Publikationen / vorgänge / vorgänge 195: Was ist heute Fortschritt?

Fortschritt nach der Moderne

aus: Vorgänge 195 ( Heft 3/2011), S.30-41

Fortschritt, der sich aus der Fortschrittserfahrung heraus über eine Fortschrittserwartung zu einem Fortschrittsglauben oder einer Fortschrittsideologie verfestigt, ist eine spezifische europäische Entwicklung des 18. und 19. Jahrhunderts.[1] Antikes Denken war hin-gegen von ordnungspolitischen Kategorien der Stabilität bestimmt, nicht von der Idee einer permanenten gesellschaftlichen Dynamik. Insofern blieben die geschichtsphilosophischen Gesamtentwürfe auch eher unverbindlich und ließen sowohl Platz für zyklische Geschichtsauffassungen, in denen sich Perioden des Auf- und Abschwungs abwechseln, als auch für Ideen eines goldenen Zeitalters, von dem sich die Menschen entfernt haben.

In der jüdisch-christlichen Perspektive überwog die geschichtliche Vorstellung von der Entfernung aus dem Paradies (als Beginn der Zeitrechnung) und eines späteren Einbruchs des Göttlichen in die Geschichte, die dann in die messianische Endzeit überführt wird. Freilich wurde durch die Parusieverzögerung Geschichte deutungsbedürftig. In der augustinischen Gegenüberstellung der Civitas Dei und der Civitas Terrena fand die christliche Geschichtsphilosophie eine wirkmächtige Formulierung. Innerhalb der Welt war das Heil oder eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte nicht mehr zu erwarten. Die Krisenerfahrungen des Mittelalters waren kaum dazu angetan, eine Fortschrittserfahrung auch nur begründen zu können. Der plötzliche Untergang des Römischen Reiches (und damit der Verlust an Zivilisation und Kultur) bestimmte über viele Jahrhundertedas Bild einer Historie, in der die den leuchtenden Vorbildern Griechenlands oder Roms nacheifernden Generationen nicht hoffen konnten, jemals zu ähnlicher Kulturblüte kommen zu können. Die säkularen Katastrophen wie etwa die Völkerwanderungen und die damit einhergehenden Verschiebungen oder die große Pest von 1348/49, aber auch die periodischen Hungersnöte und Kriege taten ein übriges, um eine optimistische Sicht auf die Zukunft einzutrüben. Die großen Gründerväter des Mittelalters in Europa suchten denn auch eher überkommenes Wissen zu sammeln, zu sichern und für die Nachwelt zu erhalten.

Erst seit der Renaissance kam es zu einer schrittweisen Neubestimmung der historischen Verortung. Die Entdeckungen und Erforschungen, auch die neuen wissenschaftlichen Ideen führten in sich noch nicht zu einer verfestigten Fortschrittsgewissheit; dazu bedurfte es der Verbindung mit der aufstrebenden Schicht des Bürgertums, die gegen die verfestigte soziale und politische Ordnung die Anwendung der neuen Techniken mit ihren ökonomischen, sozialen und politischen Interessen verbanden und damit das absolutistische Gehäuse sprengen konnten. Die Industrialisierung verdampfte alle ständischen Strukturen; das Bürgertum begründete seinen Herrschaftsanspruch nicht nur auf den aus den Menschenrechtsdiskursen entstandenen politischen Forderungen, sondern auch auf dem Versprechen einer besseren Zukunft, das schon durch die Fortschrittserfahrung eine hinreichende Legitimationsgrundlage erhielt. Dieser Prozess war zunächst ein europäischer, fasste aber im 19. Jahrhundert auch in den USA in einer eigenen Ausprägung Fuß.

Wesentlich für die Ausprägung des Fortschrittsbegriffs sind die Umwälzungen im Denken und in der modernen Wissenschaft als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung. Eine der frühen Voraussetzungen modernen Denkens war die Abkehr von der aristotelischen Kausalitätslehre, die in der Spätscholastik vorbereitet wurde, sich aber ab der italienischen Renaissance auch breit durchsetzte. Die dadurch mögliche neue Sicht auf die Natur ermöglichte neue Fortschrittserfahrungen gegenüber der Umwelt, aber auch gegenüber der Vorwelt. Durch die Entdeckungen der Naturwissenschaften wurde das seit der Scholastik gängige Bild von den Zwergen, die auf Schultern von Riesen stehen, obsolet [2]Nicht mehr die „Alten” waren das hohe Vorbild, zumal sie weder über den Kompass, das Schießpulver, den Magneten oder den Buchdruck verfügten. Die geschichtsphilosophische Perspektive drehte sich um. Die „Alten” wurden in der historischen Neuinterpretation in den Status wissenschaftlicher Kindheit versetzt, während die Gegenwart durch die größere Reife, die höhere Erkenntnis geprägt war. Getreu der These von Francis Bacon, dass Wissen Macht sei, wurde die Organisation des Wissens nicht mehr dem Zufall überlassen, sondern Gegenstand methodischer Planung und Steuerung.

