonisch zu nennenden Interpretation der aktuellen, von den Ergebnissen der Sabrow-
Kommission ausgelösten Kontroverse um dieses Thema. Statt um die Deutungshoheit zu ringen, sollte die der bürgerrechtlichen Tradition verpflichtete gesellschaftlich Aufarbeitung der und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in
eine fruchtbare Kooperation treten. Denn die Geschehnisse dem Vergessen zu entreißen und sie historisch zu kontextualisieren sind beides notwendige Weisen der Bewältigung.

Eine Würdigung einer der letzten Basisdemokratien in Europa und eine Polemik gegen die eklatanten Mängel des US-amerikanischen Wahlsystems sowie die Rezension des Buches von Hartmut Rosa über sozialen Beschleunigung runden diese Ausgabe der Vorgänge ab, zu der ich Ihnen eine anregende Lektüre wünsche.

Ihr Dieter Rulff

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