Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 182: Die Aufgabe des Staates

Der zerfasernde Staat

Vom Wandel des Subjekts moderner Politik

aus: vorgänge Nr.182, Heft 2/2008, S. 4-13

Reformen allenthalben und überall. Die Veränderung oder Rücknahme jeglicher Beschlüsse früherer Parlamente und Regierungen gilt als ein Grundpfeiler liberaler Vorstellungen von Demokratie. Allerdings hat es den Anschein, als sei nie so viel von Reformen und Wandel die Rede gewesen wie in den letzten Jahren: Ob über mögliche Reformobjekte, über mögliche Ziele und Visionen, über sinnvolle Reformstrategien oder über die (Un-)Wirksamkeit bisheriger Reformmaßnahmen – die Debatten in den Medien darüber sind ebenso wenig zu überschauen wie die Regalmeter einschlägiger sozialwissenschaftlicher Forschungsliteratur. Dennoch existiert eine wichtige Lücke: Denn über das Subjekt dieser Reformen, über „den Reformer“ selbst, wird in all den Diskussionen wenig gesagt. Natürlich denken ihn alle unausgesprochen immer mit, „den Staat“. Über die letzten drei Jahrhunderte war in die Politik eine Nationalstaatsteleologie mit eingebaut. Nun ziehen aber die Debatten um Globalisierung, Liberalisierung oder Privatisierung genau diese Geschäftsgrundlage moderner Politik in Zweifel. Der Staat, so die Behauptung, steht nicht mehr (allein) im Mittelpunkt von Politik, was allerdings enorme Auswirkungen auch auf die Reformdiskussion selbst, auf ihren Möglichkeitsraum hätte. Dann geht es nicht mehr um angemessene Objekte, bessere Ziele, Erfolg versprechende Strategien und sinnvolle Evaluationsmaßstäbe. Vielmehr müsste die erste Frage lauten: Wer reformiert? Zugespitzt formuliert: Wenn der Staat nicht mehr (allein) das Subjekt der Politik ist, hängt dann nicht Reformfähigkeit weit weniger von ihm und sehr viel mehr von gesellschaftlichen oder internationalen Akteuren ab? Muss nicht die Gesellschaft sich selbst und den Staat gleich mit reformieren?

Um einer Antwort auf diese Fragen näher zu kommen, wollen wir hier anhand der Arbeit unseres Bremer Sonderforschungsbereichs „Staatlichkeit im Wandel“[1] zunächst drei grundlegende Aspekte ansprechen:

1. die Ausgangslage des nationalen demokratischen Rechts- und Interventionsstaates in seinem „Goldenen Zeitalter“, den 1960er und frühen 1970er Jahren;

2. die ursprüngliche Zerfaserungsthese, die der Bremer Arbeit seit 2003 zu Grunde lag; und

3. die ersten Befunde des Sonderforschungsbereichs in seiner ersten Arbeitsphase von 2003 bis 2006.

Auf diesem Hintergrund lässt sich abschließend auch etwas zu der Frage sagen, ob und wie sich das Subjekt moderner Politik verändert hat. Möglicherweise sind etliche der Probleme, die wir heute mit der Reform(un)fähigkeit politischer Systeme haben, weniger gut mit der Frage nach angemessenen Zielen und funktionierenden Strategien für die Anpassung politischer Systeme an neue Herausforderungen verbunden als mit der erst noch zu beantwortenden Frage nach dem angemessenen Reformer, mithin nach dem richtigen Ansprechpartner für Reformwünsche.

