Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 182: Die Aufgabe des Staates

Krankheit als Kosten­faktor

Vom universalistischen zum liberalen Modell der Krankenversorgung,

aus: vorgänge Nr. 182, Heft 2/2008, S. 90-99

Der in den Nachkriegsjahrzehnten vollzogene Ausbau der sozialen Sicherungssysteme hat im Gesundheitswesen dazu geführt, dass nahezu die gesamte Bevölkerung einem recht umfassenden Krankenversicherungsschutz unterliegt. Das deutsche Gesundheitswesen hat in diesen Jahren, obwohl eingebettet in einem konservativen Wohlfahrtsstaat (Esping-Andersen 1990), nachgerade universalistische Züge angenommen. Allerdings hat sich die Ausrichtung der Gesundheitspolitik in Deutschland seit der Mitte der siebziger und verstärkt seit der ersten Hälfte der neunziger Jahre gravierend gewandelt. Bekanntlich ist seitdem die Kostendämpfung, insbesondere die Begrenzung der Arbeitgeberbeiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), das vordringliche Ziel der Gesundheitspolitik.

Staatliche Gesundheitspolitik versucht dies u. a. durch die Einführung neuer und die Anhebung bereits bestehender Zuzahlungen für die Patientinnen und Patienten sowie durch die Einführung von Budgets und pauschalierten Vergütungsformen für die Leistungserbringer zu erreichen. Diese Maßnahmen verfolgen das Ziel, die individuellen Handlungsrationalitäten aller Akteure bei der Erbringung und der Inanspruchnahme von gesundheitlichen Leistungen auf das Ziel der Ausgaben- und Mengenbegrenzung auszurichten. Zugleich vollzieht sich dieser Wandel in der GKV bei einer fortbestehenden Trennung des Versicherungssystems in eine gesetzliche und in eine private Krankenversicherung (PKV), zu der ausschließlich besser verdienende Arbeitnehmer, Beamte und Selbständige Zugang haben. Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie sich diese Gemengelage aus Privatisierungstendenzen und fortbestehenden Pathologien des deutschen Gesundheitswesens auf die wohlfahrtsstaatliche Absicherung des Krankheitsrisikos auswirkt.

I. Die Priva­ti­sie­rung von Krank­heits­kosten

Die fortschreitende Privatisierung von Krankheitskosten wird nicht nur aus Sicht der „politischen Klasse“ begrüßt, die sie ja in ihrer Mehrheit vorangetrieben hat, sondern stößt auch in der Wissenschaft – insbesondere in der Gesundheitsökonomie – auf mancherlei Unterstützung. Für die wissenschaftliche Begründung einer direkten Kostenbeteiligung von Patienten ist die Annahme des moral-hazard-Effekts (moralische Gefahr) von zentraler Bedeutung (Breyer et al. 2005). Dahinter verbirgt sich die Überlegung, dass den Versicherten jeder Anreiz fehle, die Inanspruchnahme von Leistungen zu begrenzen, wenn diese im Rahmen einer sozialen Pflichtversicherung unentgeltlich angeboten werden. Eher sei das Gegenteil der Fall: Da der Versicherte sich nicht für oder gegen eine Versicherung entscheiden und nicht einmal die Höhe seines Versicherungsbeitrages individuell beeinflussen könne, habe er ein Interesse, die ihm entstandenen Kosten durch eine extensive Leistungsinanspruchnahme wieder „hereinzuholen“.

