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Die neue " Große Trans­for­ma­tion"

Der Übergang zu einem sozialökologischen und solidarischen Entwicklungspfad

aus: Vorgänge 195 ( Heft 3/2011), S.79-88

1. Die Diagnose: Gesell­schaft im Umbruch

Selten zuvor gab es so viel und so rasant sich vollziehenden Wandel wie heute: technologischen, sozialen, demographischen, kulturellen und nicht zuletzt Wandel im globalen Machtgefüge. Das Neue aber ist, dass sich längerfristige Trends und Brüche abzeichnen, die als „Historischer Übergang” und „Gesellschaft im Umbruch” gedeutet werden können.

Der Kern dieser neuen Übergangs- und Umbruchsituation besteht darin, dass das über mehr als zwei Jahrhunderte hegemoniale Entwicklungs-, Wachstums- und Fortschrittsmodell an seine natürlichen und gesellschaftlichen Grenzen gestoßen und auf den Prüfstand gestellt ist. Dieses Modernisierungsmodell des Westens, das einst beachtlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt bewirkte, wird nun mit seinen Folgen zum „Weltuntergangsmodell” (Ulrich Beck) – vom ungebremsten Ressourcen-verbrauch über den Klimawandel bis zur Verschärfung der sozialen Ungleichheiten und Spaltungen weltweit. Bereits seit den 1970er Jahren zeichnete sich diese „systemübergreifende Krise europäischer Industriegesellschaften” ab, die die kapitalistischen des Westens ebenso traf wie die realsozialistischen des Ostens (Steiner 2006: 1). Es ist dies der Beginn eines „fundamentalen gesellschaftlichen Strukturwandels” und einer „strukturellen Transformation” (Jarausch 2006: 4). Erforderlich wurde ein neuer Typ nachhaltiger wirtschaftlicher Entwicklung, sozialer Teilhabe und demokratischer Bürgerbeteiligung; ein alternativer Typ gesellschaftlichen Fortschritts.

Die staatssozialistisch-fordistischen Gesellschaften des Ostens fanden – aufgrund ihrer strukturellen Reformunfähigkeit – darauf keine überzeugende Antwort. Die Folge war die schleichende Erosion, die schließlich die Implosion ihres Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells bewirkte. Die Antwort in den kapitalistisch-fordistischen Gesellschaften hieß schließlich Neoliberalismus und Marktfundamentalismus, hieß restaurative Transformation. Damit verbunden war die Freisetzung von neuen Anpassungskapazitäten, Stabilitäts- und Innovationspotenzialen. Die Grenzen des bisherigen Pfades aber konnten nicht überwunden werden. Im Gegenteil. Das neoliberale Projekt, das 30 Jahre lang weltweit die Vorherrschaft innehatte, erodierte. Der Traum, Kapitalverwertung könne auf Kosten von Lohnarbeit, Sozialstaat, anderen Konkurrenten und gegen Gemeinwohl und Öffentlichkeit auf Dauer gewährleistet werden, zerplatzte (vgl. Land 2009, Reißig 2009a: 136-139).

Die postsozialistischen Transformationen nach 1989/90 waren doch nicht – wie damals im konservativen Mainstream prognostiziert – das „Ende der großen Gesellschaftsalternativen” (Bell 1989), und wurden nicht zum Ende der tief greifenden Wandlungsprozesse in Europa und der globalen Welt, sondern zu deren markantem Auftakt. Die Versuche, diese Transformation nach dem alten fordistisch-industriellen Wachstums- und Entwicklungsmodell zu vollziehen, konnten schon nicht mehr erfolgreich sein. Inzwischen sind auch die westlichen Gesellschaften in diese Übergangs- und Umbruchsituation unmittelbar involviert. Nach der (postsozialistischen) Transformation ist vor der Transformation (der gesamten Moderne). Der Ausgang dieser historischen und globalen Transformation aber ist offen.

