Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 176: Die fragmentierte Gesellschaft

Die Konkur­renz­ge­sell­schaft

Zu Wandel von Sozialstruktur und Politik in Deutschland,

aus: vorgänge Nr. 176 (Heft 4/2006), S. 5-12

Soziale Gerech­tig­keit ist wieder Thema in Deutschland

Zwei Momentaufnahmen aus dem November 2006 markieren eine wachsende Beunruhigung über den Mangel an Gerechtigkeit in der Gesellschaft: Einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebenen Studie zufolge gehören acht Prozent der Deutschen einer „Unterschicht“ an – 20 Prozent im Osten und vier Prozent im Westen. Der Bildungsgrad der überwiegend Arbeitslosen sei zumeist niedrig, ihre berufliche Mobilität und ihr Aufstiegswillen nur gering ausgeprägt. Die Umfrage von Infratest dimap für die ARD „Geht es in Deutschland gerecht zu?“ beantworteten 66 % mit „ungerecht“,     27 % mit „gerecht“.
Das Bewusstsein, keine zusammengehörende Gesellschaft mehr zu sein, bricht durch – als ein Erschrecken, dass dies tatsächlich eine denkbare Deutung des gegenwärtigen Zustandes sein könnte. Diese Diagnose für wahr zu halten, hieße jedoch, alle bisherigen Politikansätze und reformerischen Konzepte zu Makulatur zu erklären. Da das von den politischen Eliten nicht akzeptiert werden kann, folgt auf das Erschrecken der normative Reflex, dass nicht sein dürfe, was doch alle wissen. Und so versteift sich Arbeitsminister Franz Müntefering zu der Äußerung „Es gibt keine Schichten in Deutschland“.