Zur Ausgangs­lage: der demokra­ti­sche Rechts- und Inter­ven­ti­ons­s­taat

Der moderne Staat hat sich in rund vier Jahrhunderten dynamisch und interdependent in vier Dimensionen zu einem „National“-, zu einem „Container-Staat“ (Beck 1997) entwickelt. Die erste Dimension seiner Entwicklung ist die der Ressourcen. Es geht im Kern um das Gewalt- und Steuermonopol, und um den Staat „als Apparat“, also um die wesentlichen Ressourcen, die für die Beherrschung von Territorium und Staatsvolk benötigt werden. Der Territorialstaat beendete damit zum einen die Fehden der privaten feudalen Gewalthaber und sorgte für nur eine legitime Quelle von Gewalt in der Hand der zentralen Dynastie. Zum anderen löste er seine Finanzierung von den privaten Einnahmen der königlichen Domänen und verpflichtete über Akzise (für die Städte) und Kontribution (für das Land) de facto alle Einwohner zur Finanzierung dieser neuen Staatsanstalt und der sie ausmachenden „Diener“. Damit verloren auch private Tributinhaber ihre hoheitlichen Rechte und mussten im Zweifel auf privatrechtlich begründete Pachtvertragskonstruktionen ausweichen. Dieser monopolförmige Zugriff ist so sehr eins mit dem Begriff „Staat“ geworden, dass etliche Definitionen von Staat vor allem hier ansetzen.

Die zweite Dimension ist die des Rechts. Im Kern geht es um die Durchsetzung des Rechtsstaates, das heißt die Bindung der Staatsgewalt an Recht und Gesetz. Dies umfasste im Kern zwei keineswegs selbstverständliche Aspekte: Einerseits schloss es die willkürliche Nutzung des zentralisierten Gewaltmonopols staatlicherseits aus, sicherte allen Einwohnern ein Mindestmaß an unveräußerlichen Rechten und verlangte die überprüfbare Einhaltung prozeduraler Fairness bei der Anwendung von Gewalt. Andererseits hieß Rechtsstaatlichkeit auch die Gleichbehandlung aller Akteure vor dem Gesetz. Wenn gleiche Fälle nach gleichen Rechtsgrundsätzen verhandelt werden, spielen Unterschiede in Ansehen, Status oder Macht keine Rolle mehr.

Die dritte Dimension ist die der Legitimation. Sie wird seit der Wende ins zwanzigste Jahrhundert ausschließlich als demokratische Legitimation verstanden. Gerade der monopolartige Zugriff auf die Ressourcen – der inhärente Zwangscharakter staatlicher Eingriffe – erzwingt es, staatliche Entscheidungen zu legitimieren. Dazu gehören im Minimum drei wesentliche Voraussetzungen (Zürn 1996):

1. Herrscher und Beherrschte müssen potentiell deckungsgleich sein. Mithin müssen also jene, die von Entscheidungen autoritativer Wertsetzung betroffen sind, eine regelmäßige Chance haben, überhaupt über diejenigen mitzubestimmen, die berechtigt sind, diese Entscheidungen zu treffen.

2. Es bedarf bei beiden Entscheidungen eines hohen Maßes an Transparenz, um sicher zu stellen, dass die Bürgerinnen und Bürger in der Lage sind, politische Verantwortung in positivem wie negativem Sinn korrekt zuzuordnen, im Zweifel also Politiker ab- oder wiederzuwählen.

3. Es muss gewährleistet sein, dass frühere politische Entscheidungen zumindest grundsätzlich revidierbar sind. Neue politische Mehrheiten müssen wenigstens de jure die Chance haben, aus ihrer Sicht falsche autoritative Wertsetzungen ihrer Vorgänger korrigieren zu können.

Die vierte Dimension befasst sich schließlich mit der Marktintervention beziehungsweise der Wohlfahrt. Hier lassen sich drei Bereiche unterscheiden: Zunächst der „Staat der Daseinsvorsorge„, wie ihn Ernst Forsthoff (1938) benannt hat: die Bereitstellung von Post- und Telekommunikationsdiensten, von Elektrizitäts-, Wasser- und Abwasserversorgung oder aber von Infrastrukturmaßnahmen wie Straßen-, Schienen- und Wasserverkehr. Ferner der Sozialstaat: die Bereitstellung von „Sozialversicherung“ im Alter, bei Unfall, Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit oder eingeschränkt bei Armut. Dieser Wohlfahrtsstaat wurde erst in den 1960er und 1970er Jahren OECD- weit voll ausgebaut (Leibfried/Mau 2008), wenn er auch schon ab den 1880er Jahren einsetzte. Zwischen diese beiden „großen Tankern“ eingezwängt – und von ihnen heute bedrängt – finden sich schließlich auch solche sozialpolitisch bedeutsamen „Boote“ wie die Bildungs- oder die darin eingebundene Forschungs- und Technologiepolitik.