Die Erhöhung von Zuzahlungen und explizite Leistungsausgliederungen sind auch in der deutschen Gesundheitspolitik ein zentrales Instrument zur Kostendämpfung und haben insbesondere seit den 1990er Jahren zu einem erheblichen Anstieg des privaten Anteils an den Krankenbehandlungskosten geführt. Im Jahr 1991 belief sich das Zuzahlungsvolumen für GKV-Leistungen auf umgerechnet 3,3Mrd.Euro -dies entsprach 4,4 Prozent der GKV-Leistungsausgaben (Pfaff et al. 1994); ein gutes Jahrzehnt später, im Jahr 2002, waren es mit nunmehr 9,8 Mrd. Euro bereits 7,3 Prozent der Leistungsausgaben. Mit dem 2004 in Kraft getretenen GKV-Modernisierungsgesetz, das die kräftige Anhebung bestehender und die Einführung neuer Zuzahlungen vorsah, dürfte sich diese Summe noch einmal deutlich erhöht haben (Pfaff et al. 2003). Allein die Zuzahlungen zu Arzneimitteln sind zwischen 2003 und 2005 von 1,77 auf knapp 2,25 Mrd. Euro, also um 27,1 Prozent, gestiegen (Nink/Schröder 2006: 218). In der Gesamtsumme der Zuzahlungen sind noch nicht die ausgegliederten sowie der vermutlich beachtliche Umfang von informell verweigerten Leistungen (siehe hierzu Abschnitt 3) eingerechnet, die Versicherte in vollem Umfang privat finanzieren müssen.

Aus der Diskussion über die Steuerungswirkung von Zuzahlungen ist bekannt, dass sie erst dann eine Reduzierung der Leistungsinanspruchnahme erzeugen, wenn sie auch finanziell deutlich spürbar sind (z.B. Rice 2004). Da die Spürbarkeit von Kosten mit sinkendem Einkommen steigt, treffen Zuzahlungen in erster Linie sozial schwache Bevölkerungsgruppen. Die beabsichtigte Steuerungswirkung steht also im Widerspruch zur Sozialverträglichkeit dieses Instruments. Dieser Effekt wird noch durch den Umstand verstärkt, dass das Krankheitsrisiko und damit der Behandlungsbedarf bei Angehörigen unterer Sozialschichten deutlich über dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung liegen. Sozial Schwache werden auf diese Weise gleichsam doppelt bestraft. Die das Solidarprinzip kennzeichnenden Umverteilungsmechanismen erfahren eine deutliche Schwächung. Dieser Mechanismus lässt sich auch recht gut am Beispiel der Praxisgebühr von 10 Euro je Quartal zeigen, die zum 1.1.2004 eingeführt wurde. Aussagekräftige Daten über die Auswirkungen der Praxisgebühr auf die Inanspruchnahme durch die Versicherten sind zwei repräsentativen Befragungen zu entnehmen: dem Gesundheitsmonitor der Bertelsmann-Stiftung, der zweimal jährlich Daten bei 12.000 Versicherten und 2.000 Ärzten erhebt, und dem GKV-Monitor des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen (WidO), mit dem 3.000 GKV-Versicherten zu speziellen Themen befragt werden. Dem Gesundheitsmonitor der Bertelsmann-Stiftung zufolge ist der Anteil derjenigen, die einen Arztbesuch aufgrund der Praxisgebühr vermeiden, in den untersten Einkommensgruppen (bis 999 €) und in den obersten Einkommensgruppen (3.000 € und mehr) am höchsten. Personen mit schlechtem Gesundheitszustand haben die Zahl ihrer Arztbesuche zwischen dem Frühjahr 2003 und dem Frühjahr 2005 am stärksten reduziert, nämlich von durchschnittlich 23 auf 16 Besuche, also beinahe um ein Drittel (Gebhardt 2005).

