Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 182: Die Aufgabe des Staates

Editorial

aus: vorgänge Nr. 182 (Heft 2/2008), S. 1-3

Die Klage über die Schwäche des Staates ist nicht neu, doch hat sie einen eklatanten Bedeutungswandel erfahren. Anfang der siebziger Jahre, als viele ihn noch in voller Stärke wähnten, beklagte der Staatsrechtler Ernst Forsthoff bereits dessen „reduzierte politische Potenz in der Idee wie im Handeln“. Den Verlust an politischer und normativer Kraft sah er ersetzt durch ein Regime wohlfahrtsstaatlicher Daseinsvorsorge. Dieses Regime war das zentrale legitimatorische Fundament des Staates in den letzten dreißig Jahren. Dieses Regime antwortete auf eine Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft, indem es sein Aktionsfeld stetig ausweitete, die ihm dienenden politischen Institutionen und technischen Infrastrukturen wachsen ließ und die Zahl der zu seinem Zwecke Beschäftigen erhöhte. Bereits Forsthoff benannte als eine zentrale Schwäche dieses Arrangements die Abhängigkeit von gesellschaftlichen Interessensformationen, denen gegenüber der Staat nicht mehr souverän sei. Zehn Jahre nach Forsthoffs brach in Großbritannien Maggy Thatcher den zentralen Stein aus diesem Konzept des Wohlfahrtsstaates heraus, indem sie die Existenz einer Gesellschaft einfach in Abrede stellte und das staatliche Handeln aufs Kerngeschäft zurückführte. Die Reduktion sozialer Angebote ging einher mit einer umfassenden Privatisierung staatlicher Dienstleistungen und einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik. In der Folge führten eine steigende staatliche Verschuldung und Fehlallokationen im Sozialsystem auch in Deutschland zu einer Auseinandersetzung darüber, was eigentlich die Aufgabe des Staates sei.

Die Antwort der späten neunziger Jahre war der schlanke Staat, der versuchte, der Thatcherschen Linie zu folgen, dafür aber nicht die notwendigen gesellschaftlichen Mehrheiten organisieren konnte. Der aktivierende Staat der Ära Gerhard Schröder antwortete auf die strukturellen Mängel des Sozialstaates, indem er Versorgungsleistungen des Staates reduzierte und an Eigenleistungen der Betroffenen rückkoppelte und die Privatisierungspolitik der Vorgängerregierung fortführte. Diese Politik wurde in den darauf folgenden Jahren zum Teil wieder revidiert, ohne dass sich aus dieser Revision ihrerseits eine zeitgemäße Antwort auf die Frage filtern ließe, was denn nun die Aufgabe des Staates ist. Schon über seine Handlungsmöglichkeiten in Anbetracht sich globalisierender und europäisierender Verhältnisse herrscht Unklarheit: wie er von ihnen Gebrauch machen soll, ist ebenso strittig wie die normativen Grundlagen, auf die er sich dabei beziehen kann. Dieser Streit wird an der politischen Oberfläche in der simplifizierenden Polarität von Wirtschaft versus Politik, privates gegen öffentliches Interesse  ausgetragen. Doch lassen sich so keine Lösungen finden.

Die vorgänge sind auch nicht im Besitz der einen Lösung, doch wollen wir in diesem Heft Sichtweisen zusammentragen, wie die Aufgabe des Staates, der sich nicht aufgeben will,  bestimmt werden kann.

Philipp Genschel, Stephan Leibfried und Bernhard Zangl erforschen seit Jahren den Zustand dieses Staates. Ihr Fazit:  der einst homogene Interventionsstaat zerfasert, die Erbringung öffentlicher Güter wird internationalisiert und privatisiert, deren Gewährleistung reduziert sich immer häufiger auf eine Letztverantwortung. Die neuen Verantwortungsträger treten nicht an die Stelle, sondern neben den Staat. Dessen Reformfähigkeit gründet immer weniger in eigenen Projekten, sondern in der Förderung, Steuerung und Koordinierung der nicht-staatlichen Akteure.