Eines der wirkmächtigsten Bilder dieses neuen Selbstbewusstseins war das der Maschine. Wie eine Maschine wurde das Funktionieren der Natur beschrieben. Descartes sah selbst in Tieren bewegte Maschinen, die wie ein Uhrwerk funktionierten; auch die Menschen waren solche Maschinen, ergänzt allerdings um eine Seele. Wie eine Maschine sollte auch der Staat aufgebaut sein, der von Menschen geschaffene Leviathan.[3] Folglich stand auch rationale Planung im Vordergrund. Der Gedanke einer Politik, die nach dem Vorbild der Geometrie funktionieren könne, war in der frühen Aufklärung von Samuel Pufendorf bis Christian Thomasius staatsphilosophisches Leitbild.[4] Die Entstehung des souveränen Staates, der das alte System überlappender Loyalitäten spätestens nach dem Dreißigjährigen Krieg ablöste, schuf die Voraussetzung für einen einheitlichen Wirtschaftsraum ebenso wie für die planmäßige Förderung der Wissenschaf ten. Die Vorstellung, der Staat müsse den Fortschritt planen, bestimmte noch das Denken Kants, der die Fortschrittsgewissheit zum Postulat der praktischen Vernunft verklärte.

Wichtig in diesem Zusammenhang wurde auch ein neuer Begriff der Arbeit. Die menschliche Arbeit wurde zur Chiffre eines neuen Verständnisses von Mensch und Natur und zum Ausgangspunkt bürgerlicher Fortschrittssymbolik. Die Vertreibung aus dem Paradies (dem Naturzustand des Menschen nach der Schöpfung) war mit dem Fluch besiegelt, dass der Mensch nun im Schweiße seines Angesichts sein Brot essen musste. In der neuzeitlichen Interpretation drehte sich das Verständnis von Naturzustand und Arbeit um. Bei Hobbes und Locke blieb der Naturzustand negativ konnotiert; das Leben dort sei, so die berühmte Charakterisierung von Hobbes, „einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“.[5] Auch Locke sah den Naturzustand (temperierter als Hobbes) als wenig erstrebenswert an, aber seine Wegweiser aus dem Naturzustand heraus (und für unseren Zusammenhang interessant) betonen den Begriff der Arbeit als Möglichkeit der Schaffung von Eigentum und seiner legitimen Akkumulation. Wenn die menschliche Arbeit mit den Objekten der Natur gemischt werde, entstehe Eigentum — eine völlig andere Auffassung als die tradierte christliche, die ja immer vom Eigentum Gottes an der Schöpfung und einem dem Menschen lediglich bleibenden Nutzungsrecht ausgegangen war. Gerade diese Figur der Schaffung von Eigentum durch Arbeit erwies sich als eines der wirkmächtigsten Begründungen der modernen Gesellschaft.[6]

Dahinter steckten zwei Grundannahmen: Zum einen die Aufspaltung von Subjekt und Objekt als erkenntnistheoretische Leistung der Neuzeit, also von res cogitans und res extensa, die die Natur als etwas dem Menschen Gegenüberstehendes verstand. Daraus abgeleitet wurde die Natur zur Ressource menschlicher Zwecke. Die Aussage Bacons, man müsse die Natur foltern, damit sie ihre Geheimnisse preisgebe, war der Auftakt zu einem Naturverständnis, dem gegenüber die Erkenntnis, dass der Mensch eben selbst auch Teil der Natur ist, in den Hintergrund trat.

Die Industrialisierung, die die wissenschaftlichen Erkenntnisse praktisch und gewinnbringend methodisch umsetzte, setzte sich ab Mitte des 18. Jahrhunderts zunächst in England durch. Sie entstand aus drei wesentlichen Faktoren: Der Nutzung neuer E-nergien (Dampf, Kohle), der Neuorganisation von Arbeit in Fabriken und der maschinellen Verarbeitung von Rohstoffen in einer Massenproduktion. Dadurch wurde eine deutliche Steigerung der Produktivität möglich. Industrialisierung beruhte auf einem instrumentellen Verhältnis zu Natur und Arbeit unter Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Begleitet wurde die Industrialisierung durch eine Erschließung der Räume (Wasserstraßen- und Wegebau, Eisenbahn), einer zunehmenden sozialen Mobilität, Urbanisierung, Alphabetisierung, aber auch neuer Formen sozialer Disziplinierung und dem Aufkommen der nationalen Idee als Form der Vergemeinschaftung und des Nationalismus als Ideologie nationaler Selbständigkeit und Größe.[7]

Die verfestigte, also notwendige und hinreichende Fortschrittserwartung ruht auf einer geschichtsphilosophischen Gesamtsicht und beinhaltet mehrere Ebenen (politisch, sozial, wissenschaftlich, moralisch). Dies macht die besondere Durchschlagkraft des Begriffes und seine positive affektive Besetzung aus. Die großen Utopisten beschrieben perfekte und eben vollkommen rationale Alternativentwürfe zu einer vorgefundenen Wirklichkeit, die vor dem Bild dieser vernünftig aufgebauten Gegenwelt umso defizitärer erscheinen musste.[8] Freilich blieben diese Gegenwelten, in denen sich Kritik am Bestehenden mit der Sehnsucht nach dem vernünftigen (und Gerechten) verbanden, ausder Geschichte heraus gelagert, außerhalb eines benennbaren Weges, ein solches Ziel auch zu erreichen. Das galt auch noch für die Utopien der frühen Aufklärung. Die Fortschrittsideologie der Philosophen des 18. Jahrhunderts hingegen erklärte die innerweltliche und historische Möglichkeit der Realisierung des utopischen Geistes.