Die nach Sozialschicht unterschiedlichen Wirkungen der Praxisgebühr sind offenkundig nicht nur ein kurzfristiger Effekt. So gaben im Herbst 2006 nur 14 Prozent der Oberschicht an, Arztbesuche auf Grund der Praxisgebühr aufgeschoben, vermieden oder zusätzlich gemacht zu haben, hingegen immerhin 22 Prozent der Unterschicht (Reiners/Schnee 2007: 150). Von den Personen mit einem Einkommen von 5000 Euro und mehr haben 21 Prozent wegen der Praxisgebühr Arztbesuche aufgeschoben und 11 Prozent sie sogar vermieden, bei denjenigen mit einem Einkommen unter 500 Euro waren es 37 bzw. 26 Prozent (Reiners/Schnee 2007: 149). Immerhin 10 Prozent derjenigen, die ihren Gesundheitszustand als schlecht bezeichneten, haben wegen der Praxisgebühr Arztbesuche aufgeschoben, vermieden oder zusätzlich gemacht (Reiners/Schnee 2007: 148). Auch der GKV-Monitor des WidO zeigte ähnliche Effekte (Zok 2005). Zwar zeigte sich in einer Wiederholungsbefragung partiell ein gewisser Rückgang des sozialen Gradienten, jedoch blieben Unterschiede in Abhängigkeit von den Einkommensverhältnissen bei der Inanspruchnahme bestehen.

Der Verzicht auf einen Arztbesuch mag in vielen Fällen keine negativen Folgen auf die Gesundheit haben, kann aber auch zur Verschleppung bzw. Chronifizierung von Krankheiten führen. Gerade bei den Patienten mit einem schlechten Gesundheitszustand ist die Gefahr groß, dass sie auch dann auf einen Arztbesuch verzichten, wenn dieser medizinisch geboten ist. Dies zeigt die bis heute umfangreichste empirische Untersuchung über die Auswirkungen einer direkten Kostenbeteiligung auf das Inanspruchnahmeverhalten von Versicherten, das RAND Health Insurance-Experiment (Newhouse 1993). Daraus geht im Übrigen auch hervor, dass die Patienten, deren Leistungsinanspruchnahme aufgrund steigender Zuzahlungen zurückgeht, nicht nur auf unwirksame, sondern gleichermaßen auf wirksame Leistungen verzichten.

Gesetzliche Sozial- und Überforderungsklauseln in der GKV begrenzen zwar in gewissem Maße die Höhe der individuellen Zuzahlungen. So beläuft sich der Höchstbetrag für Zuzahlungen auf zwei Prozent der Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt (§ 62 SGB V). Chronisch Kranke zahlen lediglich bis zu einem Prozent zu, wenn sie vor ihrer Erkrankung an angebotenen Vorsorgeuntersuchungen teilgenommen haben und sich therapiegerecht verhalten. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sind von Zuzahlungen, sieht man einmal vom Zahnersatz ab, vollständig befreit. Allerdings wurde mit dem GMG zum 1.1.2004 die zuvor geltende vollständige Zuzahlungsbefreiung für sozial Schwache aufgehoben, also für solche Personen, die eine bestimmte Bruttoeinkommensgrenze unterschreiten oder die Empfänger bestimmter staatlicher Fürsorgeleistungen waren. Zuzahlungen in Höhe von bis zu zwei Prozent stellen optisch zwar eine niedrige Schwelle dar, jedoch liegt der betreffende Anteil am frei verfügbaren Einkommen erheblich höher, erst recht dann, wenn dieses gering ausfällt. Zudem hat der Versicherte das Erreichen der Belastungsgrenze gegenüber seiner Krankenkasse durch das Einreichen der Zahlungsbelege nachzuweisen und die Zuzahlungsbefreiung zu beantragen. Auch dies stellt für viele Betroffene eine nicht zu unterschätzende Hürde dar.