Konflikt-Interpretationen

Aber vielleicht hat Franz Müntefering in anderer Hinsicht Recht. Die alten Kategorien von Schicht, Klasse oder auch Milieu sind oft nicht hinreichend, um die Veränderungen in der bundesdeutschen Sozialstruktur zu erfassen. Immer weniger bündeln sich die gesellschaftlichen Spannungslinien in Deutschland in einem zentralen Thema, einem großen Konflikt, einer großen Gerechtigkeitsfrage. Neben die klassischen Arbeit/Kapital-Konflikte treten die Auseinandersetzungen zwischen Generationen, Altersgruppen, Bildungsschichten, Haushaltstypen, Lebensformen und -stilen, zwischen Bundesländern und Berufsgruppen wie die zwischen Steuerzahlern und Transferbeziehern. Entsprechend durchziehen neben Überlegungen zur traditionellen Verteilungsgerechtigkeit Konzepte der Generationen -, Geschlechter-, Bildungs- und Arbeitsgerechtigkeit, der Teilhabe -, Teilnahme – und Befähigungsgerechtigkeit die gesellschaftlichen Debatten. Doch werden all diese vielfältigen Konfliktherde sehr stark ökonomisch betrachtet: Die Generationenfrage beispielsweise ist keine Frage von kulturellen Ansprüchen, wie es für den Generationenkonflikt in den 1960er Jahren gelten kann, als umfassende Lebens- und Gesellschaftsentwürfe aufeinander prallten. Konflikte zwischen gänzlich unterschiedlichen Lebenszielen und Weltverständnissen spielen heute kaum eine Rolle. Es geht um Geld, um die Verteilung der Lasten für die Versorgung der heute Älteren und die zukünftige eigene Altersvorsorge. Selbst da, wo die jungen Alten entdeckt werden, interessiert vorrangig die Konsumkraft dieser Gruppe. So wundert es nicht, dass eine zunehmend lange Lebensdauer vor allem als Kostenproblem der Kranken- und Pflegeversicherung begriffen wird.
Der generationelle Verteilungskonflikt beruht gerade darauf, dass sich die Werte zwischen den Generationen angenähert und die ökonomischen Sicherungs- oder Steigerungslogiken alle Generationen ergriffen haben. Auch der Streit um die geringen Geburtenraten und die Anlage einer geburtenförderlichen Familienpolitik lebt vom Ressentiment gegen jene, die sich dadurch ökonomische Vorteile verschaffen, dass sie keine Kinder in die Welt setzen und erziehen. Auf der anderen Seite beruht die neue Kinder- und Familienfreundlichkeit auf einem ökonomischen Kalkül, dass nur mit vielen, möglichst gut ausgebildeten Kindern die Bundesrepublik in der Weltmarktkonkurrenz der Wissensgesellschaften bestehen kann – und ihre sozialen Sicherungssysteme aufrechtzuerhalten vermag.
Dennoch – eine Wiederkehr der Klassengesellschaft als Gesellschaft sich gegenüberstehender Großgruppen vollzieht sich derzeit sicherlich nicht. Dagegen unterschätzt die Interpretation, es handele sich um nebeneinander existierende Spaltungen, die sich in ihrer politischen und sozialen Sprengkraft eher neutralisieren, die Wirkungen wachsender sozialer Ungleichheit. Die Sozialstruktur Deutschlands weist Kontinuitäten auf, die dramatisierende Deutungen nicht stützen. Aber es zeichnen sich Tendenzen ab, die skeptisch stimmen gegenüber Diagnosen einer bloßen Vielfalt unverbundener und hierarchiefreier Spaltungen. Deutschland erlebt derzeit die Zersplitterung einer von Konkurrenzen durchzogenen Gesellschaft, in der jede Lage, jede Gruppe ihr Heil und Wohl in kompetitiver Entgegensetzung zu anderen Gruppen sucht und suchen muss.
Der Blick zurück ergibt, dass sich das soziale Bild der Bundesrepublik seit den 1960er und 1970er Jahren grundlegend verändert hat. In dem „Goldenen Zeitalter“ einer Mittelschichtgesellschaft waren Arbeitsplätze und auskömmliches Einkommen für alle vorhanden, Wohlstandssteigerung, Bildung und beruflicher Aufstieg bildeten für viele die zentrale Orientierung. Trotz beträchtlicher Vermögens- und Einkommensunterschiede wies die Gesellschaft ein hohes Maß an sozialer Kohäsion auf, schien kaum jemand von Armut, Ausgrenzung und Marginalisierung betroffen. Anders die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2006: Es handelt sich um eine vielfach gespaltene Gesellschaft. Das zeigt eine Fülle von Fakten zu Konfliktlinien, gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten und sich auseinander entwickelnden Lebensweisen.