Fortschritt verhieß Macht und Freiheit: Macht über die Natur und die Wechselfälle des Lebens, Freiheit von den Notwendigkeiten, auch den Strukturen, die zuvor als gottgegeben fraglös akzeptiert waren: Der Mensch, und dies ist der Kern der neuzeitlichen Idee des Fortschritts, nimmt sein Schicksal in seine Hand ohne Bezug auf Gott. Der Begriff des Fortschritts in der Aufklärung ist ein säkularer, in dem zunächst durchaus aber noch die theologische Weltsicht nachhallt: Gott wurde durch die Menschheit ersetzt, das jüngste Gericht (und die Unsterblichkeit in der Civitas Dei) durch das Urteil der Geschichte und das Erinnern künftiger Generationen .[9]

Die Apologeten des Fortschritts haben diesen auf verschiedenen Ebenen konstatiert und eine zusammenhängende Fortschrittsideologie entworfen. Fortschritt war zunächst einmal (und das auch empirisch durchaus plausibel) im Bereich der Naturwissenschaften, also der Beherrschung der Natur, zu konstatieren. Dies bedeutete zum zweiten, dass die Möglichkeiten der Verbesserung des menschlichen Lebens, die Chance, dieses von Krankheiten, von Mühe und Armut zu befreien, ebenfalls deutlich zugenommen hatten; der Lebensstandard stieg. Schließlich trug all dies dazu bei, dass der Mensch seine Möglichkeiten besser entfalten konnte, er im umfassenden Sinn seine Humanität verwirklichen und damit auch zivilisatorisch sich über die Natur und ihre Begrenzungen und Imperative erheben konnte.

Vor allem in Frankreich verbanden sich der Glaube an die wissenschaftliche Methode und das Bewusstsein, an einer Epochenwende zu leben, in empirisch gebundenen geschichtsphilosophischen Gesamtentwürfen. Turgot konstatierte in seiner Rede 1750 an der Sorbonne ein allgemeines, universales Gesetz des Fortschritts, dem alle Kulturen, freilich in unterschiedlichem Tempo, unterworfen seien.[10] Aus der Geschichte heraus war auch für Condorcet der endlosen Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen keine Grenze gesetzt.[11] Condorcet bejahte die Anwendung mathematischer Methoden in der Kultur- und Gesellschaftswissenschaft, vor allem in Form der Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung stand mit an der Wiege moderner Sozialwissenschaft. Wissenschaftlich geprägt, frei von den menschlichen Unberechenbarkeiten und einer Zufälligkeit des Schicksal sollte denn auch die abschließende zehnte Epoche der Menschheitsgeschichte sein: Eine Epoche unter dem Glanz der Voraussicht und der wissenschaftlich berechneten Genauigkeit.

Für Comte war es dann der erreichte Stand von Industrie und Technik, der das Niveau einer Kultur ausmachte, und damit auch die soziale und politische Verfassung bestimmte — ein deutlicher Vorgriff auf die einige Jahre später formulierten Thesen von Marx. Comte, der ähnlich wie Marx und Spencer eine deterministische Soziallehre vertritt, gilt als Vater der Soziologie und als Begründer des Positivismus.[12] Seine Abfolge der Gesellschaftsformationen sind den Entwicklungsformen des Geistes nachempfunden: theologisch (fiktiv), metaphysisch (abstrakt) und wissenschaftlich (positiv). Mit dem Aufkommen des positiven Zeitalters wird für Comte auch die im metaphysischen Zeitalter verloren gegangene Ordnung im Geistigen und Sozialen wiedergewonnen, allerdings unter dem Signum des Fortschritts.

Fortschritt ist also – und hier wurden die französischen Systematisierer durch die empirisch gesättigten Untersuchungen der schottischen Moralphilosophen ergänzt – nicht nur Prinzip des geschichtlichen Erkennens, sondern auch Gegenstand gesellschaftlicher Planung. Diese aus dem sektoralen Fortschrittserkennen in das universalgeschichtliche ausgreifende Ideologie des Fortschritts durchbricht die Idee eines Endes der Weltzeit zugunsten einer offenen, von Menschen planend gestalteten Zukunft. Die Entwicklung der Menschheit mochte dabei linear oder dialektisch verlaufen, sie konnte sich als prinzipiell unabgeschlossen oder, wie in den geschichtsphilosophischen Spekulationen Condorcets oder Hegels, als begrenzte Stufenfolge erweisen, entscheidend war die Aufzeigbarkeit und Unvermeidbarkeit des Fortschritt, sein umfassender Anspruch der
Umgestaltung aller Lebensbeziehungen und die positive Grundeinstellung zu diesem Prozess, der als Selbstveredelung des Menschen beschrieben werden kann.