Des Weiteren wird die Privatisierung von Krankheitsrisiken noch durch eine andere Entwicklung verstärkt, nämlich durch die Verbreitung so genannter „Wahltarife“ mit Selbstbehalt bzw. Beitragsrückerstattung. Bei Selbstbehalttarifen erklären sich Versicherte bereit, bis zu einem bestimmten Betrag die in einem Kalenderjahr entstehenden Behandlungskosten vollständig selbst zu tragen. Als Gegenleistung erhalten sie eine Prämie von ihrer Krankenversicherung, zumeist in Form einer Reduzierung ihres Krankenversicherungsbeitrags. Bei Beitragsrückerstattungsmodellen wird den Versicherten ein Teil ihres Krankenversicherungsbeitrags erstattet, wenn sie im vorangegangenen Jahr keine Leistungen in Anspruch genommen haben oder die Inanspruchnahme ein bestimmtes Maß nicht überschritten hat. Die Krankenkassen können seit dem 1.4.2007 derartige Modelle allen Versicherten anbieten; bisher war ihnen dies nur für freiwillig Versicherte gestattet, denen man auf diese Weise einen Anreiz zum Verbleib in der GKV geben wollte.

Die Möglichkeiten zur Inanspruchnahme von Selbstbehalttarifen und Beitragsrückerstattungsmodellen für alle GKV-Versicherten stellen einen tief greifenden Einschnitt in das Solidarprinzip dar. Mit ihnen halten Prinzipien der privaten Krankenversicherung Einzug in die GKV. Sie sind insbesondere für junge und gesunde Versicherte finanziell interessant, die davon ausgehen können, dass ihr Beitragsnachlass höher ausfällt als der tatsächlich zu zahlende Selbstbehalt. Auf diese Weise werden dem Solidarsystem Mittel entzogen, die durch die Gemeinschaft aller Versicherten einer Krankenkasse aufgebracht werden müssen. Zwar berühren diese Modelle nicht unmittelbar die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen; sehr wohl aber werden Personen mit erhöhtem Behandlungsbedarf – und damit vor allem sozial Schwache – durch sie finanziell stärker belastet, weil sie eben die Mindereinnahmen im Rahmen der Solidargemeinschaft gegen finanzieren müssen, ohne individuell von den Wahlmodellen zu profitieren. Die solidarische Umverteilung von Lasten zwischen gesunden und kranken Versicherten im GKV-System wird durch diese tarifliche Gestaltungsoption eingeschränkt und die Entsolidarisierung unter den GKV-Versicherten vorangetrieben.

II. Leistungs­ver­wei­ge­rungen

Kostendämpfungsmaßnahmen in der deutschen Gesundheitspolitik setzen nicht nur an der Nachfrageseite, sondern auch an der Angebotsseite an. In diesem Zusammenhang wurden seit der ersten Hälfte der 1990er Jahre zunehmend solche Vergütungsformen im Gesundheitswesen eingeführt, die bei den Ärzten und Krankenhäusern finanzielle Anreize zur Leistungsbegrenzung, wenn nicht Leistungsminimierung setzen. Die wichtigsten Instrumente sind Budgets und Pauschalen. Budgets definieren eine Ausgabenobergrenze (je Arzt bzw. je Krankenhaus oder auch für die jeweiligen Sektoren insgesamt) für die von den Kassen finanzierte Leistungsmenge; sie schaffen den Anreiz, die Leistungsmenge nicht über diese Grenze hinaus auszuweiten, weil weitere Leistungen nicht vergütet werden. Pauschalentgelte sind prospektiv vereinbarte Vergütungssätze für einen bestimmten Behandlungsfall; sie schaffen den Anreiz, den Aufwand je Behandlungsfall zu minimieren, weil sich der Gewinn des Leistungserbringers aus der Differenz von prospektiver Vergütung und Behandlungskosten ergibt.