Diese vier im nationalen demokratischen Rechts- und Interventionsstaat vereinten Dimensionen standen nicht an der Wiege des modernen Staates. Sie haben sich in einem langen, oft streitigen und mitunter kriegerischen Prozess interdependent herausgebildet. Am Übergang vom Feudalismus zum Territorialstaat stand zu allererst die Monopolisierung der Gewaltherrschaft in der Hand einer Dynastie. Dieses Monopol ließ sich auf Dauer nur halten, wenn es den neuen Landesherren gelang, staatsinterventionistisch merkantilistisch die Wirtschaft auf ihrem Territorium anzukurbeln und in diesem Aufschwung mit einer effektiven Steuererhebung den eigenen „Etat“ stetig aufzufüllen. Wirtschaftsintervention folgt der Monopolisierung der Gewalt, der Rechtsstaat wiederum ist auch ein Kind des Merkantilismus und der territorialen Marktschaffung. Demokratische Teilnahme folgt nicht zuletzt aus der Steuererhebung – Stichwort „no taxation without representation“. Und der Wohlfahrtsstaat des New Deal ist mehr denn je Ergebnis des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie. Auch der vierte Stand verlangte seinen Anteil am Wirtschaftswachstum. Da er diesen nicht über die Primärverteilung am Markt erreichte, sicherte er sich seinen Anteil über die politisch kontrollierte Sekundärverteilung, eben durch progressive Steuern und umfassende Sozialprogramme (Leibfried/Zürn 2006).

Historiker mögen diesen Parforceritt durch die Staatsgeschichte für stilisiert halten. Etliches lässt sich sicherlich – vor allem bei der nationalen Vielfalt – auch ganz anders erzählen. Unstrittig dürfte jedoch das sein, worauf es hier ankommt: Das Besondere am demokratischen Rechts- und Interventionsstaat der 1960er und 1970er Jahre war, dass er diese vier Dimensionen modernder Staatlichkeit in einer Organisation, in einer nationalen Institution gebündelt hat. In vielem besaß er sogar das Monopol: Gewalt, Steuererhebung, Daseinsvorsorge im weitesten Sinne und demokratische Legitimation lagen praktisch ausschließlich in seiner Hand. Ob nun Monopol oder nicht: Der Staat hatte alle vier Dimensionen fest im Griff – so fest, dass wir alle uns noch heute mental durchweg von einem „nationalen Container“- Denken beherrschen lassen. Wir können uns viele dieser Dimensionen weiterhin gar nicht ohne Staat vorstellen.

Zerfaserung von Staatlichkeit:
die Ursprungsthese der Bremer Staatsforschung

Das ursprüngliche Bremer Forschungsprogramm ging 2002 von der These aus, dass die integrierte, mono-institutionelle Verankerung aller vier Dimensionen moderner Staatlichkeit in den vergangen drei Jahrzehnten massiv unter Druck geraten ist. Hier fehlt der Platz, um auf die in der sozialwissenschaftlichen Literatur breit getretenen Diskussionen über diesen Druck im Einzelnen einzugehen; so auf Globalisierung, Liberalisierung, Privatisierung, Individualisierung, auf den demographischen Wandel oder auf den Wandel der Wertvorstellungen. Wichtig ist jedoch eine Konsequenz, die die Grundlage für die Bremer Arbeit bildet. Moderne Staatlichkeit – anders gesagt, die Bereitstellung öffentlicher Güter in diesen vier Dimensionen – unterliegt Wandlungsprozessen, die sich auf zwei Achsen abbilden lassen (Zürn et al. 2004): 