Spaltungs-Vielfalt

Statt des einen einzigen großen Risses, der durch die Gesellschaft geht, haben wir es mit sich überlagernden Konflikten zu tun, statt der bloßen Pluralität der Lebenslagen mit klaren vertikalen Abstufungen und Abspaltungen. Statt des in den 1980er Jahre proklamierten Endes der Verteilungskonflikte werden alle, auch tiefgehende kulturelle Differenzen in ökonomische Verteilungskonflikte überführt, Gruppendifferenzen als materielle Gerechtigkeitsfragen (statt als Lebensziel- und Lebensstilfragen) erlebt und das Bewahren gegen das Modernisieren – immer im Sinne der Befähigung zum Wettbewerb – ausgespielt. Die vielfachen Spaltungen sind Kennzeichen einer in Konkurrenzgrüppchen zerfallenden und sich immer wieder neu gruppierenden Gesellschaft. Die Allgegenwart der Konkurrenz erstreckt sich dabei nicht nur auf die Privatwirtschaft, sondern auch auf alle Felder des Politischen als Konkurrenz um Fördermittel, Sozialtransfers oder begünstigende rechtliche Regulationen. Mag die eigene Lage mehr vom Markteinkommen oder stärker von staatlichen Transferzahlungen abhängen, immer werden Belastungen und Begünstigungen aus der Perspektive der jeweils eigenen Gruppenbetroffenheit beurteilt. Die Gruppen, die als Bezugsgröße dienen, werden dabei immer kleiner: Statt der Gruppe der Arbeiter mit mittlerem Einkommen wird nun die Gruppe der Industriefacharbeiter mit Mittlerer Reife und einem Einkommen zwischen 2500 bis 3000 € in der Altersklasse über 50 in einer dreiköpfiger Familie zugrunde gelegt. Dass sich bei dieser Betrachtungsweise für jede politische Maßnahme Gewinner – und vor allem Verlierergruppen ausweisen lassen, liegt nahe. Aber es sind nicht die gewachsenen statistischen Möglichkeiten, die zu dieser Verfeinerung führen, es ist die Selbstwahrnehmung einer Gesellschaft, in der jeder sich in einer sehr speziellen Konkurrenzlage wähnt, aber keine Identifikation mit Großgruppen mehr existiert.
Gerade die vorherrschende Wettbewerbslogik trägt dazu bei, dass sich die vielen Spaltungen nicht zu der einen großen Spaltung verdichten. Marktlagen hängen nicht mehr von lebenslanger beruflicher Anstrengung im Rahmen einer zielstrebig und ausdauernd verfolgten Karriere ab, sie werden angesichts rasch wechselnder Konjunkturen, technologischer Innovationen und Unternehmensfusionen als Zufall oder Glückssache erlebt, als Ergebnis günstiger Umstände. Erfolg stellt sich ein – oder auch nicht. Anstrengung ist die Eintrittskarte, um überhaupt dabei zu sein. Ebenso schnell wie die Marktlagen ändern sich die „Sozialstaatslagen“: Was am Markt die Konjunktur, das ist auf politisch-sozialstaatlicher Ebene die neueste Reform. Gesetzgeberische Akte, die die soziale Lage einzelner Gruppen recht grundlegend verändern können, folgen fast im Jahresrhythmus aufeinander. Was gestern noch galt, ist bereits heute Gegenstand parlamentarischer Beratungen oder gerichtlicher Überprüfung und morgen womöglich – und durchaus durch dieselbe Regierung – wieder aufgehoben, erneuert, reformiert. So trägt auch der Sozialstaat nicht dazu bei, dass sich stabile Klassenlagen auf der Basis staatlicher Zahlungen herausbilden, so genannte Versorgungsklassen. Ebenso wenig entstehen aus den fluiden Marktbewegungen eines dynamisierten Kapitalismus stabile Marktlagen, die die Basis von Marktklassen bilden könnten.