Entsprechend sieht Gunnar Folke Schuppert im Staat weniger einen Herrschaftsträger, sondern einen Herrschaftsmanager. Er trägt die Gewährleistungsverantwortung für die in seinem Namen erbrachten Leistungen. Wie Schuppert am Beispiel der Gesundheitsversorgung und des Verbraucherschutzes verdeutlicht, verlangt dies ein dynamisches und variables Vorgehen, das mit Begriffen wie schlanker oder starker Staat nicht mehr adäquat erfasst werden kann.

Birger P. Priddat untersucht mittels der Theorie der öffentlichen Güter, wie im Wohlfahrtsstaat Allokationen so gestaltet werden können, dass die Probleme des Trittbrettfahrens und rent-seekings minimiert werden. Denn mit diesen können Umverteilungseffekte von unten nach oben verbunden sein. Eine Möglichkeit, sie zu minimieren, besteht in der Hybridisierung öffentlicher Güter, z.B. in Form von Gebühren, die für ihre Nutzung zu zahlen sind.

Arbeit zählt nicht zu den öffentlichen Gütern, deshalb verwirft Wolfgang Kersting nicht nur ein Recht auf Arbeit als freiheitsabträglich, er präzisiert zudem die Gerechtigkeitsnorm für den Arbeitsmarkt dahingehend, dass sie nur eine schwache, die Regulationsfähigkeit des Marktes begleitende Chancengerechtigkeit sein kann.

Berthold Vogel sieht den Staat als Denkkategorie und Ordnungsvorstellung wieder auf dem Vormarsch, seit soziale Deklassierung auch die Mitte der Gesellschaft bedroht. Der Staat ist damit zum Adressaten von widerstreitenden Verteilung- und Anrechtekämpfen geworden, die sich nicht in Frontstellung zum Markt auflösen lassen, deren Vermittlung vielmehr Regierungskunst erfordert. 

Siegfried Broß kritisiert aus verfassungsrechtlicher Sicht, dass der Staat der Daseinsvorsorge seine Macht zur Selbstdefinition und seine Gestaltungsmöglichkeiten in großem Umfang verloren hat. Es sei deshalb unumgänglich, dass der Staat in allen Kernbereichen der Daseinsvorsorge wieder selbst bestimmend tätig wird.

Zu diesem Machtverlust des Staates hat die EU mehr als ein Scherflein beigetragen. Daniel Seikel zeichnet die Linien der Privatisierungspolitik der EU nach, deren Höhepunkt er allerdings schon überschritten sieht.

Welche eklatanten und kostspieligen Fehlentwicklungen eine solche Privatisierungspolitik zeitigen kann, macht Werner Rügemer am Beispiel der Londoner U-Bahn deutlich.

Bernard Braun und Thomas Gerlinger befassen sich mit dem Wandel der medizinischen Versorgung in Deutschland von einem universalen, nur am Patientenwohl orientierten, zu einem liberalen, gleichermaßen zur Kosteneffizienz verpflichteten System.

Rainer Rilling erkennt in der Privatisierung der Daseinsvorsorge die Dynamik der von riesigen Geldvermögen angetriebenen Finanzmärkte. Daraus resultieren Strukturkrisen und Ungleichheiten, dagegen setzt er ein politisches Projekt des Öffentlichen.

Oliver Schöller-Schwedes macht am Beispiel der Bertelsmann-Stiftung deutlich, welche diskursiv-hegemoniale Rolle Stiftungen als (private) zivilgesellschaftliche Akteure beim Prozess der Privatisierung einnehmen können.

Armin Pfahl-Traughber zeichnet nach, wie im Dreiecksverhältnis von Religionen, Integration und Staat Letzterer sich im Interesse der Mittleren von Ersteren in Dienst nehmen lässt, und wo die Aufgabe des Staates eigentlich ihre Grenze finden müsste.

Ein Essay von Martin Gloger über Sinn und Unsinn des Generationenlabels „89er“ rundet diese Ausgabe der vorgänge ab, zu der ich Ihnen wie immer eine anregende Lektüre wünsche
 
Ihr
Dieter Rulff

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