  • erstens auf einer räumlichen, territorialen Achse: Hier kann sich Staatlichkeit entweder in Richtung auf mehr Internationalisierung oder auf mehr Nationalisierung verlagern. Als zum Beispiel die Europäische Union den Euro einführte, verlagerten sich die geldpolitischen Zuständigkeiten auf die supranationale Ebene, auf die Europäische Zentralbank. Sie internationalisierten sich also. 
  • zweitens auf einer modalen, funktionalen Achse: Hier kann sich die Bereitstellung öffentlicher Güter entweder in Richtung auf mehr Privatisierung oder aber in Richtung auf mehr Verstaatlichung verlagern. Wenn bei der Globalisierung der Finanzmärkte die vorher durch gentlemen’s agreement unter Bankvorständen praktizierte Finanzmarktkontrolle in die Hände neu geschaffener staatlicher Regulierungsagenturen übergeht, kann man von Verstaatlichung sprechen (Lütz 1997, 1998; Busch 2003). Umgekehrt scheint sich der Forsthoffsche Staat der Daseinsvorsorge zumindest teilweise in Privatisierungen von Post, Telekommunikation oder Stromversorgung schlicht aufzulösen (Schneider et al. 2005).

Die Bremer Ausgangthese lautete: Jede der vier Dimensionen moderner Staatlichkeit wandelt sich in diesem Achsenkreuz in je eigener Form, Richtung und Geschwindigkeit. Bei der Ressourcendimension – beim Gewalt- und Steuermonopol – ändert sich, so die Vermutung, kaum etwas. Die Rechtsdimension wird stark internationalisiert, die Legitimationsdimension vielleicht auch ein wenig, aber nur im EU-Rahmen, und die Interventions- und Wohlfahrtsdimension wird vor allem privatisiert. Daraus ergab sich die Zerfaserungsthese: Moderne Staatlichkeit in vier Dimensionen verlagert sich aus einer einzigen monopolartigen Organisation oder Institution heraus auf unterschiedlichste internationale oder private Akteure. Das einheitliche Staatsgewand zerfranst.

Multiple Zerfaserungen:
Entbündelung von Verantwortungskonzentration

Die Ergebnisse der ersten vier Jahre des Sonderforschungsbereichs lassen sich thesenartig in vier Verfeinerungen, Auffächerungen und Veränderungen der ursprünglichen Zerfaserungsthese zusammenfassen (siehe Genschel et al. 2006, Genschel/Zangl 2007). Staatlichkeit zerfasert, erstens, dadurch, dass die Verantwortung für das Erbringen von öffentlichen Gütern in den vier Dimensionen seit den 1970er Jahren zunehmend internationalisiert und privatisiert worden ist. Diese Verantwortung ging nicht etwa auf nur ein oder zwei internationale beziehungsweise private Institutionen über. Sie wurde vielmehr auf ganz unterschiedliche nicht-staatliche wie internationale Einrichtungen verteilt. Es geht dabei jedoch nicht nur um „Europäisierung“ oder „Globalisierung“, wie es allzu oft behauptet wird. Vielmehr vervielfältigt sich das Akteursgeflecht um den Staat herum in ganz unterschiedlicher Art und Weise. Ein Beispiel unter vielen ist die heutige Norm- und Standardsetzung im Industriebereich. Zahlreiche private und internationale Akteure wirken hier mit der Staatenwelt in einem komplexen Prozess zusammen, bevor am Ende so etwas wie eine ISO-Norm oder ein einheitlich bespielbarer DVD-Player herauskommt.

Staatlichkeit zerfasert aber auch noch in einem ganz anderen Sinne, und das ist das zweite Ergebnis. Unterschiedliche Verantwortungsarten sind unterschiedlich stark von Internationalisierung und Privatisierung betroffen. Der demokratische Rechts- und Interventionsstaat des „Goldenen Zeitalters“ monopolisierte drei Arten von Verantwortung für die Herstellung öffentlicher Güter:

1. Entscheidungsverantwortung: Der Staat bestimmte selbst die Art, Güte, Menge, und die Herstellungsform der Güter, die er auf seinem Staatsgebiet bereitstellte.

2. Organisationsverantwortung: Der Staat setzte diese Entscheidungen selbst um. Er produzierte diese Güter in Eigenregie.

3. Letztverantwortung: Der Staat haftet politisch für jeden tatsächlichen oder wahrgenommenen Versorgungsmangel bei öffentlichen Gütern.

