Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 182: Die Aufgabe des Staates

Daseins­vor­sorge und notwendige Staats­auf­gaben

Was sollen Staat, Kommunen und Private tun (dürfen)?,

aus: vorgänge Nr.182, Heft 2/2008, S. 56-69

A. Einführung

Es gibt verschiedene Ansatzpunkte, sich dem Thema „Daseinsvorsorge und notwendige Staatsaufgaben – Was sollten Staat, Kommunen und Private tun (dürfen)?“ zu nähern. Das hängt zu einem nicht geringen Teil vom Vorverständnis dessen ab, der das Thema behandelt, und einer in der Regel nicht offen gelegten Interessenlage im Hintergrund. So wird die Sichtweise dessen, der sich von wirtschaftlichen Interessen leiten lässt, von vornherein und zwangsläufig eine andere sein als dessen, der die Thematik umfassend in den Blick nimmt und bestrebt ist, ihr im Gesamtzusammenhang gerecht zu werden. Um meine auf Grund jahrzehntelanger beruflicher und wissenschaftlicher Erfahrung gewonnene Sicht zu erläutern, werde ich mich im mit folgenden Fragestellungen auseinander setzen:

I. Grundgesetzliche und kommunalverfassungsrechtliche Aufgabenzuweisungen.
II. Das Menschenbild des Grundgesetzes und das Sozialstaatsprinzip.
III. Staat, Werteordnung und Gesellschaft.
IV. Bewertung und Ausblick.

 

B. Einzel­heiten

I. Grundgesetzliche und kommunalverfassungsrechtliche Aufgabenzuweisungen

Bei der Betrachtung verfassungsrechtlicher wie auch einfachgesetzlicher Aufgabenzuweisungen lohnt ein Blick auf die Ursprünge.

1. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hatte in seiner Ausgangsfassung von 1949 in Art. 87 Abs. 1 verschiedene staatliche Tätigkeitsbereiche der bundeseigenen Verwaltung zugeordnet, so den Auswärtigen Dienst, die Bundesfinanzverwaltung, die Bundeseisenbahnen, die Bundespost sowie die Verwaltung der Bundeswasserstraßen und der Schifffahrt. Des Weiteren werden als bundes unmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechtes diejenigen sozialen Versicherungsträger geführt, deren Zuständigkeitsbereich sich über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckt (Art. 87 Abs. 2 GG). Diese Vorschrift im 8. Abschnitt des Grundgesetzes betrifft nicht nur die Abgrenzung der Verwaltungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern, sondern es werden dem Staat Bundesrepublik Deutschland und innerhalb desselben dem Bund Dienstleistungsbereiche für die Bevölkerung zugeordnet. Das heißt zugleich, dass die beschriebenen Tätigkeitsfelder vom Staat wahrzunehmen und Private ausgeschlossen sind[1].

2. Auf einer unteren staatlichen Ebene, der Kommunalebene, weisen die entsprechenden Landesgesetze Bestimmungen auf, die ebenfalls Tätigkeitsfelder der Kommunen für die Bevölkerung voraussetzen. So sind die Gemeindeangehörigen nach den bestehenden allgemeinen Vorschriften berechtigt, die öffentlichen Einrichtungen der Gemeinde zu benutzen[2]. Zugleich weisen die Satzungsermächtigungen zu Gunsten der Gemeinden weiter darauf hin, dass es solche Tätigkeitsbereiche der Gemeinden geben muss, wenn diese aus Gründen des öffentlichen Wohls den Anschluss an die Wasserversorgung, die Abwasserbeseitigung, die Abfallentsorgung, die Straßenreinigung und ähnliche der Gesundheit dienende Einrichtungen vorschreiben und die Benutzung dieser Einrichtungen zur Pflicht machen können[3]. Unverkennbar handelt es sich hierbei um Einrichtungen der Daseinsvorsorge, auf die der Einzelne zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins angewiesen ist und für die er nicht selbst Sorge tragen kann. In einer bevölkerungsreichen Gesellschaft kann, um dies mit einem Beispiel zu illustrieren, die eigenverantwortliche Wahrnehmung der Abwasserbeseitigung und der Abfallentsorgung nicht geordnet vonstatten gehen. Zudem kann durch sie auch das öffentliche Wohl – Hygiene und Gesundheit – nicht sichergestellt werden. Hier treffen sich also das Individual- und das Allgemeininteresse.

3. Anders verhält es sich mit der wirtschaftlichen Betätigung der Kommunen. Vorbild war auch nach 1949 § 67 Abs. 1 und 2 der Deutschen Gemeindeordnung vom 30. Januar 1935 -DGO -(RGBl. I, S. 49), der wie folgt lautet und an den sich die meisten Gemeindeordnungen ursprünglich anlehnten:

㤠67

(1) Die Gemeinde darf wirtschaftliche Unternehmen nur errichten oder wesentlich erweitern, wenn
a) der öffentliche Zweck das Unternehmen rechtfertigt,
b) das Unternehmen nach Art und Umfang in einem angemessenen Verhältnis zu der Leistungsfähigkeit der Gemeinde und zum voraussichtlichen Bedarf steht,
c) der Zweck nicht besser und wirtschaftlicher durch einen anderen erfüllt wird oder erfüllt werden kann.

(2) Wirtschaftliche Unternehmen im Sinne dieses Abschnitts sind nicht
a) Unternehmen, zu denen die Gemeinde gesetzlich verpflichtet ist,
b) Einrichtungen des Unterrichts-, Erziehungs- und Bildungswesens, der körperlichen Ertüchtigung der Kranken-, Gesundheits- und Wohlfahrtspflege … “

§ 67 Abs. 1c DGO und die an sie angelehnten Bestimmungen der Gemeindeordnungen der Länder drücken das so genannte Subsidiaritätsprinzip für eine wirtschaftliche Tätigkeit der Gemeinden aus. Sie dürfen nur ausnahmsweise hier tätig werden, wenn anderenfalls eine Lücke entstehen würde. Auch hier treffen sich wieder zwei Interessen: Das individuelle Interesse an wirtschaftlicher Betätigung und damit freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie das Gemeinwohlinteresse dergestalt, dass Gemeinden nicht in finanzielle Abenteuer geraten. Insofern hatten diese Vorschriften eine doppelte Schutzfunktion[4].