Für das Bürgertum, das sich des Fortschrittsgedankens bemächtigte, kam im Zuge der politischen Emanzipation als wichtiger Gedanke hinzu, dass der Fortschritt weniger der staatlichen Planung und Intervention bedürfe, sondern aus sich heraus manifest werde. In vielen Bereichen (Zunftwesen, Zollbestimmungen) war der Staat doch eher einer vollen Entfaltung der wirtschaftlichen Potenzen hinderlich. Die Begründung dazu hatte Adam Smith geliefert, der davon ausging, dass die wirtschaftlich freie Betätigung, die Verfolgung individueller Interessen, durch das Wirken einer unsichtbaren Hand der gesamten Gesellschaft zugute komme. Die Eigengesetzlichkeit historischer Kräfte und Entwicklungen war ein aus Sicht des Bürgertums grundsätzlich positives Faktum, und es bedurfte nur wenig staatlicher Intervention, um diesen Prozess zu perpetuieren und die nachteiligen Wirkungen auszugleichen. In den neuen Erkenntnissen der Wissenschaft und der Steigerung der industriellen Produktion manifestierte sich ein Fortschritt, der der Gesellschaft als Ganzes zugute kam. In dieser Grundüberzeugung liegt die eigentliche Schlüsselideologie des Bürgertums.

Die gesteigerte Fortschrittserwartung als Legitimationsideologie wurde, und das ist eine Ironie der Geschichte, Grundlage sowohl des bürgerlichen als auch des sozialistischen Selbstverständnisses. Die bürgerliche Fortschrittsideologie beruhte auf einer Anerkennung und Freisetzung des Individuellen, zugespitzt: Auf einer Veredelung der in der Antike und im christlichen Denken verpönten Leidenschaften zu bloßen Interessen, deren gemeinwohlförderliche Wirkung durch die Idee der unsichtbaren Hand von Adam Smith auf den Begriff gebracht wurde.[13] Folgerichtig wurden auch diejenigen philosophischen Leitideen zur Grundlage bürgerlichen Selbstverständnisses, die das Individum und seine Rechte schützten. Die Vertragstheorien von Hobbes und Locke leisteten wertvolle Schützenhilfe, weil hier die Idee vorstaatlicher Rechte des Menschen und ihre Rolle bei der Gründung von Gesellschaft und Staat thematisiert wurden. Die Idee, dass der Staat primär zum Schutz der Rechte des Einzelnen errichtet worden sei, entfaltete ihre Wirkung gegen den absolutistischen Staat und wurde zum Begründungskontext der bürgerlichen Freiheiten.

Die Erhaltung der natürlichen und unvergänglichen Menschenrechte bildete in der berühmten Formulierung der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der Französi-schen Revolution den Endzweck jeder politischen Vereinigung. Was diese seien, darüber gab es diesseits und jenseits des Atlantiks weitgehende Ubereinstimmung: Die französischen Aufzählung von Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung wurde in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung durch die stärker von der Anerkennung individualistischen Glücksstrebens geprägte Trias von „life , liberty and the pursuit of happiness” ergänzt. Fteilich blieb es nicht bei dem konstitutionellen Projekt, sondern das bürgerliche Selbstverständnis wurde geschichtsphilo- sophisch grundiert. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: Diese Grundforderungen bürgerlicher Emanzipation seit der Französischen Revolution waren vom Begriff des Fortschritts durchtränkt.

Hegel brachte dies auf den Begriff, indem er die Weltgeschichte als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit postulierte. Das Bürgertum konnte sich mit seinen politischen Forderungen als Avantgarde des Fortschritts verstehen. Aber auch der Anspruch, nicht nur welthistorisch, sondern tatsächlich durch die wissenschaftlichen Fortschritte und die Umgestaltung der Gesellschaft die Lage der Menschen zu verbessern. Zu besichtigen waren diese Fortschritte in den seit 1851 periodisch stattfindenden Weltausstellungen als Leistungsschauen bürgerlicher Potenz. Die dahinter stehende Ideologie brachte Prinz Albert treffend zum Ausdruck, als er die industrielle Technik und ihren Fortschritt eben auch als Quelle moralischen Fortschritts bezeichnete.[14] Die Freisetzung des Einzelnen und seiner kreativen Energien, das Projekt des bürgerlichen Verfassungsstaates und die Aneignung der Natur durch die Entwicklung der Wissenschaften, all dies diente somit auch der Hebung des allgemeinen materiellen Wohlstands und der moralischen Entwicklung des Menschengeschlechts und blieb potentiell unbegrenzt, solange sie eben im Rahmen der bürgerlichen Ordnung stattfand.

An dieser Stelle meldete die marxistische Sicht Widerspruch an – weniger an dem zugrunde liegenden Fortschrittsbegriff als vielmehr an der Gleichsetzung desselben mit der bürgerlichen Ordnung. Hegels Idee eines Gangs des Geistes durch die Weltgeschichte vom Kopf auf die Füße stellend präsentierte Karl Marx eine Geschichtsphilosophie, in der aus der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen her-aus die Geschichte nicht mit der bürgerlichen Gesellschaft, sondern erst mit der darauf folgenden kommunistischen Gesellschaft ein Ende haben sollte, genauer: Die Vorgeschichte der Menschheit war mit dem Heraufkommen der kommunistischen Gesellschaft beendet.