II. Der Diskurs: Zwischen Kontinuität und Systembruch

Diskurse widerspiegeln nicht nur gesellschaftliche Verhältnisse, sondern bereiten oft deren Veränderungen vor. Die aktuelle Situation des Übergangs, des Umbruchs hat die Debatte um den Zustand der Gesellschaften, um ihre Stabilität und Brüchigkeit, um ihre Zukunftsfähigkeit neu belebt und zu einem vielfältigen gesellschaftlichen Suchprozess geführt. Es gibt unterschiedliche strategische Vorstellungen, konzeptionelle Überlegungen, vielfältige Hoffnungen und Wünsche, aber – anders noch als 1989/90 – kaum geltende Gewissheiten. Stellen sich doch angesichts der neuen Herausforderungen grundlegende Fragen gesellschaftlicher Entwicklung und Gestaltung neu.

Die Atomkatastrophe von Fukushima hat die Frage nach dem Ende des Atomzeitalters schlagartig in den Mittelpunkt gerückt. In Deutschland wurden der Ausstieg aus der Kernenergie und die Einleitung einer Energiewende beschlossen. Ein Vorgang, der auch weltweit Zeichen setzt. Doch ist ein gesellschaftliches „Weiter so”, nun „nur” mit erneuerbaren Energien, wie es konservativ-wirtschaftsliberale Kreise betonen, wirklich möglich? Die Energiewende, der Übergang zu erneuerbaren Energien wie auch die Eindämmung des Klimawandels würden jedoch die Art und Weise des Wirtschaftens und Lebens nachhaltig verändern und hätten Konsequenzen für den gesamten Pfad sozioökonomischer und soziokultureller Entwicklung. Die damit verbundenen Fragen nach ungebremstem Wachstum und nachhaltiger Entwicklung, nach freiem Markt, sozialer Macht und gestaltendem Staat, nach Globalisierung und stärkerer Regionalisierung, nach liberaler Demokratie und neuer Bürgergesellschaft, nach weiterer Individualisierung und mehr Gemeinschaftlichkeit, nach alten Konsum- und neuen Lebensstilmustern sind gestellt. Letztlich geht es um die Frage, wie wollen und wie können wir künftig leben? Und – welcher Gesellschaftsvertrag, welches Entwicklungsmodell sind dafür am ehesten geeignet? Fragen, die in einer Demokratie legitim sind und öffentlich debattiert werden sollten.

Was in der gegenwärtigen Debatte jedoch auffällt ist, dass es zwar „harte Daten der Klimaforschung und Energieprognostik gibt”, aber „bisher kaum ,weiche‘ Szenarienzur sozialen, politischen, ökonomischen und normativen Entwicklung in den verschiedenen Weltregionen” (Leggewie 2010: 41). Dies ist umso problematischer, als es sich bei der neuen Transformation vor allem um eine Gesellschafts-Transformation handelt.

Im zeitgenössischen Diskurs um gesellschaftlichen Wandel und Übergang treten neben gemeinsamen auch recht unterschiedliche Positionen zutage:

  • Übergang – noch immer interpretiert – als Fortführung des traditionellen Modernisierungs- und Fortschrittsmodells und Implementation des westlichen Wachstumsmodells im „Rest” der Welt (u, a. Bertelsmann Stiftung [Hrsg.] 2005: 41 ff.).
  •  Übergang als „reflexive Modernisierung” und „Zweite Moderne” (Beck 2007) oder als neue, langwierige, widerspruchsvolle Evolution des Kapitalismus (u. a. in Anlehnung an Schumpeters theoretischem Evolutionsmodell) und mögliche Herausbildung eines „Öko-Kapitalismus”, eines „Green New Deal” (vgl, auch WBGU 2011, Land 2009). Mittels systemspezifischer Innovationen und Reformen soll eine ökologisch-industrielle Revolution ausgelöst werden, die zu einer neuen Phase dauerhaften Wirtschaftswachstums führen würde. Es spricht viel dafür, dass dies mittelfristig zum dominanten Diskurs und zum neuen hegemonialen Projekt in einer post-neoliberalen Entwicklungsphase des Kapitalismus wird.
  • Übergang als beginnendes Ende der Formation und des Weltsystems Kapitalismus, der seine inneren Konflikte und Krisen – darunter die Ökokrise – nicht mehr länger kanalisieren und beherrschen kann, und Herausbildung eines neuen Weltsystems in den nächsten 50 Jahren (Wallerstein 2002).
  • Übergang als offene Scheidewegsituation, als Entscheidungssituation, als ein Prozess der Evolution und Transformation, des Ringens um die Überwindung des fordistisch-industriellen Wachstums- und Fortschrittsmodells und des Suchens nach einem neuen, zukunftsfähigen sozioökonomischen und soziokulturellen Gesellschafts- und Entwicklungsmodell (u. a. Reißig 2009a).