4. Allerdings muss man sehen, dass das Subsidiaritätsprinzip nur bedingt geeignet ist, die aufgezeigte Problemlage – Individualinteresse gegen Gemeinwohlbelange – in einen sachgerechten und angemessenen Ausgleich zu bringen. Das Subsidiaritätsprinzip muss aufgrund der Entwicklung der letzten Jahrzehnte auf nationaler und internationaler Ebene für zu viele Interessenlagen als Rechtfertigung dienen, als dass es noch rechtlich als gesichertes Kriterium dienen könnte. Das kann man noch an einem anderen Beispiel verdeutlichen, der Regelung in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG. Danach wirkt die Bundesrepublik Deutschland zur Verwirklichung eines vereinten Europas bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist. Allerdings hat das, was auf der Gemeinschaftsebene abläuft und was zunehmend beklagt wird, nichts mehr mit dem Subsidiaritätsprinzip zu tun. Ganz im Gegenteil bildet dieses das Einfallstor für die Gemeinschaftsebene in die Mitgliedstaaten. Vor diesem Hintergrund habe ich eingehend nachgewiesen, dass der Regelung in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG ein Missverständnis zu Grunde liegt[5]. Dieses beruht darauf, dass das Subsidiaritätsprinzip lediglich als Strukturvorgabe an die Europäische Union formuliert wird und deshalb die ihm zugedachte Wirkung nicht erzielen kann. Vielmehr muss das Subsidiaritätsprinzip zu einer echten nationalen Integrationsschranke fortentwickelt werden, deren Beachtung jeder einzelne Bürger mit der Verfassungsbeschwerde erzwingen könnte. Das wäre dann auch der Standard, den die Deutsche Gemeindeordnung und die an sie angelehnten Gemeindeordnungen der Länder aufweisen, wenn die wirtschaftliche Betätigung der Kommunen an bestimmte Voraussetzungen geknüpft wird. Diese Regelungen entfalten drittschützende Wirkung für potenzielle Wettbewerber, die ihnen die verwaltungsgerichtliche Klage – im Kern eine Konkurrentenklage – eröffnet[6].

Des Weiteren muss man in diesem Zusammenhang Art. 15 GG in die Betrachtung einbeziehen. Diese Vorschrift des Grundgesetzes wird landläufig und seit jeher wohl eher als „Folklore“- Bestimmung betrachtet. Sie sollte nach Ansicht mancher auch im Parlamentarischen Rat dazu dienen, eine möglichst breite Zustimmung zum Grundgesetz zu erreichen. Inzwischen habe ich nachgewiesen, dass Art. 15 GG durchaus aktuelle verfassungsrechtliche Substanz hat und dieser Verfassungsbestimmung darüber hinaus eine vitale Bedeutung zukommt[7]. Wenn Art. 15 Satz 1 GG die Möglichkeit eröffnet, Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft zu überführen, muss man unter Subsidiaritätsgesichtspunkten sehen, dass vor dem damaligen Hintergrund im Jahre 1949 dem Staat die Möglichkeit zum Eingreifen eröffnet werden soll, wenn seine Steuerungsfähigkeit infrage gestellt wird. Der Grundgesetzgeber hat nahe liegend und zumal vor den Erfahrungen des verheerenden Zweiten Weltkriegs an die Vergesellschaftung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln gedacht. Auf Grund der Entwicklung der letzten Jahrzehnte haben sicher Naturschätze in Deutschland, so vor allem die Kohle, an Bedeutung verloren, andere hingegen deutlich gewonnen, so z. B. Wasser und andere Infrastrukturleistungen. Hinter Art. 15 GG könnten also Subsidiaritätsprinzip und Daseinsvorsorge stehen und Bindungen des Staates dahingehend erzeugen, dass er nicht schlicht durch Änderung der Verfassung oder von Gesetzen seinen Aufgaben- und Zuständigkeitsbereich beliebig definieren darf, wenn seine Politik- und Steuerungsfähigkeit verloren geht. Auf Grund dieses Befundes kann das Subsidiaritätsprinzip nur noch als Hilfsgröße bei der Bewältigung des Problems, was Staat, Kommunen und Private sollten tun dürfen, dienen. Es bedarf deshalb weiterer Orientierungspunkte, die verlässliche Schlüsse und tragfähige Ergebnisse im Gesamtzusammenhang erwarten lassen können.

II. Das Menschen­bild des Grund­ge­setzes

1. Es gilt vor dem aufgezeigten Hintergrund zunächst, das Menschenbild zu ermitteln, das unser Grundgesetz – man muss zunehmend betonen: unser aller Grundgesetz – in der Konturierung durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entfaltet. Schon in einer sehr frühen Entscheidung[8] hat das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen, dass das Grundgesetz eine wertgebundene Ordnung aufgerichtet hat, die die öffentliche Gewalt begrenzt. Durch diese Ordnung soll die Eigenständigkeit, die Selbstverantwortlichkeit und die Würde des Menschen in der staatlichen Gemeinschaft gesichert werden[9]. Dieser Ausgangsentwurf eines Menschenbildes entsprechend dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wird wenig später in einem sehr bedeutenden Urteil[10] um einen weiteren, für unseren Zusammenhang sehr wichtigen, Aspekt erweitert. Es sieht in der objektiven Wertordnung, die das Grundgesetz in seinem Grundrechtsabschnitt aufgerichtet hat, ein Wertesystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, dies müsse als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten[11]