Der demokratische Rechts- und Interventionsstaat war unhintergehbarer Fluchtpunkt für jede dieser Verantwortungen in allen vier genannten Dimensionen. Internationalisierung und Privatisierung wirken aber nun ganz unterschiedlich auf diese drei Verantwortungsarten ein. Der Internationalisierungstrend betrifft vor allem die Entscheidungsverantwortung. Kollektiv verbindliche Entscheidungen über die Quantität und Qualität öffentlicher Güter trifft nicht mehr allein der Nationalstaat. Zunehmend geschieht das auch in internationalen Einrichtungen. Dies gilt selbst für die Ressourcendimension, bei der zunächst die Vermutung eines nur geringen Grades an Internationalisierung bestand.

Aber auch bei Sicherheits- oder Steuerfragen treffen internationale Institutionen heute zentrale Entscheidungen – oder sie prägen diese Entscheidungen doch zumindest maßgeblich vor (Jachtenfuchs 2006; Genschel/Uhl 2006). Die Organisation der Umsetzung bleibt zumeist beim Staat. Ein Beispiel: Es sind heute Internationale Organisationen, die festlegen, wann Menschenrechtsverletzungen vorliegen oder wann humanitäre Interventionen zulässig sind. Und die EU ist gerade dabei, über den europäischen Haftbefehl auch in der inneren Sicherheit solche Vorgaben zu setzen (Friedrichs 2007).

Anders läuft der Privatisierungstrend, der vornehmlich die Organisationsverantwortung betrifft: Öffentliche Güter werden immer weniger ausschließlich von staatlichen Instanzen bereitgestellt, das geschieht immer stärker durch private Akteure. Der Staat zieht sich aus der Erbringung der Daseinsvorsorge zurück – aus Post, Stromversorgung oder Telekommunikation. Er gibt Organisationsverantwortung ab, behält sich aber die Entscheidungsverantwortung vermittels Regulierungshoheit vor. Dafür gründet er mitunter sogar eigene neue Regulierungsbehörden, so etwa in Deutschland die Bundesnetzagentur, in Großbritannien das Office of Communications (Ofcom) oder in Frankreich die Autorité de Régulation des Télécommunications (ART).

Noch einmal anders verhält es sich schließlich mit der Letztverantwortung. Sie wird von den Tendenzen zu Internationalisierung und Privatisierung kaum berührt. Die Letztverantwortung bleibt beim Staat: Wenn etwas schief läuft, muss nach wie vor er eintreten. In rechtlicher Hinsicht macht das das Gerichtsurteil zum Flugzeugabsturz bei Überlingen aus dem Sommer 2006 deutlich. Der Bund hatte zumindest die Organisationsverantwortung für die Flugsicherung ganz an das private schweizerische Unternehmen Skyguide abgegeben. Dennoch haftet er für die Fehler von Skyguide. Mit Blick auf die politischen Konsequenzen ist ferner die Einführung der LKW-Maut in Deutschland instruktiv. Obwohl die Fehler, die zu einer mehr als einjährigen Verzögerung führten, ganz eindeutig beim privaten Betreiberkonsortium lagen, war es der Bund, dem in der Öffentlichkeit die politische Verantwortung zugeschrieben wurde. Die Versuche des Staates, sich seiner Letztverantwortung zu entledigen, gestalten sich äußerst schwierig, wenn sie nicht gänzlich erfolglos geblieben sind. Kurzum: Internationalisierung und Privatisierung ändern nichts daran, dass der Staat wie eine Art universaler Ausfallbürge für die Bereitstellung öffentlicher Güter haftet. Damit zerfasert der klassische Staat nicht nur entlang seiner vier historisch gewachsenen Dimensionen; er zerfasert auch mit Blick auf die drei Verantwortungsarten.

Staatlichkeit zerfasert zudem, und das ist der dritte Bremer Befund, in einer bestimmten Art und Weise: Internationalisierung beziehungsweise Privatisierung erfolgt meist als An– und nicht als Verlagerung. Bei einer Verlagerung tritt der Staat eine ursprünglich von ihm wahrgenommene Verantwortung an internationale oder private Institutionen ab. Das ist ein extrem seltener Fall. Eines dieser raren Beispiele ist die Europäische Währungsunion, bei der die Staaten ihre Geldpolitik an die Europäische Zentralbank abgegeben haben.