Idealtypisch verallgemeinert lassen sich in diesem Diskurs also drei grundlegende Positionen unterscheiden: Wandel (1.) als Fortf’~ihrung des traditionellen Wachstums-und marktliberalen Entwicklungsmodells bei begrenzter Anpassung der gegebenen Strukturen an neue, u. a, ökologische Gegebenheiten und Erfordernisse. Wandel (2.) als radikaler Systembruch, als Ende des Kapitalismus und der Etablierung eines ganz neu-en, ganz anderen Systems. Und Wandel (3.) als Reform, Evolution und Transformation der Moderne, als Suche nach einem neuen, zukunftsfähigen Pfad wirtschaftlicher, sozialer, kultureller Entwicklung.

Transformation wird zu einem neuen Such- und Leitbegriff unserer Zeit. Das erfordert, ihn inhaltlich zu füllen und das klassische Konzept sozialen Wandels auch theoretisch neu zu justieren und durch ein modernes Transformationskonzept zu qualifizieren. Hierauf kann in diesem Beitrag nicht weiter eingegangen werden (vgl. aber dazu Reißig 2009a: 15-66). Es sei lediglich angemerkt, dass der Begriff „Transformation” nur seinen Sinn erfüllt, wenn er als Synonym für Übergänge, Umformungen, Umgestaltungen und als Destruktion und Neukonstitution von Gesellschafts- und Entwicklungsmodellen bzw. sozialen Formationen gedacht und verstanden wird. Transformation ist ein besonderer Typ sozialen Wandels; ein intendierter, eingreifender Prozess gesellschaftlicher Veränderungen mit stark eigendynamischen, evolutionären und nicht vorhersehbaren Komponenten.

III. Die Alter­na­tive: Der sozia­l­öko­lo­gi­sche Entwick­lungs­pfad

Der gesamte bisherige Pfad wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung ist, wie gesagt, an seine Grenze gestoßen und könnte nur um den Preis irreversibler Schäden für Mensch, Natur und Gesellschaft fortgeführt werden. Die Alternative in dieser Übergangs- und Umbruchsituation heißt, das gesellschaftliche Naturverhältnis und die sozialen Verhältnisse in ihrem Zusammenhang neu zu gestalten durch den Übergang zu einem sozial-ökologischen, vor allem energie- und ressourceneffizienten und umweltkonsistenten, sowie solidarisch-kooperativen Entwicklungspfad. Es ist die konstruktive Antwort auf die beiden zentralen Konfliktlinien unserer Zeit: die Zerstörung der ökologischen Grundlagen menschlichen Lebens, der natürlichen Gemeingüter (Ressourcen, Klima, Wasser, Landschaft, Meere) und die soziale Zerklüftung und tendenzielle Zerstörung der Welt-Gesellschaft, der sozialen Gemeingüter (Arbeit, Bildung, Gesundheit, Vertrauen, sozialer Zusammenhalt der Gesellschaft).

Es handelt sich hierbei um den am tiefsten greifenden Struktur- und Gesellschaftswandel seit Beginn des Industriezeitalters, um den grundlegenden Wandel und Umbauprozess in der Geschichte der Moderne. Worum es also geht, kann man getrost als die neue „ Große Transformation” bezeichnen. Hinsichtlich der Tiefe des Wandels vergleichbar mit den beiden fundamentalen Transformationen der Weltgeschichte: der Neolitischen Revolution, der Erfindung und Verbreitung von Ackerbau und Viehzucht sowie der Industriellen Revolution (WBGU 2011: 5).