Wettbewerbs-Bewußtsein

Auf diesen erheblich beschleunigten Wechsel der Parameter, die die Einkommens- und Lebenssituation beeinflussen, reagieren die jeweils Betroffenen weitgehend ähnlich, gleich, ob sie zum oberen oder unteren Ende der Einkommenspyramide gehören oder sich im mittleren Bereich befinden: Sie nutzen alle Möglichkeiten, die günstigere Marktlage zu erhalten oder zu erreichen, verteidigen hartnäckig den Bestand, versuchen alle Aufstiegs- und Gewinngelegenheiten zu nutzen – oft auch jene, die illegal sind,     aber ins Legitime uminterpretiert werden. Sie reagieren mit der Verkürzung des Zeithorizontes, der Selbst-Reduktion aufs Eigeninteresse, dem schnelleren Umsteigen auf neue Chancen einer neuen Marktlage, sind strukturell illoyal und identifizieren sich rein instrumentell mit Kollektiven oder Gruppen, die als Unterstützer für die eigenen Marktambitionen fungieren können.
Diese Anpassung an die Konkurrenzlagen geht mit einer gleichsam naturalistischen Perspektive auf das soziale Geschehen einher. Es wird schlicht als Selbstlauf und Wettbewerbs-Schicksal erlebt. Zwar muss man seine „Fitness“ in jeder Hinsicht steigern,    aber ob jene Gelegenheiten auftreten, die das eigene Können zur Geltung bringen lassen, ist eine Sache des Glücks oder der Umstände, hängt von sich öffnenden Nischen oder den jeweils aktuell vorherrschenden Entwicklungen ab. All das ist unberechenbar und ungestaltbar. Die Gesellschaft zerfällt in Markt- und Sozialstaatslagen, die bei einzelnen Gruppen bereits als so instabil erlebt werden, dass keine dauerhafte Identifikation mit einer Rolle und Gruppe gelingt. Statt stabiler sozialer Klassen mit relativ klar geschnittenen Klasseninteressen bestimmt das soziale Geschehen eine Fülle schnell wechselnder Markt- und Sozialstaatslagen mit entsprechend situativen Interessen.
Die Konkurrenz wird zum Lebenselixier wie zur permanenten Drohung. Sie erzeugt hohes Selbstbewusstsein, wo Positionsgewinne erreicht werden, und intensiviert die Anstrengungen, wo Aussichten auf Wettbewerbsvorteile bestehen. Sie erzeugt aber auch permanenten Druck bei denen, die um ihre Position fürchten müssen. Subjektiv kann diese neue Marktgesellschaft als fortwährende Angst vor dem Scheitern und Verlieren des sozialen Status erlebt werden. Bei den Abgehängten, den an den Rand der Konkurrenz Gedrängten, entsteht dagegen ein Selbstbewusstsein, das sich gegen eine völlige Marginalisierung sperrt und zur Ausbildung eigener Sub-Kulturen mit subtilen Taktiken des alltäglichen Durchkommens führt. Die Marktgesellschaft mobilisiert ihre Mitglieder, sie produziert aber auch immer „Überflüssige“, die weder vom Arbeitsmarkt noch von einem Familienzusammenhang wirklich „gebraucht“ werden. Der Verlust einer realen Funktion, das Überflüssigwerden, schafft eine wachsende Zahl von Menschen, die aus den Netzen der angeblichen Leistungsgesellschaft fällt und von sozialen Zusammenhängen ausgeschlossen ist.