Die Einführung derartiger Instrumente beruht auf der Erfahrung, dass Ärzte ohne feste Ausgabengrenzen dazu neigen, Diagnostik und Therapie unbegründet auszuweiten. Insofern gibt es zu ihnen wohl keine Alternative. Allerdings besteht das grundsätzliche Problem dieser Vergütungsformen darin, dass ihr Volumen nicht an einem zu ermittelnden gesundheitlichen Versorgungsbedarf, sondern an der Beitragssatzstabilität, also einer volkswirtschaftlichen Bestimmungsgröße ausgerichtet ist. Außerdem wirken sie gleichsam als Heckenschnitt und sind nicht mit adäquaten Instrumenten der Feinsteuerung kombiniert. Daher können sie – selbst wenn das Gesamtvolumen für eine notwendige Versorgung ausreichen mag – auch nicht gewährleisten, dass zielgenau die überflüssigen Leistungen erschlossen werden. Ebenso wenig wie Patienten mit hohen Zuzahlungen verzichten auch Ärzte, deren monetäres Interesse auf eine Mengenbegrenzung gerichtet ist, nicht nur auf solche Leistungen, die mit guten Gründen als überflüssig gelten können.

Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass der Einsatz dieser Instrumente zu Leistungsverweigerungen im Versorgungsalltag führt. So gaben bei einer Befragung von Versicherten einer großen Ersatzkasse 27,4 Prozent der antwortenden Befragten an, dass ihnen im vorausgegangenen Quartal in der ambulanten Behandlung eine Leistung vorenthalten worden sei. Bei mehr als der Hälfte von ihnen geschah dies unter ausdrücklichem Hinweis auf vorhandene Budgetgrenzen. Durch Kombination mit den Krankendaten kam der Autor zu dem Schluss, dass bei zehn Prozent dieser Vorgänge sicher davon auszugehen ist, dass die vorenthaltenen Leistungen medizinisch notwendig waren, vermutlich aber war der Anteil noch viel höher (Braun 2000). Auch andere Untersuchungen stützen diese Befunde. Dem Allensbacher Institut für Demoskopie zufolge mussten 24 Prozent der Gesamtbevölkerung bereits erleben, dass ihnen wegen überschrittener Budgets ein Medikament oder eine Behandlung verweigert wurde (Köcher 2002). Sie sind vor allem bei Arzneimittelverordnungen zu beobachten, aber auch bei von Ärzten selbst durchgeführten Behandlungen (z. B. Braun 2004). In der stationären Versorgung führten die neuen Pauschalentgelte zu einer verstärkten Ausrichtung von Ärzten und Krankenhausleitungen an ökonomischen Nutzenerwägungen. Dies äußert sich u. a. in der vorzeitigen Entlassung von Patienten, in der Weigerung, Patienten aufzunehmen, und in der Verschiebung von Operationen (Simon 2001). Es ist vor allem die Verknüpfung von ärztlichem Definitionsmonopol und Informationsasymmetrie in der Arzt-Patient-Beziehung, die es den Ärzten erleichtert, eine solche Verweigerung von Leistungen durchzusetzen.

Da diese Vergütungsformen in der ambulanten Versorgung nur für den Bereich der GKV, nicht aber für die PKV gelten, betreffen etwaige Leistungsverweigerungen auch nur gesetzlich Krankenversicherte. Insofern verstärkt die Existenz solcher Instrumente die soziale Ungleichheit zwischen beiden Gruppen in der gesundheitlichen Versorgung.

Unklar ist allerdings, ob innerhalb der GKV Personen mit geringem Einkommen stärker von derartigen Leistungsverweigerungen betroffen sind. Zwar ist die Annahme plausibel, dass im Versorgungsalltag Leistungen vor allem sozial Schwachen und Personen mit geringem Bildungsniveau vorenthalten werden, weil sie in der Regel über geringere Ressourcen verfügen, um ihr Bedürfnisse in den Institutionen des Gesundheitswesens wirkungsvoll zu artikulieren und durchzusetzen. Aber für eine Verifizierung dieser Vermutung fehlt es an validen Daten.