Karl Polanyi hat den Prozess der Herausbildung der modernen Industriegesellschaften, der kapitalistischen Marktwirtschaften, der rund 300 Jahre umfasste, grundlegend analysiert und beschrieben und als „Great Transformation” (1944) bezeichnet. Er unter-suchte vor allem das Spannungsverhältnis von Markt – Gesellschaft – Natur, die dabei besonders mit der „Entbettung” des Marktes aus seinen institutionellen Zusammenhängen verbundenen Gefahren für Mensch, Gesellschaft und Natur. Diese selbstregulierende wie selbstzerstörende Dynamik des freien Marktes müsse und könne durch einen neuen institutionellen Rahmen und demokratische Gegenbewegungen wieder eingehegt und eingebettet werdend. Polanyi sprach in diesem Zusammenhang vom „Doppelcharakter” der Transformation und er begründete die Notwendigkeit einer „Neuen Demokratie”, in der erst das soziale und ökologische Gleichgewicht der Gesellschaft wieder-hergestellt werden könne. Ein theoretisch-analytisches Konzept, an das auch die neue Transformationsforschung, aber auch die neue Transformationspolitik des 21. Jahrhunderts anknüpfen kann
(Reißig 2009b: 33-36).

Zugleich stellen sich mit dieser heutigen Großen Transformation viele neue Fragen, die zugleich neue Antworten verlangen. Das betrifft u. a. das Verhältnis von Evolution und Transformation, von Gesellschaft und Natur, von Transformation – Wachstum – Fortschritt. Waren z. B. die beiden großen Transformationen der Vergangenheit eher das Ergebnis evolutionären Wandels, so geht es bei dieser neuen Großen Transformati-on stärker um einen eingreifenden, um einen gestaltenden Wandel, in dem aber zugleich evolutionäre und selbstgesteuerte Elemente wirksam werden.Sozialökologische und solidarische Entwicklung – das sind die beiden miteinander verbundenen Säulen, sind der Kern dieser Gesellschafts-Transformation im 21. Jahr-hundert. Dieser Pfadwechsel erfordert einen nachhaltigen Wandlungs- und Umbauprozess von Produktions- und Lebensweisen und damit ein neues Verständnis von Fortschritt. Ohne dass es für diese Transformation einen Masterplan gibt, sind mit einem solchen Pfadwechsel drei Erfordernisse gesellschaftlichen Wandels verbunden:

Zum einen der Übergang von der alles beherrschenden, inzwischen Natur und Gesellschaft gefährdenden Wachstumsökonomie zu einem alternativen, zu einem neuen Wachstumspfad, genauer Entwicklungspfad, der nachhaltig ist und zugleich auf neue Art Potenziale gesellschaftlicher, sozialer, kultureller Entwicklung kombiniert und freisetzt. Die Alternative heißt nicht Wachstum oder kein Wachstum, sondern primär destruktives Wachstum oder nachhaltige Entwicklung, heißt vor allem „menschliche Entwicklung” (UN-Bericht 2010). Denn kapitalistisches Wachstum als ungebremste „Evolutionsmaschine” schlägt immer öfter um in „soziale Regression”, geht einher mit zerstörerischen Folgen für Mensch, Natur, Gesellschaft (Dörre 2010: 57). In diesem neuen Transformationsprozess tritt der „Entwicklungsgedanke” als konstruktive Alternative zur traditionellen „Wachstumslogik” in den Mittelpunkt. Die Transformation steht vor der Aufgabe, diese Wachstumsökonomie schrittweise in ein nichtfossiles Wirtschaftssystem und einen neuen Typ nachhaltiger Entwicklung umzubauen (vgl. auch Land 2011: 99 ff ).