Vergangenheits-Sehnsüchte

Angesichts dieser Gegenwartsbeschreibung verwundert nicht, dass die Vorstellung eines zurückliegenden Goldenen Zeitalters, mögen es für die einen die 1950er Jahre, für die anderen eher die späten 1960er und 1970er Jahre gewesen sein, für die heutige Selbstverständigung eine große Rolle spielt. Weiß man doch im Rekurs auf diese Jahrzehnte, wie eine „gute Gesellschaft“ aussehen kann: kapitalistisch, aber sozial, nicht von sozialer Gleichheit geprägt, aber doch Mittelschichtzentriert, nicht wirklich partizipatorisch, aber immerhin institutionell durchaus demokratisch. So hat die heutige Gesellschaft zwar ein konkretes Vergangenheitsideal, das als – unwiederbringlich – verloren gelten muss. Es fehlt jedoch an Vorstellungen eines konkreten Zukunftsideals, das es mit dieser „wunderbaren“ Vergangenheit auch nur halbwegs aufnehmen könnte. Zukunft wird allein als Negativum mit der vagen Aussicht auf bessere Zeiten beschrieben: als ein Mehr an Eigenverantwortung, ein Mehr an Wettbewerb, ein Weniger an Sicherheit, ein Weniger an Wohlstand für alle. Entsprechend mag man sich Zukunft nur als Einfügung in Notwendigkeit, als Nach – und Mitmachen in einem weltweiten Wettbewerbsrausch vorzustellen. Die Anpassungsleistung an einen anonymen Prozess überwiegt die Vorstellung einer gestaltbaren Zukunft. Der Verlust der Berechen – und Gestaltbarkeit leistet einer metaphysisch-psychologischen Sicht Vorschub, die Erfolg, d.h. ökonomisches Glück, nur den Glücklichen zuschreibt. Optimismus und ausgeprägtes Selbstbewusstsein, Zukunftsvertrauen und Angstresistenz, freudig-freundliches Auftreten und unbezweifelte Ich-Identität werden zu Markern des Erfolges.
Der Grundimpuls eines Zurück mag zwar verständlich sein, ist aber unproduktiv. Selbst Gerechtigkeitsappelle scheinen hinfällig in Zeiten fehlender Kohäsion. Denn die soziale Spaltung übersetzt sich in dem Maße in eine politische, in dem wechselnde Konkurrenzen das politische Gewebe einer Gesellschaft porös werden lassen. Das politische Pendant zur gespaltenen Gesellschaft wäre demnach die Postdemokratie – jene Entwicklung moderner Demokratien, bei der die Kerninstitutionen allgemeine Wahlen, die politische Gleichheit des „one man, one vote“, die Ablösbarkeit der Regierung und das Wechselspiel von Regierung und Opposition weiterhin funktionieren, eine Gestaltung der Politik durch die Bevölkerung im Sinne einer substantiellen Mitwirkung jedoch weitgehend ausgeschlossen ist. Es sind keineswegs nur die gern genannten Tendenzen Richtung Mediendemokratie, die die formalen Verfahren zu inhaltsleeren Ritualen werden lassen. Demokratie wird zur Postdemokratie, wenn die Politik zum Nachvollzug von Reformnotwendigkeiten degradiert, die Bevölkerung nicht mehr als Auftraggeber der Politik verstanden wird und die Handlungschancen aller Beteiligten soweit reduziert sind, dass politische Gestaltung nicht mehr möglich ist.