Weit häufiger beobachten wir eine Anlagerung von Verantwortung für die Produktion öffentlicher Güter an den Staat. Internationalisierung oder Privatisierung führt in der Regel dazu, dass neue internationale oder private Verantwortungsstrukturen neben den Staat treten. In ihnen werden neue Entscheidungs- oder Organisationsprobleme bearbeitet, für die der Staat selbst bislang kaum Verantwortung trug – oder auch nur tragen konnte. Hier geht es also nicht um eine Ersatzleistung für, sondern um eine Zusatzleistung zu staatlicher Verantwortung.

Staatlichkeit zerfasert, und damit gehen, viertens, Korridoreffekte einher. Bei der Privatisierung von Verantwortlichkeiten gleichen sich die Staaten einander tendenziell an, bei der Internationalisierung entwickeln sie sich aber eher auseinander. Die OECD Länder werden sich auf der Privatisierungsachse immer ähnlicher: Das geschieht allerdings nicht, weil alle Staaten nun voll auf Privatisierung setzen. Manche Staaten, die bestimmte Verantwortungsbereiche traditionell privat organisierten, verstaatlichten sie zumindest teilweise. So geschah es zum Beispiel in den USA mit dem Gesundheitssystem seit den 1960er Jahren (Obinger et al. 2006; Rothgang et al. 2006).

In ihrem Internationalisierungsgrad werden sich die OECD-Staaten jedoch immer unähnlicher. Zwar erfasst die Internationalisierung alle Staaten. Aber manche Staaten sind deutlich bereiter, Verantwortung an internationale Einrichtungen zu übertragen und sie zu teilen, als andere, so die USA, die als letzte verbliebene Supermacht zuweilen dazu neigen, auch als letzter nationaler „Container-Staat“ aufzutreten. Im allgemeinen Zerfaserungsprozess treffen also in der OECD-Welt[2] „konvergente Privatisierung“ und „divergente Internationalisierung“ aufeinander.

Der Staat ist weder tot, noch bleibt er der alte. Vielmehr zerfasert Staatlichkeit in viererlei Hinsicht:

  • Der Staat zerfasert erstens, weil Verantwortung für die Erbringung öffentlicher Güter sich auf staatliche, private und internationale Institutionen verteilt: Es gibt eine Verantwortungsdiffusion.
  • Der Staat zerfasert zweitens, weil Entscheidungs-, Organisations- und Letztverantwortung auseinander laufen: Es findet eine Entbündelung statt.
  • Der Staat zerfasert drittens, weniger durch Ver- als durch Anlagerung: Die Verantwortung verteilt sich auf mehrere Schultern.
  • Viertens schließlich gehen diese Zerfaserungen mit „konvergenter Privatisierung“ und „divergenter Internationalisierung“ einher: Es findet eine markante, disparate Korridorveränderung in der Entwicklung der Staatlichkeit statt.

Vom Wandel des Subjekts moderner Politik:
Wer muss eigentlich reformfähig sein?

Was bedeutet das nun für den Staat? Zerfaserung führt zu Verantwortungsverteilung, damit aber gleichzeitig auch zu Verantwortungsverflechtung. Der Staat ist der zentrale Knotenpunkt in diesem Geflecht. Allein durch ihn läuft zwar nicht mehr viel, doch ohne ihn geht auch fast nichts mehr. Der Staat bleibt wichtig. Er ist aber nicht mehr allein, „der Staat bekommt Gesellschaft“. Das hat jedoch Konsequenzen für die Frage, wer sich denn reformfreudig zeigen muss. Üblicherweise wird diese Obliegenheit mehr implizit als ausdrücklich dem Nationalstaat zugeschrieben. Sie ist integraler Bestandteil seiner Letztverantwortung. Das gilt selbst dort, wo es sich um Internationale Organisationen handelt, wie sich unschwer am Beispiel der Diskussion um die Reform der Vereinten Nationen erkennen lässt.