Gleichwohl wäre es zu kurz gegriffen, wenn man von diesem Gesichtspunkt des Sozialen sofort auf Leistungsansprüche des Einzelnen gegen den Staat schließen würde. In einer seiner ersten Entscheidungen[12] hat das Bundesverfassungsgericht vor dem damaligen zeitgeschichtlichen Hintergrund klargestellt, dass das Gebot des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, nicht den Schutz vor materieller Not meint. Auch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG räume dem Einzelnen kein Grundrecht auf angemessene Versorgung durch den Staat ein[13]. Allerdings stellt das Bundesverfassungsgericht schon damals eine direkte Verbindung zum Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG her. Es betont, mit seiner Ausgangsüberlegung sei nicht gesagt, dass der Einzelne überhaupt kein verfassungsmäßiges Recht auf Fürsorge habe[14]. Das Bekenntnis zum Sozialstaat könne bei der Auslegung des Grundgesetzes wie bei der Auslegung anderer Gesetze von entscheidender Bedeutung sein. Das Wesentliche zur Verwirklichung des Sozialstaates könne aber nur der Gesetzgeber tun. Er sei verfassungsrechtlich zu sozialer Aktivität, vor allem dazu verpflichtet, sich um einen erträglichen Ausgleich der widerstreitenden Interessen und um die Herstellung erträglicher Lebensbedingungen für Alle zu bemühen[15].

In späterer Zeit erfährt die Konturierung eines Leistungsanspruchs des Einzelnen gegen den Staat Erweiterungen. Je stärker der moderne Staat sich der sozialen Sicherung und kulturellen Förderung der Bürger zuwendet, desto mehr tritt im Verhältnis zwischen Bürger und Staat neben das ursprüngliche Postulat grundrechtlicher Freiheitssicherung vor dem Staat die komplementäre Forderung nach grundrechtlicher Verbürgung der Teilhabe an staatlichen Leistungen[16].

Für die Gestaltung der Wirtschaftsordnung im Besonderen zieht das Bundesverfassungsgericht folgenden Schluss[17]: Das Grundgesetz sei wirtschaftspolitisch neutral. Der Gesetzgeber dürfe jede ihm sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik verfolgen, sofern er dabei das Grundgesetz, vor allem die Grundrechte beachte. Ihm komme also eine weit gehende Gestaltungsfreiheit zu. … Allerdings dürfe die Berücksichtigung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers nicht zu einer Verkürzung dessen führen, was die Verfassung in allem Wandel unverändert gewährleisten will, namentlich nicht zu einer Verkürzung der in den einzelnen Grundrechten garantierten individuellen Freiheiten, ohne die nach der Konzeption des Grundgesetzes ein Leben in menschlicher Würde nicht möglich ist. Die Aufgabe bestehe infolgedessen darin, die grundsätzliche Freiheit wirtschafts- und sozialpolitischer Gestaltung, die dem Gesetzgeber gewahrt bleiben müsse, mit dem Freiheitsschutz zu vereinen, auf den der Einzelne gerade auch dem Gesetzgeber gegenüber einen verfassungsrechtlichen Anspruch habe[18].

Diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts konturiert das Menschenbild des Grundgesetzes dahin, dass der Einzelne ein eigenständiges, selbst verantwortliches Individuum ist, dessen Position gegenüber der staatlichen Gewalt durch die Grundrechte näher ausgestaltet ist. Die Grundrechte bilden zum einen eine objektive Wertordnung, lösen damit aber nicht die Individualrechtsposition des Einzelnen ab, sondern verstärken diese im Zusammenhang der Menschen untereinander und gegenüber dem Staat. Zunehmend gewinnt in der Entwicklung der Anspruchs- oder Teilhabeaspekt an Gewicht und schließlich ergeben sich Verpflichtungen für die Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist die Verbindung zwischen den Grundrechten, vor allem der Menschenwürde des Art. 1 GG und der Handlungsfreiheit des Art. 2 GG, mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG. Wir können daraus den nahe liegenden Schluss ziehen, dass nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland der Einzelne zwar eigenständig und selbstverantwortlich ist, der Staat aber ihn sich nicht selbst überlassen darf. Vielmehr ist dieser gehalten, verlässliche und gemeinverträgliche Grundlagen sicherzustellen, damit eine friedliche Gesamtordnung und die Interessen aller Menschen innerhalb dieser staatlichen Gesellschaft angemessen berücksichtigenden Rahmenbedingungen geschaffen und fortwährend aufrechterhalten werden. Keinesfalls darf die staatliche und wirtschaftliche Ordnung so gestaltet werden, dass die Gesellschaft auseinander bricht und nur ein Teil noch gleichsam auf der Sonnenseite des Lebens steht.

2. Dabei ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht stehen geblieben. Für den Bereich der Daseinsvorsorge im Besonderen, zu dem auch die Sozialsicherungssysteme zu rechnen sind, hat das Bundesverfassungsgericht die Menschenwürde unmittelbar in den Mittelpunkt seiner Betrachtung gestellt. So hat es in BVerfGE 66, 248 (258) befunden, dass etwa die Energieversorgung zum Bereich der Daseinsvorsorge gehört. Sie sei eine Leistung, deren der Bürger zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz unumgänglich bedürfe. Schon in einer früheren Entscheidung[19] hat das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen, dass eine Entwicklung besteht, in deren Verlauf die öffentliche Hand in wachsendem Umfang im Bereich der Daseinsvorsorge Aufgaben übernimmt, die unmittelbar oder mittelbar der persönlichen Lebensbewältigung des einzelnen Bürgers dienen[20] .