Kooperations-Niedergang

Gerechtigkeitsappelle werden aber auch aus einem anderen Grunde problematisch. Gerechtigkeitsvorstellungen setzen die Existenz eines Kooperationszusammenhangs voraus. Nur wenn Gesellschaft als Gemeinschaft der sozial und politisch Zusammenarbeitenden verstanden werden kann, gibt es überhaupt eine Instanz, an die appelliert werden kann. Bisher war diese Kooperationsgemeinschaft die Gesellschaft des Nationalstaats. Man nahm bisher auch an, dass allein unter dieser Voraussetzung der Gerechtigkeitsmaßstab zur Anwendung gebracht werden kann, dass Ungleichheit nur dann zulässig ist, wenn die Erträge der Leistungsstarken die Situation der Schlechtestgestellten verbessern. Existiert die Gesellschaft als Kooperationszusammenhang nicht mehr, läuft die Gerechtigkeitstheorie ebenso wie eine moralische Anrufung ins Leere. Denn nur in einem nationalen Rahmen, der zugleich als kooperativer Zusammenhang gedacht wird, kann man die Unternehmer zumindest moralisch verpflichten, im eigenen Land Arbeitsplätze zu schaffen, die Kapitalgeber zu investieren und Steuern zu zahlen, die hoch qualifizierten WissenschaftlerInnen zu bleiben und zu forschen und Immigranten einen bestimmten Wertekanon anzunehmen. Entfällt der Bezugspunkt einer als Einheit gedachten Gesellschaft, die ihrerseits das Pendant in einem politisch verfassten Nationalstaat besitzt, entfällt die Basis des tradierten Gerechtigkeitsdenkens.
Gesellschaft wie Politik ordnen sich aber längst nicht mehr entlang territorialer Markierungen. Wir leben nicht in einer Welt, in der Nationalstaaten von nationalen Gesellschaften als kooperativen und integrierten Formen sozialen Handelns getragen werden. Die sektorale oder funktionale Dimension steht heute im Vordergrund. Und jeder dieser Sektoren oder Funktionssysteme ist seinerseits globalisiert. Das gilt für die Ökonomie, die Medienöffentlichkeit, die Wissenschaft, für Musik und Künste und auch für Politik und Recht – in unterschiedlicher Geschwindigkeit und je eigener Ausprägung von globalisierten Zentren und im Internationalisierungsprozess randständigen Peripherien. Wer im Zentrum und wer in der Peripherie landet, ist nur zum Teil von der nationalstaatlichen Zugehörigkeit abhängig. Der (National-)Staat wird in einer globalisierten Welt, die sich entscheidend auch sektoral organisiert, und in einer sich ihm nicht mehr unterordnenden Gesellschaft zu einem Akteur unter vielen. Und tendenziell zu einem weniger wichtigen, wenn internationale Organisationen, große Konzerne und NGOs, institutionelle Kapitalanleger, Region- verbünde, private Rechtssetzungsinstanzen und lokale Akteure mit ihm konkurrieren und um Kooperationsnetzwerke streiten. Der Nationalstaat ist unter den Bedingungen eines weltweiten Wettbewerbs um Anlage- und Investitionsmöglichkeiten nur noch ein „Territoriumsunternehmer“. Er wird Anbieter einer räumlich bestimmten Einheit mit all dem, was sich in diesem Raum befindet. Als Territoriumsunternehmer muss er diesen Raum nach außen lockend präsentieren für all jene Raum-ungebundenen Akteure, die sich vorrangig aufgrund sektoral (z.B. ökonomisch) bestimmter Motive entscheiden.
Begreift sich die politische Elite als Anbieter eines Territoriums – zunächst durchaus zum Wohle aller Bewohner desselben – wird sie in der Konsequenz dieses Verständnisses ihrer Politik zu weiteren Spaltungen beitragen. Denn nunmehr muss der wettbewerbsgeschulte Blick auf alle Faktoren fallen, die die Standortattraktivität erhöhen oder senken können. Das betrifft auch die Bevölkerung: In welchem Umfange ist sie produktiv und ein wie großer Teil muss aus dem Steuer- und Beitragsaufkommen per Sozialtransfer unterstützt werden? Ist sie hoch qualifiziert und damit tauglich für den internationalen Arbeitsmarkt? Ein Territorialunternehmer wird Politik auch als Personalpolitik verstehen und die eigene Bevölkerung nach dem Grad der Wettbewerbsfähigkeit einstufen. Daraus resultiert die aktuell beobachtbare Politik der Familienförderung, der Schaffung kinderfreundlicher Bedingungen, eine neue Betonung der Bildungspolitik als Arbeitsmarkt- und vorbeugende Sozialpolitik. Das führt aber auch zu starken Einschnitten bei den Alterseinkünften aus der gesetzlichen Rentenversicherung und einer speziell auf Hochqualifizierte ausgerichteten Zuwanderungspolitik. Fragen der sozialen Gerechtigkeit geraten hier sehr leicht in den Hintergrund. Was zählt, ist die Anpassungsfähigkeit auf Weltmärkten und die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des Landes, seiner Institutionen und auch der Wettbewerbsfähigkeit eines jeden Bürgers in diesem Land. Aktivierung und Mobilisierung, Befähigung und Qualifizierung, vorsorgende und investive Sozialpolitik heißen die entsprechenden Vokabeln.