Zum anderen verlangt die neue Große Transformation den Übergang zu einem alternativen, neuen Modell sozialer und demokratischer Teilhabe statt zunehmenden und weltweiten Ausschlusses großer sozialer Gruppen und Regionen. Der Übergang zu einem nachhaltigen Wirtschaftspfad kann nur gelingen, wenn es zugleich zu neuen Formen sozialer und demokratischer Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger kommt. Die konkreten Wege zu dieser Teilhabe sind in den verschiedenen Weltregionen (z. B. Industrie- bzw. Schwellenländer) natürlich unterschiedlich und müssen erst noch gefunden und schrittweise durchgesetzt werden. Letztlich geht es jedoch um gleiche Teilhabe aller an Arbeit, Bildung, Gesundheit, Daseinsvorsorge, Kultur und öffentlichen Leben.Nachhaltige Entwicklung als soziale Teilhabe stellt die Frage nach dem „Guten Leben” (in westlichen Gesellschaften) neu, schon weil diese mit Umweltkompatibilität und Ressourceneffizienz vereinbar sein muss. Die Qualität des Lebens hängt – wie die Erfahrungen der modernen Industriegesellschafien zeigen – nicht allein vom Kaufen und Nutzen von Waren und Diensten (Massenkonsumtion) ab, sondern zu einem wesentlichen Teil von sinnvollem Tun, von gesunder Umwelt, guten Bildungschancen, ausreichender Gesundheitsvorsorge, Pflege menschlicher Beziehungen, zivilgesellschaftlicher Tätigkeit. Das alles ist nicht zuerst nur eine Frage des Geldes (Wohlstand), sondern vor allem auch der Zeit und der gleichberechtigten Teilhabe als Voraussetzung für Wohlfahrt (Scherhorn 2011: 97 ff., Etzioni 2011:328 ff.).

So oder so – der sozialökologische, solidarische Pfadwechsel geht mit Änderungen der bisherigen Lebensweiseformen und Lebensstile einher. D. h. ohne kulturellen Wandel ist der ökonomische nicht realisierbar und umgekehrt.

Schließlich erfordert diese neue Transformation den Übergang zu einem globalen Modell nachhaltiger Entwicklung und zu einem alternativen, neuen Finanz-, Weltwirtschafts- und Sicherheitssystem, zu friedlichem, kooperativen Zusammenwirken und -leben der Menschen statt Konfrontation, marktradikaler Konkurrenz und globaler Ausbeutung.

Nationalstaatliche Pfade und gar Pfadwechsel sind heute mehr denn je global eingebettet und letztlich nur unter günstigen internationalen Bedingungen möglich. Diese zweite Große Transformation ist daher im wahrsten Sinne des Wortes nur als eine Gesellschafts-Transformation und eine globale Transformation vorstellbar. Eine Transformation, die ein hohes Maß an Steuerung bedingt und die auf ein neues Wachstums-, Entwicklungs- und Fortschrittsmodell abzielt. Geht es doch um den Übergang zu einem anderen Wirtschaften, anderen Arbeiten, anderer Teilhabe und anderer Lebensqualität. Diese Transformation kann und wird jedoch nicht nach einem Muster, nicht in eine Richtung verlaufen, sondern ist nur als vielfältiger Diskurs, als unterschiedlicher, widersprüchlicher Such- und Lernprozess, als Selbstorganisation und Partizipation denkbar. Dennoch ist sie nicht beliebig, da ihr Rahmen mit „ökologisch”, „sozial”, „solidarisch” abgesteckt ist.

Die Funktions- und Zukunftsfähigkeit der Gesellschaften wie der sich herausbilden-den Weltgesellschaft hängt im 21. Jahrhundert ganz offensichtlich vor allem von Entwicklungen ab, die sich stärker durch „Nachhaltigkeit”, „Ressourceneffizienz und Umweltkompatibilität”, durch „Teilhabe”, „Gleichheit” und „demokratische Solidarität” auf der Grundlage von Eigeninitiative, Selbstorganisation und individueller Freiheit aus-zeichnen. Darin widerspiegeln sich wichtige und neue Universalien einer zukunftsfähigen Entwicklung im 21. Jahrhundert.