In einer für unseren Zusammenhang bemerkenswerten Stellungnahme innerhalb des KPD-Urteils[21] hat das Bundesverfassungsgericht zum Sozialstaat unter anderem dargelegt, dass die Tendenz der Ordnung und die in ihr angelegte Möglichkeit der freien Auseinandersetzung zwischen allen realen und geistigen Kräften in Richtung auf Ausgleich und Schonung der Interessen aller wirke. Das Gesamtwohl werde eben nicht von vornherein gleichgesetzt mit den Interessen oder Wünschen einer bestimmten Klasse; annähernd gleichmäßige Förderung des Wohles aller Bürger und annähernd gleichmäßige Verteilung der Lasten werde grundsätzlich erstrebt. Es bestehe das Ideal der „sozialen Demokratie in den Formen des Rechtsstaates“. Die staatliche Ordnung der freiheitlichen Demokratie müsse demgemäss systematisch auf die Aufgabe der Anpassung und Verbesserung und des sozialen Kompromisses angelegt sein; sie müsse vor allem Missbräuche der Macht hemmen. In einer späteren Entscheidung[22] hat das Bundesverfassungsgericht schließlich für das Sozialstaatsprinzip noch darauf hingewiesen, dass es staatliche Vor- und Fürsorge für Einzelne oder für Gruppen der Gesellschaft verlange, die auf Grund persönlicher Lebensumstände oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert seien. Die staatliche Gemeinschaft müsse ihnen jedenfalls die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein sichern und sich darüber hinaus bemühen, sie – soweit möglich – in die Gesellschaft einzugliedern, ihre angemessene Betreuung zu fördern sowie die notwendigen Pflegeeinrichtungen zu schaffen[23].

An dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist bemerkenswert, dass trotz der Weite des dem Gesetzgeber zur Verfügung stehenden Gestaltungsspielraums im Bereich des Sozialstaatsprinzips des Grundgesetzes doch in mannigfacher Hinsicht prägnante Konturen bestehen. Es handelt sich zum einen um den Bereich der Daseinsvorsorge, also wichtiger Infrastrukturbereiche für die Sicherung eines menschenwürdigen Daseins. Hierzu sind Einrichtungen, derer der Mensch zur Verwirklichung seiner Person und Individualität bedarf und die er nicht selbst zur Verfügung stellen kann, wie Elektrizität, Wasserversorgung, Telefon, Bahn und Post, zu rechnen. Zum anderen gibt es Bereiche, in denen in der Gesellschaft Schwache nicht die gleichen Voraussetzungen und die gleichen Chancen für die persönliche Entfaltung wie die überwiegende Mehrheit der Menschen in unserem Staate haben. Hier muss der Staat nach dem Sozialstaatsprinzip tätig werden. Für ihn besteht die Pflicht, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen[24] . Diese Rechtsprechung wird bis heute aufrechterhalten[25] .

3. Allerdings drängt sich die Frage auf, ob die umfangreichen Privatisierungsmaßnahmen von staatlicher Seite nicht all das infrage stellen, was das Bundesverfassungsgericht in den vorhergehend vorgestellten Entscheidungen im Hinblick auf das Menschenbild des Grundgesetzes und das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG fordert. Auch wenn der Staat nicht alles im Einzelnen durch eigene Maßnahmen und Regelungen gewährleisten kann, so muss er doch stabile Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen. Es widerspricht dem Sozialstaatsprinzip, wenn er fortwährend Maßnahmen trifft, die die wirtschaftliche und politische Grundlage für verantwortliches Handeln der ihm anvertrauten Menschen und des Staates selbst in Ausführung des Sozialstaatsgebots infrage zu stellen vermögen. Insoweit ist auch der fortschreitende europäische Integrationsprozess kritisch in den Blick zu nehmen und es muss gefragt werden, ob dadurch nicht das verantwortliche Handeln der staatlichen Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland in Beobachtung des Sozialstaatsgebots nachhaltig infrage gestellt wird[26] . Wie wichtig das Grundgesetz und zuvor der verfassunggebende Gesetzgeber das Sozialstaatsprinzip nehmen, wird an seiner Absicherung gegen eine verfassungsändernde Gesetzgebung über Art. 79 Abs. 3 GG deutlich unterstrichen[27].

III. Staat, Werte­ord­nung und Gesell­schaft

Die vorigen Überlegungen geben Anlass, noch weitere Zusammenhänge in den Blick zu nehmen. Es ist insoweit sicher nicht ganz fern liegend, den Blick zurück zu lenken und den Staat vor etwa 1.000 Jahren und die ihn tragende Gesellschaftsordnung zu betrachten[28].

1. Die Rechtsordnung und die bestehende Werteordnung waren damals deckungsgleich. Es bestand ein sorgsam verwobenes Beziehungsgeflecht zwischen Rechtsordnung, Werteordnung sowie Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Es ist der Mühe wert, sich in diesem von mir so bezeichneten magischen Dreieck näher umzuschauen. Es bestand über Jahrhunderte im Innern ein Gleichgewicht und die Beziehungen waren friedlich. Hungersnöte und Seuchen wie auch von außen herangetretene kriegerische Auseinandersetzungen waren nicht geeignet, dieses magische Dreieck im Kern zu erschüttern. Die Angriffe und möglichen Belastungen kamen – sieht man von den jeder menschlichen Existenz immanenten Irrtümern, die es zweifelsohne auch im Mittelalter gab, einmal ab – nicht von innen, das heißt, aus einem Glied dieses magischen Dreiecks heraus, sondern wurden von außen an dieses herangetragen.

Nicht von ungefähr treten nach unserer Beobachtung die ersten und ganz nachhaltigen Verwerfungen in Deutschland in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts auf. Was war geschehen? Die Entdeckung der Neuen Welt durch Christopher Columbus im Jahre 1492 hatte binnen weniger Jahrzehnte schon zu einer Globalisierung der Wirtschaft beigetragen[29]. Die Ausdehnung der damals bekannten und durch die damals zur Verfügung stehenden Verkehrsmittel während eines normalen Menschenlebens stetig zu erreichenden weiteren Welt hatte erhebliche wirtschaftliche Folgen, ohne dass dem angemessen Rechnung getragen wurde. Die Gesellschaft wurde destabilisiert, gespalten dadurch, dass sich ein Teil durch den Welthandel gleichsam aus der Allgemeinverantwortung und dem magischen Dreieck verabschiedete. Jener Welthandel hatte auch eine andere Dimension als die bis dahin bekannten Karawanen auf der Seidenstraße, der Gewürzhandel und dergleichen mehr[30]. Nur so ist auch verständlich, dass Weltimperien entstehen konnten (Fugger, Welser für Deutschland), die die Herrschenden finanzierten und damit mittelbar beherrschten.