Konkurrenz-Perspektiven

Dieser böse Blick auf die Wettbewerbsqualifikation der Staatsbürger ist keineswegs eine reine Elitensicht – er ergreift auch die Bevölkerung. Die sich als wettbewerbstauglich ansehenden Bürger erhoffen sich als Mitglieder neuer globaler Ober- und Mittelschichten überleben zu können und sehen nicht ein, dass sie auf nationalstaatlicher Ebene (finanziell) mitverantwortlich sein sollen für jene, die keinerlei Chance haben, im Globalisierungsprozess mitzuspielen. Sie missbilligen, dass sie jene staatlichen Apparate stützen sollen, die dieses Ausscheiden abfedern und verwalten. Verachtung und Empörung bestimmen ihre Sicht auf jene, die vermeintlich zu langsam, zu unbeweglich, zu wenig eigen bestimmt, zu wenig bemüht sind, um in diesem täglichen Kampf zu bestehen und Anschluss zu gewinnen. Sie bestimmt die Vorstellung, dass alle sich wie sie selbst den Anforderungen zu unterwerfen hätten. Alles wird zu einer Frage eigener Anstrengung und individuellen Geschicks. Leistungsgerechtigkeit in Anlehnung an die Erfordernisse globalisierter Funktionssysteme bildet entsprechend das gerechtigkeitstheoretische Fundament. Dass die Bedingungen erfolgreichen Bemühens auf keinen Fall für alle gegeben ist, wird dabei geflissentlich übersehen. Die global Integrierten entfernen sich zunehmend von den stark national gebunden sozialen Gruppen und jenen, die schon jetzt aus allen Märkten herausfallen. So werden auch jene zunehmend ängstlich, die noch in den lokalen Feldern funktionierender nationaler, regionaler oder lokaler Märkte, in halbwegs integrierten Wohn-, Arbeits- und Beziehungsverhältnissen leben. Doch die Gruppe dieser Traditionalisten schrumpft, und ist gerade dort in Gefahr, wo sie von einer gut situierten Industriefacharbeiterschaft getragen wurde. Denn diese traditionalistischen Milieus mit Vorstellungen von der Kontinuität ihres Lebensstils sehen sich von den neuen Anforderungen, der neuen Wettbewerbssituation, den veränderten Unternehmenskulturen und den neuen Arbeitsmarktgesetzen bedroht. Kommt der Arbeitsplatzverlust im Lebensjahrzehnt nach dem fünfzigsten Geburtstag, erfolgt der schnelle Abstieg Richtung ALG II samt Bedürfnis- und Vermögensprüfung. Hartz IV ist Symbol des jederzeit möglichen Abstiegs ohne soziale, berufs- und einkommensbezogene Auffanglinie. Es wird für jedermann vorstellbar, innerhalb kurzer Zeit „durchgereicht“ zu werden von einer auskömmlichen Mittelschichtsposition zu einer sozialhilfeanalogen Transferabhängigkeit mit der Verpflichtung, jegliche Arbeit annehmen zu müssen. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe hat gerade in den Mittelschichten die Frage auftauchen lassen, wie lange – gemessen an Lebensjahren – sie es schaffen können, im intensiver und globaler werdenden Wettbewerb „mitzuhalten“. Wenn nicht, was dann? Hier wird Bestandssicherung und Wiedergewinnung einer Status sichernden Sozialpolitik zur obersten politischen Maxime.

Politik-Aussichten

Die gegenwärtige Entwicklung wird in der politischen Öffentlichkeit als Zuwachs an Ungleichheit und Ungerechtigkeit begriffen. Kein Wunder, denn die Interessen und Gerechtigkeitskonzepte der gesellschaftlichen Gruppen streben auseinander, und die Basis einer nationalen Kooperationsgemeinschaft als Grundlage einer jeden bisherigen Gerechtigkeitspolitik schwindet. So bleibt wenig mehr als ein düsterer Ausblick: Eine Politik der Wettbewerbsbefähigung muss an berechtigten oder auch nur bornierten Statussicherungsinteressen scheitern, vor allem aber an der Unmöglichkeit, die gesamte Bevölkerung am Wettbewerb erfolgreich teilhaben zu lassen. Eine traditionelle Gerechtigkeitspolitik findet kaum mehr Hebel zur Realisierung. Und auch die Europäisierung der Sozialpolitik – wenn sie denn Aussicht auf Erfolg hätte – verspricht, wenn überhaupt, erst in ferner Zukunft Abhilfe zu schaffen. Sozialpolitik wird sich also bestenfalls als Balance zwischen den Forderungen der Bessergestellten, der Sicherung des Status Quo für diverse Konkurrenzlagen sowie einer höheren Teilhabe der bereits Ausgeschlossenen realisieren lassen.
 

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