Wenn der Staat aber zerfasert, dann wird die staatliche Letztverantwortung für politische Reformen in mindestens zweierlei Hinsicht prekär: Es macht wenig Sinn, allein dem Staat Reformfähigkeit abzuverlangen, wenn sich zeigt, dass in den letzten Jahrzehnten durch Anlagerungsprozesse eine Vielzahl von neuen politischen Akteuren (wenigstens zum Teil) selbst Subjektcharakter in der modernen Politik erlangt haben. Wenn Politik immer mehr in sektoralen Mehrebenensystemen oder Public-Private Partnerships entschieden und umgesetzt wird, dann gilt es in Zukunft, diese vielschichtigen Konstrukte selbst – und nicht allein den Staat – in den Blick zu nehmen. Wir müssen viel genauer beschreiben, was mit „Reform“ gemeint ist. Wenn nämlich die unterschiedlichen Arten von Verantwortung – Entscheidung-, Organisations- und Letztverantwortung – auf ganz unterschiedlichen Schultern ruhen, dann ist es noch weit mehr als bisher notwendig, das Reformziel genau zu bestimmen. Solange etwa die Bahn noch die Deutsche Bundesbahn und ein Monopolbetrieb in staatlicher Hand war, blieb es für eine Reformdiskussion weitgehend unerheblich, ob deren Probleme von Markt- oder Politikversagen herrührten. Mit dem Anlaufen der Privatisierung wurde dies aber zur entscheidenden Frage: Sind die Probleme dem Politikversagen geschuldet, dann gilt es, die Bahn samt Streckennetz so schnell wie möglich zu privatisieren. Steckt jedoch Marktversagen hinter den Schwierigkeiten, so ist die Privatisierung gar nicht die vorrangige Problemlösung, sondern dann sind es vielmehr Entflechtung und Marktschaffung.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass möglicherweise bislang die Reformdebatte – aufgrund der vorherrschenden Policy-Orientierung – in einem überholten Gesamtrahmen geführt worden ist. Renate Mayntz (2005) hat darauf hingewiesen, dass es sich bei der vieldiskutierten Governance um „subjektloses Regieren“ handele. Zunehmend wird die Entscheidungs- und Organisationsverantwortung für die Produktion öffentlicher Güter auf eine wachsende Zahl von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren verteilt, so dass sich das Produktionsergebnis am Ende keinem dieser Akteure wirklich zurechnen lässt. Der Staat steht zwar nach wie vor in der Letztverantwortung. Diese Verantwortungszuschreibung wird den tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten des Staates jedoch nicht mehr gerecht. Deshalb darf die Debatte um Reformen und Reformfähigkeit auch nicht allein bei den Politikinhalten, bei Reformobjekten, -zielen und -strategien stehen bleiben. Vielmehr muss sie sich auf eine neue Art und Weise wieder mit den Strukturen moderner Politik und vor allem mit der geänderten Position des Staates in diesen Strukturen auseinandersetzen, um zu verstehen, wer Reformen überhaupt noch ins Werk setzen kann. Der Staat kann dies jedenfalls nicht mehr im Stile eines weitgehend souveränen Herrschaftsmonopolisten. Das heißt nicht, dass er machtlos geworden wäre. Aber es bedeutet, dass seine Macht zunehmend darauf gründet, die Reformanstrengungen nicht-staatlicher Akteure zu fördern, zu koordinieren und zu integrieren.

[1] Die Bremer Arbeiten zur „Staatsfrage“ sind zuerst in dem Band von Leibfried/Zürn (2006) dargestellt und dann systematisch durch Hurrelmann u. a. (2007) ergänzt worden. Beide Bände zusammengenommen stellen den Gesamtforschungsansatz und fast alle Projekte des Sonderforschungsbereichs international vor. Der Bremer Sonderforschungsbereich bringt eine Reihe bei Campus (derzeit 7 Bände) und eine bei Palgrave Macmillan (demnächst 13 Bände) heraus. Weitere Arbeiten finden sich auf der website www.staat.uni-bremen.de.

[2] Für die Staaten außerhalb der OECD-Welt vgl. die Arbeiten des Berliner Sonderforschungsbereich 700 „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“ (Beisheim/Schuppert 2007; Risse/Lehmkuhl 2007).

Literatur

Beisheim, Marianne/Schuppert, Gunnar Folke (Hsrg.) 2007: Staatszerfall und Governnance, Baden-Baden: Nomos.