Schon damals wurden die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Herrschenden jedenfalls durch wirtschaftlich Mächtige eingeengt. Darunter hat auch die Werteordnung gelitten, weil das Recht, vor allem das Verfassungsrecht, nicht mehr durch die Werteordnung, sondern durch die von wenigen vertretene Wirtschaftsmacht zwangsläufig gespeist und auf diesem Wege definiert wurde. Die Herrschenden waren insoweit Gefangene.

2. Ich erlaube mir einen Sprung durch die Geschichte, lasse die Bauernkriege und auch andere Auseinandersetzungen einmal außer Betracht und nehme das magische Dreieck für das 19. Jahrhundert wieder in den Blick. Es ist der Beginn der Technisierung und Industrialisierung in Teilen der Welt, so auch in Deutschland. Diese Entwicklung in der Wirtschaft hat eine Umgestaltung der Gesellschaft zur Voraussetzung, aber auch zur zwangsläufigen Folge. Der vormals sehr kleinräumig orientierte Mensch – flankiert durch staatliche Reglementierungen wie Bürgerrecht, kein freies Zuzugsrecht, Zunftrecht und dergleichen mehr – wird in Teilen entwurzelt, weil Teile der bisher bestehenden Wirtschaftsordnung nicht mehr zu überleben und den Menschen nicht mehr genügend Arbeit und gesicherte Existenz zu vermitteln vermögen. Es kommt zwangsläufig zu Binnenwanderungen, Migration im Land, aber auch zu Auswanderungen in großem Umfang. Es entstehen Ballungszentren sowie die Probleme von ungeordneter Ansiedlung und eines industriellen Proletariats. Das vor allem dann, wenn Menschen, die sich nicht auf legale und rechtmäßige Weise ihre Existenz durch eigenes Einkommen sichern können, instrumentalisiert, austauschbar gemacht und zu den vom Markt eröffneten Niedrigstlöhnen beschäftigt werden.

Wir betrachten vor diesem Hintergrund das magische Dreieck. Die Rechtsordnung steht noch. Sie ist gesetztes oder durch Herkommen noch weit überwiegend anerkanntes Recht. Richtet man den Blick auf die Werteordnung, so können wir da schon nicht mehr so sicher sein; denn die Werteordnung kann wegen ihrer Freiwilligkeit nur dann leben und fortbestehen, wenn sie von vielen, im Idealfall von allen in einem staatlichen Verbund lebenden Menschen bejaht wird. Ein solches Verhalten können wir nicht voraussetzen, wenn der dritte Eckpfeiler – die Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung – des magischen Dreiecks brüchig wird oder gar nicht mehr besteht. Das heißt, das ganze magische Dreieck wird gestört, zivilrechtlich gesprochen: die Geschäftsgrundlage ist nicht mehr gewährleistet, sondern sie ist morsch.

Die christlich-jüdische abendländische Tradition war während vieler Jahrhunderte Garant dafür, dass dieses magische Dreieck im Gleichgewicht war. Das hatte nichts mit Gleichmacherei und klassenloser Gesellschaft zu tun. Allerdings war letztlich die Grundlage, auch wenn sie immer wieder verfehlt wurde, eine Werteordnung, die allen in der Gesellschaft lebenden Menschen jedenfalls ein auch im Vergleich zu den finanziell und wirtschaftlich Wohlhabenderen (noch) erträgliches Leben ermöglichte. Der soziale Frieden war gewährleistet und die Rechtsordnung konnte sich an der Werteordnung in vollem Umfang orientieren.

Man muss bei der Betrachtung dieser historischen Gegebenheiten allerdings auch sehen und deshalb bei weiter gehenden Überlegungen für die Gegenwart und Zukunft mit zu Grunde legen, dass zum Zeitpunkt der statischen Verhältnisse vor Entdeckung der Neuen Welt und einer damit einhergehenden Globalisierung der Wirtschaft nicht nur die Menschen, sondern auch deren Beziehungen im weit überwiegenden Umfang kleinräumig orientiert waren. Dementsprechend war das von mir gebildete magische Dreieck übereinstimmend mit dem Bewusstsein jedenfalls des weit überwiegenden Teils der Bevölkerung. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass nicht die Werte- oder die jeweilige Rechtsordnung die wirtschaftlichen Abläufe gestalten und damit auch die Gesellschaftsordnung wiederum konturieren, sondern dass regelmäßig neue wirtschaftliche Entwicklungen die Initialzündung für eine Veränderung der Werte- und Rechtsordnung auslösen.

Es wäre aber verhängnisvoll, wenn sich die Werteordnung allein an den wirtschaftlichen Veränderungen und der von zwangsläufig egoistischen Interessen beeinflussten gesellschaftlichen Entwicklung orientieren und sich damit gleichsam selbst relativieren würde. Dann würden schon zwei Eckpfeiler des magischen Dreiecks ins Wanken geraten. Es müsste dann die Frage gestellt werden, ob die Rechtsordnung eine solche Fehlentwicklung wieder ins Lot bringen könnte. Auf europäischer Ebene könnten mangels einer allgemein anerkannten Werteordnung die Grundrechte eine geeignete Voraussetzung dafür bilden, einer allgemein akzeptierten Werteordnung den Weg zu bereiten. Allerdings steht dem die Überhöhung des Wettbewerbsgedankens entgegen. Aufgrund der skizzierten wirtschaftlichen Einflüsse und des Prozesses der europäischen Integration sowie nicht zuletzt der Globalisierung der Wirtschaft insgesamt besteht mehr denn je die latente Gefahr der Auflösung des magischen Dreiecks. Hier kann allein eine Rechtsordnung dazu führen, dass ein solches magisches Dreieck in einer pluralistischen, supranationalen und letztlich weltweiten Staatenordnung durchgesetzt wird. Es ist die Aufgabe einer jeden Rechtsordnung, unabhängig von der jeweiligen Ebene – national, supranational oder weltweit gleichsam als Weltstaat – eine Werteordnung vorzuformen, die von den Menschen bejaht und verinnerlicht und damit gelebt werden kann. Das magische Dreieck verdeutlicht, dass ein Staatswesen und die dieses tragende Gesellschaft unfähig bleiben, wenn sich dieses magische Dreieck nicht im Gleichgewicht befindet.