III. Das Neben­ein­ander von gesetz­li­cher und privater Kranken­ver­si­che­rung

Das Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung berührt in unterschiedlicher Hinsicht die Gleichheit in der medizinischen Versorgung. Erstens betrifft sie den Umfang der Leistungsgewährung. Dieser ist in der privaten Krankenversicherung zumeist großzügiger als in der gesetzlichen Krankenversicherung. Formelle Leistungsausschlüsse, aber auch informelle Leistungsverweigerungen infolge von Budgets und Pauschalvergütungen haben die Unterschiede zwischen GKV und PKV in den letzten Jahren größer werden lassen. Jedoch muss dies nicht in jedem Fall gleichbedeutend sein mit einer qualitativ schlechteren Versorgung von GKV-Patienten. Denn in der großzügigeren Leistungsgewährung für privat Krankenversicherte mögen sich auch solche Interventionen verbergen, für die keine medizinische Notwendigkeit vorliegt – zumal Ärztinnen und Ärzte aufgrund der in der PKV ungedeckelten Einzelleistungsvergütung ein großes Interesse an einer Mengenexpansion haben. Zudem ist mit Blick auf die GKV-Versicherten festzuhalten, dass das Krankenversicherungsrecht einen Anspruch auf die Versorgung mit allen medizinischen Leistungen gewährt, die nach dem Stand der medizinischen Kenntnisse für die Behandlung der jeweiligen Krankheit notwendig sein (§§ 1, 2 Abs. 1, 12 Abs. 1, 70 u. 72 SGB V). Begründete Zweifel, ob der Anspruch von GKV-Patienten auf alles medizinisch Notwendige auch im Versorgungsalltag eingelöst wird, richten sich auf zwei Aspekte:

– Zum einen lässt sich in Zweifel ziehen, ob der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), der für die Bewertung des therapeutischen Nutzens und der Wirtschaftlichkeit medizinischer Interventionen und damit für die Definition des GKV-Leistungskatalogs zuständig ist, tatsächlich immer nur solche Leistungen aus der Erstattungspflicht der Krankenkassen ausschließt, die medizinisch nicht notwendig sind. Denn die Beschlüsse des G-BA richten sich nicht allein nach dem medizinischen Wissen, das zudem in vielen Fällen so eindeutig nicht ist; vielmehr fließen in diese Entscheidungen häufig einschlägige Interessen der beteiligten Leistungsanbieter und Kostenträger sowie die existierenden Budgetzwänge ein (Urban 2003). Entscheidungen des G-BA zur Erstattungsfähigkeit von Leistungen zu Lasten der GKV sind also immer auch Ergebnis von Aushandlungsprozessen.

– Zum anderen werfen die erwähnten finanziellen Leistungsanreize für die Leistungsanbieter die Frage auf, ob nicht in manchen Fällen den Patientinnen und Patienten in der GKV auch Notwendiges vorenthalten wird, selbst wenn sie auf solche Leistungen einen Rechtsanspruch haben (s.o.).

Das Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung berührt nicht nur den Leistungsumfang für die jeweiligen Versichertengruppen, sondern auch die räumliche und zeitliche Verfügbarkeit gesundheitlicher Versorgung. Hierbei sind insbesondere die Entwicklungen in der ambulanten medizinischen Versorgung von Bedeutung, zumal auf diesem Wege in den meisten Fällen die Erstversorgung von Patientinnen und Patienten erfolgt. Bedeutsam für das Versorgungsangebot sind vor allem die Unterschiede in der ärztlichen Vergütung zwischen PKV und GKV. In der ambulanten privatärztlichen Versorgung werden die Leistungen von Ärztinnen und Ärzten mit festen Euro-Beträgen vergütet, die zudem mit einem Multiplikationsfaktor versehen werden können; in der vertragsärztlichen Versorgung unterliegt die ärztliche Vergütung hingegen restriktiven Budgets und Mengenbegrenzungsregelungen. Im Ergebnis liegen die Vergütungen für identische Leistungen in der privatärztlichen Versorgung erheblich über den Vergütungen in der vertragsärztlichen Versorgung. Dementsprechend groß ist die Bedeutung von Privatpatienten für die Einnahmen niedergelassener Ärzte. Im Jahr 2003 belief sich der durchschnittliche Anteil der Einnahmen aus privatärztlicher Tätigkeit an den gesamten Einnahmen niedergelassener Ärzte auf 22,2 Prozent (Statistisches Bundesamt 2006: 15), obwohl Privatversicherte nur gut 10 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Bei einzelnen Facharztgruppen war der entsprechende Anteil noch deutlich höher: Hautärzte erzielten aus privatärztlicher Tätigkeit 37,3 Prozent ihrer Einnahmen, Frauenärzte 34,3 Prozent und Orthopäden 33,8 Prozent (ebda.: 16ff.). Dabei ist der durchschnittliche Anteil der Einnahmen aus privatärztlicher Tätigkeit seit den siebziger Jahren erheblich gestiegen: 1979 betrug er lediglich 13,1 Prozent (Gerlinger/Deppe 1994: 41).