Busch, Andreas 2003: Staat und Globalisierung: Das Politikfeld Bankenregulierung im internationalen Vergleich, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Forsthoff, Ernst 1938: Die Verwaltung als Leistungsträger, Stuttgart: Kohlhammer.

Friedrichs, Jörg 2007: Fighting Terrorism and Drugs: Europe and International Police Cooperation, London: Routledge.

Genschel, Philipp/Leibfried, Stephan/Zangl, Bernhard 2006: Zerfaserung und Selbsttransformation das Forschungsprogramm „Staatlichkeit im Wandel“, (TranState Working Papers, 45), Bremen: Sonderforschungsbereich 597 „Staatlichkeit im Wandel“.

Genschel, Philipp/Uhl, Susanne 2006: Der Steuerstaat und die Globalisierung, in: Leibfried, Stephan/Zürn, Michael (Hrsg.): Transformationen des Staates? , Frankfurt am Main: Suhrkamp, 92-119.

Genschel, Philipp/Zangl, Bernhard 2007: Die Zerfaserung der Staatlichkeit und die Zentralität des Staates, in: Aus Politik und Zeitgeschichte:20-21/2007, 10-16.

Hurrelmann, Achim/Leibfried, Stephan/Mayer, Peter/Martens, Kerstin (Hrsg.) 2007: Transforming the Golden Age Nation State? Basingstoke: Palgrave Macmillan.

Jachtenfuchs, Markus 2006: Das Gewaltmonopol: Denationalisierung oder Fortbestand? in: Leibfried, Stephan/Zürn, Michael (Hrsg.): Transformationen des Staates? , Frankfurt am Main: Suhrkamp, 69-91.

Leibfried, Stephan/Mau, Steffen (Hrsg.) 2008: Welfare States: Construction, Deconstruction, Reconstruction, Cheltenham: Edward Elgar.

Leibfried, Stephan/Zürn, Michael 2006: Von der nationalen zur post-nationalen Konstellation, in: Leibfried, Stephan/Zürn, Michael (Hrsg.): Transformationen des Staates? , Frankfurt am Main: Suhrkamp, 19-65.

Lütz, Susanne 1997: Die Rückkehr des Nationalstaates? Kapitalmarktregulierung im Zeichen der Internationalisierung von Finanzmärkten, in: Politische Vierteljahresschrift 38:3, 475-497.

Lütz, Susanne 1998: The Revival of the Nation-State? Stock Exchange Regulation in an Era of Globalized Financial Markets, in: Journal of European Public Policy 5:1, 153-168.

Mayntz, Renate 2005: Governance Theory als fortentwickelte Steuerungstheorie? in: Schuppert, Gunnar Folke (Hrsg.): Governance-Forschung. Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, Baden-Baden: Nomos, 11-20.

Obinger, Herbert/Leibfried, Stephan/Bogedan, Claudia/Gindulis, Edith/Moser, Julia/Starke, Peter 2006: Wandel des Wohlfahrtstaats in kleinen offenen Volkswirtschaften, in: Leibfried, Stephan/Zürn, Michael (Hrsg.): Transformationen des Staates? , Frankfurt am Main: Suhrkamp, 265-308.

Risse, Thomas/Lehmkuhl, Ursula (Hrsg.) 2007: Regieren ohne Staat? Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit, Baden-Baden: Nomos.

Rothgang, Heinz/Cacace, Mirella/Grimmeisen, Simone/Helmert, Uwe/Wendt, Claus 2006: Wandel von Staatlichkeit in den Gesundheitssystemen von OECD-Ländern, in: Leibfried, Stephan/Zürn, Michael (Hrsg.): Transformationen des Staates? , Frankfurt am Main: Suhrkamp, 309-355.

Schneider, Volker/Fink, Simon/Tenbücken, Marc 2005: Buying Out the State: A Comparative Perspective on the Privatization of Infrastructures, in: Comparative Political Studies 38:6, 704-727.

Zürn, Michael 1996: Über den Staat und die Demokratie im europäischen Mehrebenensystem, in: Politische Vierteljahresschrift 37:1, 27-55.

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