3. Gegenwärtig stehen wir vor folgender Ausgangslage: Deutschland befindet sich in einem europäischen Integrationsprozess, der nicht nur eine beträchtliche, sondern eine geradezu unheimliche Dynamik aufweist. Die staatliche Souveränität ist in großen Bereichen verloren gegangen. Damit geht für die Menschen die Notwendigkeit einher, sich neu zu orientieren. Woran aber sollen sie sich orientieren? Deutschland ist wie jeder andere Mitgliedsstaat der Europäischen Union Teil eines unübersichtlichen Integrationsprozesses, der für einen normalen Menschen nicht mehr zu begreifen, geschweige denn für seine eigene Existenz zu fassen ist. Welche Werteordnung gilt jetzt? Es herrscht Orientierungslosigkeit, wenn man etwa an Gentechnologie, Sterbehilfe und überhaupt an menschliche Werte denkt. Die großen christlichen Kirchen wie auch sonst alle Werte, die nicht materiell gefasst werden können, werden zurückgedrängt. Sie müssen verschwinden; denn auf der europäischen Ebene herrscht trotz Grundrechtecharta und anderer hehrer Erklärungen der reine Wettbewerb. Die historisch überlieferte Werteordnung des christlich-jüdischen Abendlandes wird durch ein Denken ausschließlich in wirtschaftlichen Kategorien ersetzt. Es droht eine Funktionselite heranzuwachsen, die von allem den Preis, aber von nichts den Wert kennt. Dabei verkenne ich nicht, dass auch die Überhöhung des Wettbewerbsgedankens als eine Werteordnung begriffen werden kann, aber müssen wir vor dem Hintergrund des magischen Dreiecks nicht darüber nachdenken, ob hier nicht die Maßstäbe aus den Fugen geraten sind und vor allem der Mensch in seiner Würde und Individualität negiert wird?

Beim europäischen Integrationsprozess stimmt das magische Dreieck nicht mehr und es befindet sich nicht mehr im Gleichgewicht, weil ein notwendiger Partner nicht bereit ist, diese Entwicklung mitzutragen und mitzuspielen. Die Wirtschaft im Allgemeinen und die Großunternehmen im Besonderen haben sich aus der Allgemeinverantwortung verabschiedet. Sie fragen nicht nach dem magischen Dreieck im eigenen Lande und auch nicht nach dem magischen Dreieck in der fortschreitenden europäischen Integration. Sie fragen nur nach sich selbst und übersehen, dass sie ohne die beiden anderen Eckpunkte dieses magischen Dreiecks mittel- und längerfristig auch nicht bestehen können. Sie stellen sich dadurch selbst in Frage, weil sie die bestehenden Zusammenhänge negieren.

4. Mit der schrankenlosen Öffnung zum Wettbewerb und der Zerschlagung vieler die Gesellschaft und die Werteordnung stabilisierender Strukturen auf nationaler Ebene (Betriebe der Daseinsvorsorge, öffentlich-rechtliche Versicherungen für Elementarschäden, öffentlich-rechtliche Krankenversorgung, Gewährträgerhaftung für Banken und vieles andere mehr) haben sich die Bundesrepublik Deutschland und die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht nur einem Wettbewerb geöffnet, sondern im Gegenteil, sie haben sich anonymen, nicht demokratisch legitimierten und rechtsstaatlich nicht zu kontrollierenden Einflüssen ausgeliefert. Das hat für das magische Dreieck die unmittelbare Folge, dass ein wesentliches Standbein innerhalb der Dreieckpfeiler weggebrochen ist. Die in Europa politisch Verantwortlichen haben übersehen, dass sie mit dem Integrationsprozess und der schrankenlosen Öffnung zum Wettbewerb das magische Dreieck, das die Grundlage für eine friedvolle und vor allem den Menschen angemessene Gesellschafts- und Staatsform gewährleistet hat, infrage stellen. Auf der Weltbühne entspricht dem magischen Dreieck nichts.

Weltweit operierende Rating-Agenturen, von vielen unkritisch bewundert, weltweit aufgestellte Industriekonzerne und auch Banken bestimmen die Güte eines Staatswesens. Niemand fragt mehr nach der demokratischen Legitimation und vor allem nicht danach, welche Kräfte und wer hinter solchen weltweit agierenden Meinungsbildnern stehen. Die Staaten stellen sich selbst infrage und werden letztlich erpressbar.

Hierzu nur einige Schlagzeilen aus jüngster Vergangenheit: Stromkonzerne suchen die Konfrontation – Unternehmen drohen mit Investitionsstopp, sollte die Bundesregierung gegen steigende Preise vorgehen[31]; die Riesen schlagen zu – beispiellose Machtspiele in Europa[32]; EU will Energie verbilligen – Deutsche Konzerne sollen Kontrolle über Netze verlieren[33]; Große Versorgungslücken im Stromnetz[34]; Fluglotsen drohen mit Streik-Chaos[35]. Die Auseinandersetzungen bei der Deutschen Bahn AG im Zusammenhang mit den Tarifverhandlungen lasse ich hier einmal außer Betracht. Zu den möglichen Folgen für die Stabilität des Staates habe ich in den vergangenen Jahren schon oft und vergeblich Stellung genommen.

C. Antwort und Ausblick

I. Es ist unumgänglich, dass bereits getätigte Privatisierungen im Bereich der Daseinsvorsorge rückgängig gemacht und bevorstehende wie der Börsengang der Deutschen Bahn AG unterbunden werden. Insofern ist es auch unumgänglich, den Integrationsprozess auf europäischer Ebene zu überdenken und ebenfalls für unseren Bereich restriktiv anzupassen. Die derzeitige Vertragslage bietet hierzu eine günstige Gelegenheit.