IV. Die normative Zielo­ri­en­tie­rung: Solida­ri­sche Teilha­be­ge­sell­schaft

Das Ziel dieses Pfadwechsels, dieser Gesellschafts-Transformation ist eine ökologisch-nachhaltige und solidarische Gesellschaft, eine ökologisch-nachhaltige und solidarische Weltgesellschaft und Weltwirtschaft. Als normatives Leitbild ist eine nachhaltige, plurale „Solidarische Teilhabegesellschaft” die Alternative zur grundlegend gescheiterten staatssozialistischen „Einheitsgesellschaft”, aber auch zum früheren (fordistischen) Teilhabekapitalismus, besonders jedoch zur gegenwärtigen marktliberalen/-radikalen Konkurrenzgesellschaft. Solidargesellschaft ist in diesem Sinne auch nicht als Neuauflage eines klassischen „Dritten Weges” zu verstehen, sondern als eine grundlegende Transformation und Neukonstituierung der Moderne hin zu einem Pfad sozialökologischer und solidarischer Entwicklung. Umfangreiche Untersuchungen und Vergleichsstudien zu den modernen kapitalistischen Gesellschaften belegen schon jetzt, dass eher egalitär und gerechter strukturierte Gesellschaften sowohl besser funktionieren als auch die Menschen zufriedener machen (Wilkinson/Pickett 2010).

Aber ohne strukturelle Eingriffe in die Logik kapitalistischer Akkumulation, ohne sozial- und umweltverträgliche Bindung des Eigentums, ohne neues wirtschaftliches und gesellschaftliches Regulationssystem, ohne dass vor allem die demokratische Ge-sellschaft die Macht und den Primat (wieder oder neu) erlangt, ist die Herausbildung einer nachhaltigen, solidarischen Teilhabegesellschaft schwer vorstellbar.

Eine solche Gesellschaftsform muss, da es in modernen pluralen Gesellschaften immer unterschiedliche Präferenzen gibt, ausgehandelt und ausgekämpft werden. Sie kann nur auf demokratische Art und Weise und nur im demokratischen Konsens breiter gesellschaftlicher und politischer Akteurskoalitionen entstehen und sich entwickeln. Diese Gesellschaftsform würde weder Systembruch im klassischen Sinne bedeuten, noch Anpassung und Fortschreibung der traditionell-fordistischen oder gar der marktliberalen, finanzmarktgetriebenen Entwicklungslogiken.

Ein neues Transformationsverständnis verabschiedet sich auch vom alten Fortschrittsdenken und -glauben sowie dem ihnen zugrunde liegenden kausalen Entwicklungsmodell; zumindest in zweifacher Hinsicht. Zum einen: Statt Determinismus und Gesetzesfetischismus Entscheidungssituation, statt Logik der Fortschreibung Logik der Alternative (Schulze 2004: 193). Alternative und Zukunft gibt es wie Gesellschaft jedoch nur im Plural. Geschichte und Gesellschaft werden als offener Entwicklüngs- und Veränderungsprozess und fern vom Bild einer konfliktfreien und harmonischen (Zukunfts-)Gesellschaft, die es so nie geben kann, interpretiert. Fortschritt in diesem Sinne ist möglich, aber nicht sicher.

Zum anderen: Fortschritt selbst ist vor allem neu zu definieren, denn was traditionell als Fortschritt – schneller, höher, weiter – verstanden wurde, erweist sich heute immer mehr als Bremsklotz, ja als Gefährdung der Zivilisation. Fortschritt nicht mehr länger als Fortsetzung des alten Steigerungsspiels und als quantitatives Wachstum des BIP, sondern vor allem als Substanzerhalt und nachhaltige Entwicklung, als Gestaltung einer gerechten und solidarischen Gesellschaft, als Zugewinn individueller Freiheit und Selbstbestimmung, als neue soziale und humane Lebensqualität. Eine Entwicklung, die sich nicht auf Kosten der zukünftigen Generationen vollzieht und globale Dimensionen erfordert. Deshalb muss auch Gelingen oder Misslingen von Transformation in diesem Sinne neu „vermessen” werden.