Bürgerliche Produktionsweise und Handel schaffen lediglich die materiellen Bedingungen der nachbürgerlichen Gesellschaft. Unklar blieb, ob sich diese Umwälzung zwangsläufig aus der Entwicklung der Produktivkräfte ergab oder doch des Tätigwerdens eines wie auch immer definierten revolutionären (oder später: evolutionären) Subjekts bedurfte. Entscheidend blieb die Möglichkeit der Aneignung der Produktivkräfte, mit dem nicht nur eine historische Entwicklung von Klassenkämpfen ihr Ende finden, sondern auch der Sprung vom Reich der Notwendigkeit in das der Freiheit gelingen sollte. Damit war auch die Aufhebung der mehrfachen Entfremdung des Menschen vollzogen.

Stärker noch als in der bürgerlichen Leitideologie war der Marxismus durch die um-fassende geschichtsphilosophische Fortschrittsgewissheit gegen empirisch fundierte Einwände immun; die Leitvorstellung industriell induzierten Fortschritts trübte sich im real existierenden Sozialismus auch dann nicht ein, als in westlichen Ländern schon längst über Grenzen des Fortschritts laut nachgedacht wurde. So blieben Kritiker des Fortschrittsgedankens im real existierenden Sozialismus randständig,[15] schon allein deshalb, weil mit Engels in der geschichtsphilosophischen Gesamtschau argumentiert werden konnte, dass es in der Geschichte nichts gebe, was nicht, wenn auch oft auf einem ungeheuren Umwege, letztlich in der einen oder anderen Weise dem menschlichen Fortschritt diene (MEW 38, 363).

Sowohl in der bürgerlichen als auch in der sozialistischen Grundsicht blieb die Möglichkeit des Missbrauchs der ldee des Fortschritts aber der dunkle Zwilling der im Fort-schritt enthaltenen Heilsversprechen. Schon Turgot hatte den hoch entwickelten Nationen die Rolle zugesprochen, Menschheitserzieher zu werden, und im Europa des frühen 19. Jahrhundert galt es als ausgemacht, dass sich das zivilisatorische Niveau der europäischen Staaten deutlich von dem in der arabischen oder afrikanischen Welt unterscheidet. Die Welt wurde mit der europäischen Elle vermessen; Kultur übergreifende Perspektiven, wie sie etwa in den Lettres Persanes von Montesquieu ihren Ausdruck fanden, blieben die Ausnahme.

Mit der Übernahme biologischer Kategorien in die Sozialwissenschaft – der These, dass sowohl die Natur als auch die menschliche Gesellschaft ähnlichen Gesetzen unterworfen sind – war vor allem mit den Schriften von Herbert Spencer ein neues Kapitel aufgeschlagen. Spencer prägte die später als sozialdarwinistisch diskreditierten Termini des „survival of the fittest” und des „struggle for existence”. Bei Spencer waren diese Prozesse eingebettet in ein allgemeines Fortschrittsgesetz, das sich prinzipiell in allen Lebensbereichen gleich vollzog, nämlich in der Entwicklung vom unzusammenhängenden Homogenen zum wechselseitig abhängigen Heterogenen. Wegen der Naturwüchsigkeit des Prozesses wollte Spencer dem Staat nur eine passive Rolle zuteilen, weil sich die Gesellschaft als System selbst regulierte, der Staat also nur störend sein konnte. Dieser in Fortschrittsgewissheit eingetauchte staatsferne Liberalismus diente als politische Legitimationsideologie, aber Versatzstücke dieser Theorie konnten dunkleren Zwecken zugeführt werden. So wurde die Biologisierung der sozialen Beziehungen zum Einfallstor rassistischer ldeen, die sich entweder kollektiv auf die unterschiedlichen Entwicklungsstufen menschlicher Rassen bezogen oder sich individuell mit eugenischen Lehren verbanden.

Aus Spencers Theorien konnte man auch das Gleichzeitige ungleichzeitiger Entwicklung ableiten. Anders als im 18. Jahrhundert, als die Zuordnung von frühen und späten Kulturen noch wesentlich in der Geschichtsphilosophie selbst stattfand, vollzog sie sich nun Kultur vergleichend, und hier hatten die europäischen Staaten durch die Praxis ihrer kolonialen und imperialen Politik reichhaltiges empirisches Anschauungsmaterial. Was aber war die Verpflichtung der „höher entwickelten”, also westlichen Kultur, gegenüber den „niedriger” entwickelten? Was war „the white man’s burden” (Rudyard Kipling)? Hatte man gegenüber weniger entwickelten Völkern eine Art Treuhandschaft, eine Verpflichtung, wie ein Erwachsener einem Kind gegenüber? Der Imperialismus war zwar zunächst ein Mittel der Selbstbehauptung, er ließ aber auch Raum für ethisch fundierte Missionsideen, die beinahe ein Jahrhundert hindurch imfür ethisch fundierte Missionsideen, die beinahe ein Jahrhundert hindurch im Namen des Fortschritts kulturelle Horizonte einer Zwangsmodernisierung unterzogen.

Der Export des westlichen Modernisierungsmodells endete nicht mit der Dekolonisierung.

Die Entwicklungstheorie postulierte unterschiedliche Stufen ökonomischer Entwicklung als Masterplan der Industrialisierung,[16] und noch in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts diente der so genannte „Washington Consensus” als universale Blaupause zur Überwindung von Überschuldungskrisen in Entwicklungsländern.