1. Es ist nicht zu übersehen, dass die jetzt schon erreichte Entwicklung dazu geführt hat, dass der Staat seine Macht zur Selbstdefinition und seine Gestaltungsmöglichkeiten in großem Umfang verloren hat. Die Bundesregierung tut sich schwer, sich gegen die Forderungen einiger weniger Wirtschaftsführer zu behaupten, in Jahrzehnten errungene soziale, vor allem arbeitsrechtliche, Gewährleistungen aufrechtzuerhalten. Mit der Privatisierung von Betrieben der Daseinsvorsorge und anderen Unternehmen ist eine bemerkenswerte Entwicklung eingetreten. Zunächst macht es keinen Sinn und ist für eine Legitimation der getätigten Maßnahmen von vornherein ausgeschlossen, wenn staatliche Monopole durch private Monopole ersetzt werden, an deren Stelle mit äquivalenter Wirkung auch Kartelle treten können. Es geht darum, dass öffentliche Aufgaben auf den Staat und die seiner umfassenden staatlichen Gewalt sowie Fürsorge anvertrauten Menschen ausgerichtet sind. Damit vertragen sich betriebswirtschaftliche Denkweisen von vornherein nicht. Darüber hinaus wird die staatliche Souveränität infrage gestellt. Der Staat hat keine Möglichkeit der Selbstdefinition mehr und so wird der demokratische Rechtsstaat dergestalt gefährdet, dass er fremddefiniert wird. Insofern erfahren die Grundrechte in ihrer institutionellen Ausprägung eine Gefährdung, nicht nur in ihrem subjektiven Gehalt. Als ich am 20. September 2005 in Hannover auf Einladung von Ver.di einen Vortrag zu dem Thema „Privatisierung öffentlicher Aufgaben“ gehalten habe, wurde die Bundesregierung nur wenige Tage später mit dem Forderungskatalog einer Rating-Agentur konfrontiert: „Wenn sie die aufgelisteten Punkte nicht erfülle, werde die Bundesrepublik Deutschland abgestuft.“ Wer regiert Deutschland und wer bestimmt die Richtlinien der Politik?

Zugleich entzieht der Staat durch die Privatisierung in dem hier gegebenen Umfang wenigstens einer, wenn nicht zwei Millionen Arbeitsverhältnissen ihre rechtsstaatlich gesicherte Grundlage. Das häufig ins Feld geführte Kostensenkungsargument ist unseriös. Viele Kostenvorteile nach Privatisierung können nur dadurch erzielt werden, dass gegen gesetzliche Bestimmungen und Anstandsregeln verstoßen wird. Ohne die Privatisierung in dem hier gegebenen Umfang gäbe es keine Diskussion über Mindestlöhne, Mini-Jobs, wuchernde Schattenwirtschaft und wenig fundierte Forderungen nach Mobilität. Es ist schlicht so, dass durch diese und andere Maßnahmen der Mensch instrumentalisiert, austauschbar und auf diese Weise letztlich zum Objekt degradiert wird.

2. Es ist deshalb unumgänglich, dass der Staat in allen Kernbereichen der Daseinsvorsorge selbst bestimmend tätig wird. Hierzu ist er nach dem Menschenbild des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip verpflichtet. Darüber hinaus haben die Überlegungen zur Werte-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung gezeigt, dass der demokratische Rechtsstaat in seinem eigentlichen und substanziellen Sinn nur aufrechterhalten werden kann, wenn der Staat selbst die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte maßgeblich lenken kann und nicht in Abhängigkeit von ihnen gerät. Das ist bisher schon der Fall, wenn man allein an den Einfluss der privaten Wirtschaftsunternehmen in den Bereichen der Daseinsvorsorge wie Elektrizität, Müllabfuhr und Transportleistungen denkt, ebenso wie Bau von Verkehrswegen. Werden Mautstrecken eingerichtet, ist überhaupt nicht zu erkennen, warum der Staat nicht selbst sich so finanzieren kann.

Denkt man an die Versorgungssicherheit und vor allem auch an den Einfluss anonymer Investoren und Fonds, ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Infrastruktur des Staates schwer gestört und die Politikfähigkeit infrage gestellt werden kann. Man braucht sich nur vorzustellen, dass etwa nach einem Börsengang der Deutschen Bahn AG die Unternehmensleitung den Bediensteten ein oder zwei Wochen Sonderurlaub gibt, weil diese so gut gearbeitet haben.

Regulierungsbehörden vermögen hier nichts auszurichten, was die Vergangenheit hinreichend bestätigt hat. Die Störfälle in Atomkraftwerken werden dadurch verharmlost, dass sie auf menschliches Versagen, gegen das man nie gefeit sei, zurückgeführt werden. Vernachlässigung notwendiger Unterhaltungsmaßnahmen bis hin zum Ausschlachten von Unternehmen (britische Eisenbahn, Blackout bei der Londoner U-Bahn, großflächige Blackouts im Stromnetz der Vereinigten Staaten) reichen offenbar nicht, hier Sensibilität zu wecken. Das Widersinnige vieler Privatisierungsmaßnahmen wird schon nicht mehr gesehen: Bewachung von Einrichtungen der Bundeswehr durch private Sicherungsdienste, ebenso wie die Bewachung des Amtsgebäudes der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe. Der systematische Widerspruch zwischen Privatisierung der Überwachung des Luftraums und Luftsicherheitsgesetz wird übersehen. Warum stört sich hieran kaum mehr jemand?