V. Strategien und Wege

Ob sich ein solcher aus den Konflikten und neuen Herausforderungen abgeleiteter und theoretisch als überlegen konzipierter wirtschaftlicher und sozialer Pfad im Evolutionsund Transformationsprozess praktisch auch durchsetzen wird, ist keineswegs sicher. Mehr noch: im Grunde soll etwas entstehen, was letztlich gar nicht entstehen kann (vgl. Brie 2011: 71). Dieses Paradoxon der Transformation zu bearbeiten bzw. aufzulösen, ist die eigentliche Herkulesarbeit in dieser neuen Transformation.

Diese stößt auf enorme objektive und subjektive Blockaden und Hürden. Sie ist konfrontiert mit der institutionellen Verfestigung des alten Entwicklungspfades und mit der Machtfülle und Anpassungsfähigkeit des dominierenden und eher am Gegebenen orientierten konservativ-wirtschaftsliberalen Blocks, aber auch mit der Langwierigkeit des Wandels von verinnerlichten Werten, Konsummustern und Lebensstilen selbst bei denen, die diesen Wandel eigentlich bejahen. Nicht zuletzt ist die Frage nach der Steuerung dieses gesellschaftlichen Wandels und der Herausbildung neuer, hegemonialer Akteurskoalitionen bis heute offen. In einer solchen historischen Scheidewegsituation sind deshalb stets verschiedene Entwicklungsszenarien möglich.

Die Möglichkeit eines Pfadwechsels ergibt sich nicht so sehr aus theoretischen Konzepten, für die hinreichende Argumente und Wahlmehrheiten gefunden werden, sondern vor allem aus den Kämpfen und Arrangements der großen gesellschaftlichen Interessensgruppen und günstigen internationalen Bedingungen (Vester 2011: 39/40). Dies lässt sich sowohl am Beispiel des „New Deal” in den USA und der Herausbildung des fordistischen Pfades in den kapitalistischen Industrieländern nach dem Zweiten Welt-krieg aufzeigen wie gerade auch am Aufstieg des neoliberalen Pfadmodells seit Mitte der 70er Jahre.

Die Moderne enthält – wie die Geschichte zeigt – auf jeden Fall unterschiedliche, gestaltbare und auch alternative Entwicklungspfade. Die neuen sozialen und politischen Spannungen, die ökologischen Katastrophen wie die von Fukushima, der fortschreiten-de Klimawandel führen heute zu neuen Interessenkonstellationen und gesellschaftlichen Arrangements. Verschiedene gesellschaftliche Bewegungskräfte, Intellektuelle, kritische Eliten, aber auch Teile des Unternehmertums und aufgeschlossene Kreise im politisch-administrativen System suchen nach sozialökologischen Alternativen und Entwicklungswegen. Dabei verlangt eine „Große Transformation” keine Politik großer Transformationsprojekte, sondern konkrete Schritte, konkrete Alternativen und konkrete Einstiegsprojekte – zur Erweiterung der Demokratie, der Freiheitsrechte der BürgerInnen, zur Stärkung von Gleichheit und Solidarität in der gegebenen Gesellschaft. Forderungen und Alternativen, die von den spezifischen Lebenswelten, Interessen, Wünschen und Hoffnungen der Menschen getragen sind und diese zu selbsttätigen Handeln veranlassen. Schon heute ist ein solcher Transformationsprozess praktisch sichtbar:

Transformation – als Weg zu sozialökologischem Umbau und nachhaltiger Entwicklung: z. B. durch autonome Energie-Dörfer, -Regionen; durch ökologische Netzwerke, die das Regionale und Gemeinschaftliche wiederentdecken; durch Genossenschaften, durch Formen solidarischer Ökonomie.