Ärzte reagieren auf diese Vergütungsanreize auf zweierlei Weise. Zum einen bevorzugen sie Privatpatienten bei der Vergabe von Behandlungsterminen. So ergab eine 2006 vom WidO durchgeführte repräsentative Befragung von GKV- und PKV- Versicherten, dass jeder vierte GKV-Patient (25,3 Prozent) trotz akuter Beschwerden zwei Wochen oder länger auf einen Arzttermin warten musste, unter den PKV-Patienten waren es nur 7,8 Prozent (Zok 2007: 4). 45,1 Prozent der Privatpatienten bekamen innerhalb eines Tages einen Termin, bei den Kassenpatienten traf dies nur auf 31,9 Prozent zu (ebda.). Dabei bewertete rund ein Drittel der gesetzlich versicherten Patienten die Wartezeit auf den letzten Arzttermin als zu lang (ebda.: 6). Darüber hinaus müssen Kassenpatienten auch in der Arztpraxis selbst deutliche längere Wartezeiten in Kauf nehmen als Privatpatienten, während Privatpatienten in aller Regel am Wartezimmer vorbei direkt ins Behandlungszimmer geleitet werden.

Zum anderen ist eine verstärkte Neigung von Ärzten festzustellen, sich in Versorgungsgebieten mit einem hohen Anteil von Privatpatienten niederzulassen. Dies führt zueiner Konzentration von Ärzten in städtischen Ballungsgebieten und zu einer Vernachlässigung ländlicher Räume, da der Anteil von Privatpatienten in den Städten höher ist als auf dem Land. So ergab die erwähnte WidO- Untersuchung denn auch, dass die Wartezeiten auf einen Arzttermin in städtischen Ballungszentren deutlich kürzer sind und von diesen kürzeren Wartezeiten wiederum Privatpatienten besonders profitieren. Traditionell ist die Arztdichte im ländlichen Raum ohnehin niedriger. Seit geraumer Zeit aber wachsen die Diskrepanzen zwischen Stadt und Land, und mittlerweile macht sich in einigen Regionen Ostdeutschlands bereits ein Ärztemangel, gerade in der hausärztlichen Versorgung, bemerkbar (z.B. Segert/Zierke 2005). Innerhalb der Ballungszentren selbst existiert ebenfalls ein starkes Gefälle in der Arztdichte zwischen wohlhabenden und ärmeren Stadtteilen.