II. Es bedarf mit Rücksicht auf die geringe Sensibilität und eine nahezu geschlossene veröffentlichte Meinung einschließlich der Einflüsse von der Gemeinschaftsebene her einer neuen Form der Regulierung, die alle meine Bedenken einzufangen vermag und für die von der Reprivatisierung Betroffenen am schonendsten wirkt. Alle Betriebe der Daseinsvorsorge einschließlich der Straßen nebst ihrer Unterhaltung und ihrem Neubau auf Bund-, Länder-und Kommunalebene wie auch weitere für eine Privatisierung vorgesehenen Einrichtungen und Objekte (Bäder, öffentliche Gebäude und dergleichen) sind in Fonds einzubringen. An diesen werden zu gesetzlich und für immer garantierten Erträgnissen Anteilsscheine ausgegeben. Die Fonds verbleiben deshalb mit der Substanz und dem bestimmenden Stimmrecht in öffentlicher Hand. Auf diese Weise ist nicht nur die Gestaltungsfähigkeit des Staates und aller seiner Gliederungen in rechtsstaatlich demokratisch legitimierter Form gewährleistet, sondern auch sichergestellt, dass für die private Altersvorsorge (Stichwort Riesterrente) dauerhafte und werthaltige Anlageobjekte zur Verfügung stehen – und die Altersversorgung nicht zum Glücksspiel wird wie in den Vereinigten Staaten nach dem Zusammenbruch vieler Unternehmen. Zugleich würden für viele Arbeitsverhältnisse wieder die verfassungsrechtlich geforderten gesicherten Grundlagen geschaffen und auf diese Weise der Staat wiederum seiner Vorbildfunktion im Arbeits- und Ausbildungsbereich gerecht.

Die in der Themenstellung angelegte Frage ist zusammenfassend dahin zu beantworten, dass der Staat und die Kommunen all das in der Daseinsvorsorge und im übrigen staatlichen Bereich tun müssen, was die Selbstdefinition des Staates und seine Gewährleistung der Menschenwürde der ihm anvertrauten Menschen sicherstellt. Was dem zuwiderläuft ist zu unterlassen. Das wird nicht nur durch Privatisierungen im Bereich der Daseinsvorsorge, sondern in noch viel stärkerem Maße von solchen im Bereich der Eingriffstätigkeit deutlich: Wenn Gefängnisse von Privaten betrieben werden, bestimmen Rating-Agenturen und Analysten zum Beispiel den Umfang der Resozialisierung, die Größe des Haftraums und dergleichen mehr, ebenso wie den Standard für die Versorgung psychisch Kranker in entsprechenden Einrichtungen.

* Der Beitrag basiert auf einen Vortrag, der am 19. Oktober 2007 auf der Herbsttagung der Gustav Heinemann-Initiative gehalten wurde.

[1] Einzelheiten hierzu bei Broß, in der Erstausgabe des Grundgesetz-Kommentars (Hrsg. von Münch) Band 3, München 1978, Art. 87 Rn. 3

[2] Beispielhaft Art. 21 Abs. 1 Satz 1 BayGO.

[3] Beispielhaft Art. 24 Abs. 1 Nr. 2 BayGO.

[4] Einzelheiten hierzu eingehend und schon sehr früh bei Scholler/Broß, Grundzüge des Kommunalrechts in der Bundesrepublik Deutschland, Karlsruhe 1976, S. 163 ff.

[5] Einzelheiten hierzu bei Broß, Überlegungen zum gegenwärtigen Stand des Europäischen Einigungsprozesses – Probleme, Risiken und Chancen – , EuGRZ 2002, S. 574, 576.

[6] Einzelheiten hierzu bei Broß, Überlegungen zum Wettbewerb der Öffentlichen Hand, Festschrift für Piper, München 1996, S. 107 ff.; ders., Daseinsvorsorge – Wettbewerb – Gemeinschaftsrecht, JZ 2003, S. 874 ff.

[7] Das eruopäische Vergaberecht in der Daseinsvorsorge – Bilanz und Ausblick, NZBau 2004, S. 465

[8] BVerfGE 6,32 (40) – Elfes – .

[9] Hinweis auf BVerfGE 2, 1 (12 f.); 5, 85 (204 ff.).

[10] BVerfGE 7, 198 (205) -Lüth.

[11] Bestätigt etwa in BVerfGE 21, 362 (372).

[12] BVerfGE 1, 97 (104 f.).

[13] BVerfGE 1, 97 (104). #

[14] BVerfGE 1, 97 (105).

[15] BVerfGE 1, 97 (105).

[16] BVerfGE 33, 303 (330 f.); bestätigt etwa in BVerfGE 35, 79 (115).

[17] BVerfGE 50, 290 (338) -Mitbestimmung.

[18] Hinweis auf BVerfGE 7, 377 (400) -Apotheken-Urteil.

[19] BVerfGE 38, 258 (270 f.).

[20] Hierzu auch BVerfGE 45, 63 (78 f.).

[21] BVerfGE 5, 85 (198).

[22] BVerfGE 45, 376 (387).

[23] BVerfGE 44, 353 (375); 40, 121 (133); s.a. BVerfGE 28, 324 (348); 43, 13 (19).

[24] BVerfGE 59, 231 (263); s.a. BVerfGE 82, 60 (80).

[25] BVerfGE 100, 271 (284).

[26] Einzelheiten hierzu bei Broß, Überlegungen zum gegenwärtigen Stand des Europäischen Einigungsprozesses, EuGRZ 2002, 574 ff.; ders., Daseinsvorsorge – Wettbewerb – Gemeinschaftsrecht, JZ 2003, 874 ff.; ders., Grundrechte und Grundwerte in Europa, JZ 2003, 429 ff.

[27] Hierzu BVerfGE 30, 1 (24. f.); 84, 90 (121).

[28] Einzelheiten hierzu bei Broß, Werteerziehung in einer pluralistischen und mediatisierten Gesellschaft – Sicht eines Verfassungsjuristen -, Vortrag bei der Bischöflichen Akademie Mainz am 30. April 2004, nachgewiesen über die Bibliothek des Bundesverfassungsgerichts.

[29] Einflüsse durch die Entdeckung des Buchdruckes spielen nach meiner Einschätzung insofern keine ausschlaggebende Rolle.

[30] Siehe hierzu z.B. von Imhoff (Hrsg.), Berühmte Nürnberger aus neun Jahrhunderten, S. 19, 23, 27, 28, 52, 57,70.

[31] SZ Nr. 239 vom 17.10.2006, S. 1.

[32] SZ Nr. 295 vom 22.12.2006, S. 2.

[33] SZ Nr. 5 vom 8.1.2007, S. 1.

[34] SZ Nr. 256 vom 7.11.2006, S. 1.

[35] SZ Nr. 298 vom 28.12.2006, S. 21.

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