Transformation – als Weg zu sozialer Teilhabe: z. B. „gute Arbeit”, „gute Bildung”, repressionsfreies Grundeinkommen, Bürgerversicherung.Transformation – als Weg zur Demokratisierung von Gesellschaft und Wirtschaft: z. B. öffentliche Kontrolle über öffentliche Güter, Erweiterung der liberalen Demokratie durch Stärkung der Parlamente, durch Weiterentwicklung der sozialen und demokratischen Grundrechte, durch neue Formen der Bürgerbeteiligung und durch spezifische Formen von Wirtschaftsdemokratie.

Transformation – als Weg zu neuer Wohlfahrt, in der saubere Umwelt, Bildungschancen für alle, gute Gesundheitsfürsorge, Vielfalt sozialer Beziehungen, mehr Zeit für Muße und Kultur eine wichtige Rolle spielen. Nur in einem solchen Prozess – und das ist entscheidend -kann sich die „Transformationsfähigkeit” der Gesellschaft und die „Handlungsfähigkeit” der Akteure heraus-bilden und stärken. Dieser Wandel und Umbau vollzieht sich – wie historische und aktuelle Erfahrungen zeigen – sowohl auf der Grundlage der bestehenden Institutionen als auch durch deren Symbiose wie schließlich durch das Entstehen neuer Institutionen.

Ziel und Mittel fallen in dieser Transformation nicht mehr länger auseinander, sondern bedingen sich wechselseitig. Im Ringen um solche Alternativen, Projekte, Netzwerke kommt es – wie empirische Studien belegen – zu Wandlungen auf lokaler und regionaler Ebene. Hier entsteht ein gewisses Wir-Gefühl, ein Wandel von Einstellungen („Ja, Veränderungen sind möglich“), Lebensstilen, kulturellen Identitäten. Es wird „Insellösungen” geben, die für sich genommen absorbierbar sind, in ihrer Kombination und be= sonders in historischen und gesellschaftlichen Umbruchphasen aber eine spezifische Eigendynamik und transformatorische Wandlungsprozesse auszulösen vermögen. Gesellschafts-Transformation, auch das belegen historische Beispiele, kann sich erfolgreich nur als Wandel von „Unten” und von „Oben” vollziehen. Ob aus diesen heutigen „kleinen Transformationen” morgen einmal die „Große Transformation” erwächst, kann nicht vorausgesagt werden. Nur was vorausgesagt werden kann, ist, dass es ohne diese konkreten Alternativen, Projekte und Transformationsschritte die erforderliche „Große Transformation” nicht geben wird.

Wenn erfolgreiche Gesellschafts-Transformation also hier und heute beginnt, beginnen muss, dann kann sie aber auf Dauer auch nur erfolgreich sein, wenn sie am Ziel des Richtungs- und Pfadwechsels orientiert ist. Notwendig ist deshalb ein gesellschaftliches Narrativ, ein
ZukunftsKonzept (keine Endziel-Projektion) von einer besseren, gerechteren und freieren Gesellschaft. Dies gilt es positiv zu kommunizieren, d. h. Wandel und Transformation auch als Anstrengung und Mühen, aber nicht als Zumutung und Bedrohung, sondern als berechtigte Hoffnung für die Menschen. Hoffnung ist, wie Sartre es nannte, eine Triebkraft gesellschaftlicher Veränderungen.

Entscheidend wird letztlich sein, ob die gewachsenen demokratisch-emanzipativen Potenziale in der Gesellschaft zu einer Selbstermächtigung der BürgerInnen, zu einer Bürgergesellschaft, zu einer neuen „Soziale Macht” (Wright 2010) führen, die schließlich die wirtschaftliche und staatliche Macht demokratisch kontrolliert und den sozial-ökologischen und solidarischen Umbau im breiten demokratischen Konsens initiiert und vorantreibt.

Das Schlüsselwort, das Schlüsselkonzept gesellschaftlichen Wandels heißt heute also weder Reform noch Revolution, sondern „emanzipative Transformation”; heißt heute konkret Pfadwechsel mit neuen Wegweisern, heißt Übergang zu einem Gesellschaftsund Fortschrittsmodell, das eine neue sozialökologische und solidarische Entwicklungsund Lebensweise generiert.

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