Drittens hat das Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung im Zusammenwirken mit dem bisherigen Fehlen einer Versicherungspflicht für alle Bürgerinnen und Bürger zu einer wachsenden Zahl von Nichtkrankenversicherten geführt. Politische Entscheidungen zur Änderung des Krankenversicherungsrechts haben zu dieser Entwicklung beigetragen, so u.a. die Abschaffung der Versicherungspflicht für die „kleinen Selbständigen“. Die Zahl der Nichtversicherten ist, dem Mikrozensus zufolge, allein zwischen 1995 und 2003 von 105.000 auf 188.000 gestiegen. Überrepräsentierte Gruppen sind Personen mit einem Haushaltsnettoeinkommen unter 1.100 Euro monatlich, geschiedene Personen sowie Migrantinnen und Migranten (Greß et al. 2005). Angesichts der Einführung von Hartz IV gehen Wohlfahrtsverbände davon aus, dass die Zahl der Nicht-Versicherten mittlerweile auf 250.000 bis 300.000 gestiegen sein dürfte. Allerdings sollte dieses Problem mit dem Wirksamwerden der Gesundheitsreform 2007 an Brisanz verlieren, denn diese sieht spätestens mit Wirkung vom 1. Januar 2009 die Einführung einer generellen Versicherungspflicht vor. Zudem erhalten bereits im Jahr 2007 alle Nicht-Versicherten ein Rückkehrrecht in das System – also GKV oder PKV -, in dem sie zuletzt krankenversichert waren. Es ist davon auszugehen, dass sich infolgedessen die Zahl der Personen ohne Krankenversicherungsschutz deutlich verringern wird.

Von einer Mehrzahl der Versicherten erhält das Versorgungssystem insbesondere dann schlechte Noten, wenn nach der Gleichwertigkeit der Versorgung gefragt wird. Nur knapp 30 Prozent der Befragten des GKV-Monitors stimmten „eher“ oder „voll und ganz“ der Aussage zu, dass das deutsche Gesundheitssystem jedem Versicherten ein hohes Qualitätsniveau an Leistungen biete; ein ebenso großer Teil wies diese Aussage zurück, und mehr als 40 Prozent zeigten sich unsicher (Zok 2003: 25). GKV-Versicherte zeigen sich mit der Qualität der gesundheitlichen Versorgung deutlich unzufriedener als PKV-Patienten (z.B. Mielck/Helmert 2006).

V. Fazit

Die skizzierten Entwicklungstendenzen in der Gesundheitspolitik – die Privatisierung von Krankheitskosten durch erhöhte Zuzahlungen, informelle Leistungsverweigerungen in der GKV sowie das Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung bei einer wachsenden Kluft zwischen beiden Systemen – haben die sozialen und die räumlich-zeitlichen Barrieren bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen für Teile der Bevölkerung erhöht. Die Krankenbehandlungskosten sind in den vergangenen Jahren spürbar privatisiert worden – eine Entwicklung, die sich bekanntermaßen bei sozial Schwachen und chronisch Kranken finanziell in besonderer Weise bemerkbar macht. Wenn man die Entwicklung des Gesundheitswesens in den Kategorien der Esping-Andersenschen Wohlfahrtsstaatstypologie beschreiben sollte, ließe sich zugespitzt sagen: Elemente des liberalen Wohlfahrtsstaatsmodells haben im deutschen Gesundheitswesens in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Im deutschen Gesundheitssystem werden Merkmale des liberalen Modells erheblich an Bedeutung gewinnen. Die soziale Ungleichheit von Zugangschancen zur gesundheitlichen Versorgung hat sich somit verstärkt. Auch gibt es deutlich Hinweise auf eine wachsende Ungleichheit in der Versorgung von GKV-und PKV-Patienten.

Die vorliegenden Daten geben jedoch keine verlässliche Auskunft darüber, ob und in welchem Umfang auf Grund dieser gesundheitspolitischen Entwicklungstrends auch medizinisch notwendige Leistungen unterblieben sind und ein möglicher Verzicht auf notwendige Leistungen in besonderer Weise sozial Schwache und chronisch Kranke betrifft. Allerdings enthalten die vorliegenden Daten auch Hinweise darauf, dass eine solche Entwicklung eingetreten sein kann, und auch Plausibilitätsüberlegungen legen dies nahe. Die Gefahr, dass eine fortschreitende Privatisierung von Krankheitskosten nicht nur die soziale, sondern auch die gesundheitliche Ungleichheit verstärkt, ist also nicht von der Hand zu weisen.

Literatur

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