Aber auch das sozialistische Pendant zur bürgerlichen Fortschrittsideologie betrieb Zwangsmodernisierungen auf einer antizipierten imaginierten Entwicklungslinie, seien es die Methoden der Zwangsindustrialisierung in der Sowjetunion oder die Kulturrevolution in China. Immer aber konnten die Opfer in historischer Gesamtschau gerechtfertigt werden weil am Ende der Geschichte das Heilsversprechen alles menschliche Leiden als geschichtliche Notwendigkeit aufheben würde. Der ökonomische Sündenfall, die so genannte ursprüngliche Akkumulation, mit der die strukturelle Gewalt ökonomischer Abhängigkeiten in die Welt gekommen war (MEW 23, 741-791), konnte nur historisch, unter Führung einer aufgeklärten Elite, überwunden werden, sofern die materiellen Bedingungen vorlagen. Eben hier lag für Marx und Engels der geschichtliche Auftrag der großen historischen Völker gegenüber den weniger entwickelten, und deshalb war es in der Zukunftsperspektive der Befreiung auch richtig, dass Mexiko von den ‚ USA erobert oder Algerien von Frankreich kolonisiert wurde: Nur so wurden die objektiven Voraussetzungen für eine (beschleunigte) Entwicklung geschaffen.

Mit der Entkopplung des Fortschritts von der geschichtsphilosophischen Generallegitimation wird der Fortschritt problematisch. In Deutschland entstand schon im 19. Jahrhundert durch den Historismus eine Gegenbewegung zu der ldeologie eines universalgeschichtlich wirksamen Fortschritts. Im Diktum Leopold Rankes, alle Epochen sei-en unmittelbar zu Gott, spiegelte sich auch eine Skepsis gegenüber dem Universalismus eines aufklärerischen Denkens, der die unterschiedlichen kulturellen Horizonte der Identitätsbildung außer Acht ließ. In der Tradition von Rousseau konnte die Frage gestellt werden, ob sich der Mensch durch die immer stärkere Entfernung von der Natur, durch den Versuch ihrer Beherrschung, nicht von seinem eigenen Wesen entferne. Schließlich griffen konservative Denker des 19. Jahrhunderts die Frage auf, ob eine vernünftige Ordnung angesichts der Dynamik der Veränderung noch möglich sei. In diesen fortschrittskritischen Affekten spielten sicherlich die Ressentiments gegen die Stadt, gegen die Auflösung der überkommenen Ordnung, die Lockerung der Sitten und Traditionen eine Rolle, aber auch das Unbehagen angesichts einer sozialen Frage, die sich nicht mehr durch bloße Caritas oder Philanthropie lösen ließ. Auch die Entwicklung der Soziallehre der katholischen Kirche mit ihrem Gründungsdokument „De Re-rum Novarum” 1891 ist in diesem Zusammenhang zu sehen. So lagen schon Ende des 19. Jahrhunderts all jene Versatzstücke der Technik- und Fortschrittskritik vor, derer sich die Alternativbewegungen ab den siebziger Jahren zunehmend bedienten.[17]

Zeitweise war mit dem technischen Fortschritt (der ja auch sich in der militärischen Technik niederschlug) die Hoffnung verbunden, dass der friedliche Austausch der Staaten untereinander der allgemeinen Befriedung der internationalen Beziehungen diente.Die Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs hat diesen Hoffnungen eine deutliche Abfuhr erteilt. Mit dem Zivilisationsbruch des Holocaust im Zweiten Weltkrieg wurden zentrale Annahmen der Moderne und der Fortschrittsideologie fragwürdig. In der Kritik an der positivistisch halbierten Vernunft trafen sich die Zeitkritik der Frankfurter Schule und konservative Denkströmungen.[18]

Das zwanzigste Jahrhundert ist gegenüber den großen Narrativen skeptisch geworden, weil ein Grundwiderspruch erkennbar wurde. Der bürgerliche Staat zog seine Legitimation aus dem Versprechen, umfassende Sicherheit zu garantieren: Leben und Freiheit der Einzelnen zu schützen und auch die materielle Besserung der Lebensumstände herbeizuführen durch die Entfesselung der innovativen Kräfte. Am Ende des 20. Jahrhunderts stand die Erkenntnis, dass gerade dieser Prozess Sicherheit umfassend gefährden können. Mehr noch: Die Entwicklung der Technik, häufig auch aus der Notwendigkeit entstanden, Risiken zu minimieren, schuf neue und größere Risiken, auf die wiederum technische Antworten gesucht wurden. Hieraus konnten zwei beinahe entgegengesetzte Folgerungen gezogen werden: Entweder war die Krisenhaftigkeit der Technik eigen, ein unabwendbares Schicksal, dass fortzusetzen wir aus der Eigendynamik der technischen Entwicklung heraus gezwungen sein werden, weil neue Technik Folgetechnik von Technikfolgen ist[19] oder wir hatten die Mahnung Bacons noch nicht genügend beherzigt dass nur der die Natur beherrschen könne, der sie verstehe. Damit wären Technikfolgen ein vorübergehendes Problem, dem mit zunehmendem Verständnis der Natur beizukommen wäre. Die ökologische Krise wäre kein Argument gegen den technischen Fortschritt, sondern lediglich gegen Formen der Technisierung, denen das notwendige ökologische Wissen fehlt.[20]

Der Verlust der geschichtsphilosophischen Metanarrative ist heute eine wesentliche Belastung für die Akzeptanz von Technik und Fortschritt. Gerade zu einem Zeitpunkt, an dem nach der Überwindung des Ost-West-Konflikts das „Ende der Geschichte” (Francis Fukuyama) ausgerufen werden konnte und durch die Globalisierung und die Verflechtung aller Nationen eine eigentliche Weltgeschichte sich manifestiert, verliert
die dahinter stehende bürgerliche Leitvorstellung des Fortschritts zumindest in Teilen Europas an Kohäsionskraft. Diese Erschöpfung der utopischen Energie hatte sich schon im Absterben der säkularen Begründung des Fortschritts gezeigt; Technik erscheint als Möglichkeit der Zerstörung, der Manipulation, der Herrschaftsausübung, als Instrument des Eindringens in Freiheitsräume; nicht umsonst sind die großen negativen Utopien des 20. Jahrhunderts in diesem Themenbereich angesiedelt (J. Samjatin, A. Huxley, G. Orwell). Aber nicht nur die säkulare Begründung des Fortschritts ist zerbrochen, zudem findet in einer nun säkularisierten Welt keine causa finalis mehr verbindliche Antworten auf das „Warum” menschlichen Tuns, weil ja die moderne Fortschrittsidee schon auf einer Absage an jeglichen Telos begründet war. Die Sinngebung menschlichen Tuns vollzieht sich unter einem leeren Himmel, in einem Erwartungsraum ohne verbindliche normative Leitplanken.

Die theologische Diskussion nimmt darauf Bezug, indem sie von einem veränderten Bild von Wahrheit spricht, das das technische Denken transportiert: Die Welt erscheint nicht mehr als das feste Gehäuse des Seins, sondern als Ort der Möglichkeit; wahr ist, was der Mensch gemacht hat bzw, machen kann.[21] Von dieser mangelnden Seinsveran-kerung ist es nur ein kurzer Weg zu dem, was Günter Anders einmal als die „prometheische Scham” bezeichnet hat: dass sich der Mensch schäme, geworden statt gemacht worden zu sein.22 Sowohl für Ratzinger wie auch für Anders folgt aus diesem Befund die Möglichkeit der Selbstverdinglichung des Menschen, die freilich einem wirklichen Humanum feindlich gegenübersteht.

Aber auch die Frage nach dem „Wohin” des Fortschritts ist kaum zu beantworten, setzt sie doch nicht nur eine Verständigung über Ziele, sondern auch einen Konsens über Steuerungsmöglichkeiten voraus. Gerade die Frage der Steuerungsmöglichkeiten ist umstritten. Die Technisierung der Welt bis hinein in die sozialen Zusammenhänge hatte schon in der Sicht von Max Weber ein „ehernes Gehäuse der Hörigkeit” geschaffen. Dieser Befund scheint in den neueren Technikdiskussionen unter dem Begriff der technozentrischen Perspektive noch einer Verstärkung zu erfahren. Gegenüber soziozentrischen Ansätzen, die von einer gesellschaftlichen Steuerungsmöglichkeit der Technik ausgehen, betont die technozentrische Perspektive die Eigendynamik technischer Entwicklungen und die Tiefenumformung der Gesellschaft nach technischen Imperativen.[23]

Die Voraussage des Francis Bacon, dass sich der technische Fortschritt durch Erfindungen beschleunigen werde, ist längst zu einem exponentiellen Wachstum des Wissens geworden. Gleichzeitig hat man sich von der noch in der Logik Bacons liegenden Argumentation verabschiedet, dass die Annäherung an die ja gleichbleibende Natur eine Zielbestimmung beinhaltet, die den Fortschritt begrenzt. Technischer Fortschritt gebiert sich selbst, ohne Bezug auf einen Entwurf des guten Lebens. Freilich bleibt der Bezug zu Wachstum, der Steigerung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und letztlich der Verteilung von Gütern, Ressourcen und Teilhabechancen erhalten. Diese Form des Wachstums ist aber normativ blind; Verteilung von Zuwächsen allein ist als normatives Ziel nicht ausreichend. Zu drängend sind die Fragen nach den Folgekosten: Für die Natur, für die kulturelle Identität, für die politische Ordnung. Wachstum erscheint heute als bloße Restgröße eines einstmals emphatischen Fortschrittsbegriffes, der auf den ganzen Menschen zielte und in ihm mehr sah als nur einen Kunden oder Konsumenten.

Ein affirmativer Begriff des Fortschritts kann deshalb heute nur ganzheitlich gedacht werden. Nach dem Ende der ldeologien und der Historisierung des bürgerlichen Fortschrittsoptimismus kann Fortschritt (und Wachstum) nicht mehr auf die im 18./19. Jahr-hundert entwickelten Sinnhorizonte als Generallegitimation von Wachstum, technischer Innovation und gesellschaftlicher Veränderung zurückgreifen. Der Hinweis auf die Risiken technologischer Entwicklung ist dabei so richtig wie der Befund der Globalisierung auch der Folgewirkung von Technologien und der möglichen Depletion natürlicher Ressourcen. Gleichzeitig gilt es festzuhalten, dass die tatsächlichen Freiheits- wie Lebensmöglichkeiten sich den Erfolgen von Naturwissenschaft und Technik in den letzten beiden Jahrhunderten verdanken. Deswegen wäre ein Ausstieg aus Naturwissenschaft und Technik und eine generelle Absage an die Idee des Fortschritts ebenso unrealistisch wie inhuman, zumal die heutige Situation keineswegs der paulinischen Endzeit unter negativen Vorzeichen gleicht. Die notwendige Rettung eines affirmativen und emphatischen Begriffs des Fortschritts lässt sich nur auf der Ebene erneuter begrifflicher Schärfung vollbringen. Dazu gehören:

  •  Eine Verabschiedung eines rein positivistischen Denkens in den Sozialwissenschaften.[24] Die Gesellschaft ist mehr als der Experimentierraum für Sozialingenieure, sie ist Sinnhorizont und damit aufgeladen mit Werten, die sich der sozialwissenschaftlichen Beurteilung entziehen. Gerade die Wirtschaftswissenschaften haben mit ihrer Verkürzung des Menschen zum Konsumenten und Marktteilnehmer und der falschen Heuristik des homo oeconomicus einen nicht zu unterschätzenden Flurschaden angerichtet.
  •  Die Verabschiedung einer utilitaristischen Momentbetrachtung von Kosten und Nutzen zugunsten eines organischen Bildes von Geschichte und Gesellschaft, die in einer Ethik der Fernverantwortung gründet;[25]
  • Eine neue Demut im Umgang mit der Natur, die anerkennt, dass der Mensch zwar die Natur bearbeitet, aber als Teil der Natur damit aber auch letztlich in seine eigene Naturhaftigkeit eingreift (Idee der Mitgeschöpflichkeit und die Verbindung von Umwelt- und Humanökologie);[26]
  •  Die Rückbindung der Potenzen des Fortschritts an eine normative Leitidee außerhalb der reinen materiellen Bedürfnisbefriedigung (qualitativer Fortschritt). Damit rücken die nicht-marktrelevanten Tätigkeiten des Menschen in den Mittelpunkt, die zu einem erfüllten Leben gehören: Familie, Ehrenamt, Kultur, Muse, kreatives Schaffen, Spiritualität, Naturerleben und vieles mehr — also Tätigkeiten jenseits der Arbeitswelt. Freilich muss die Arbeitswelt selbst, angesichts der kulturellen Anomie von Produktionssphäre und Freizeit[27], ihren Beitrag leisten: Durch höhere Zeitautonomie, Änderungen der Arbeitsorganisation, Abgrenzung von Arbeit und Freizeit (work-life-balance), auch durch Schaffung von Bedingungen, die die Arbeit selbst als sinnstiftend erfahrbar macht, etwa durch Modelle der Teilhabe.

  • Der Abschied von dem einen Modell der Modernisierung, das den Vorrang kultureller Horizonte gegenüber den Prozessen der Vereinheitlichung, Standardisierung und Rationalisierung erhält.
  • Ein solcher ganzheitlicher Begriff des Fortschritts kann allerdings nicht verordnet werden, sondern kann sich nur als das Resultat einer auf den ganzheitlichen Menschen gerichteten Erziehung verstehen.[28] Dies würde sicherstellen, dass die in dem bürgerlichen Fortschrittsmodell angelegte Verknüpfung von Wohlstand durch Wachstum, technischer Entwicklung und politischer Freiheit in einer demokratischen Ordnung auch unter geänderten Bedingungen erhalten bleiben kann. Zumindest dieses Versprechen der bürgerlichen en Fortschrittsideologie lohnt es, auch unter veränderten Bedingungen zu bewahren.[29]

    [1] Zur Terminologie von Fortschrittsdimensionen vgl. Erwin Faul, „Ursprünge, Ausprägungen und Krise der Fortschrittsidee”, Zeitschrift für Politik 1984, S. 241–290; 250f.
    [2]Robert Merton, Auf den Schultern von Riesen. Frankfurt am Main 1983.
    [3] Barbara Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats. Berlin 1986.
    [4] Wolfgang Röd, Geometrischer Geist und Naturrecht. München 1970.
    [5] Thomas Hobbes, Leviathan. Frankfurt am Main 1989, S. 96.
    [6] Hierzu Manfred Brocker, Arbeit und Eigentum. Der Paradigmenwechsel in der neuzeitlichen Eigentumstheorie. Darmstadt 1992.
    [7] Ernest Gellner, Nations and Nationalism. Ithaca 1983.
    [8] Richard Saage, Politische Utopien der Neuzeit. Darmstadt 1991, S. 77f£
    [9] Carl L. Becker, The Heavenly City of the Eighteenth-Century Philosophers. New Haven und Lon-don 1932.
    [10] Anne Robert Turgot, Über die Fortschritte des menschlichen Geistes. Frankfurt am Main 1990.
    [11]Jean Antoine Nicolas de Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes. Frankfurt am Main 1963.
    [12] Sein Hauptwerk, das Systeme de politique positive (1851–1854) ist in der deutschen Ausgabe 1923 unter dem Titel „Soziologie” erschienen, der bei Comte selbst nur im Untertitel vorkommt. Dies ist eine eigentümliche Mischung einer aus dem Lateinischen stammenden Vorsilbe (societas) und einer griechischen Nachsilbe (logos); ähnliche Wortbildungen wie Psychologie und Theologie bedienen sich pur des Griechischen.
    [13] Albert 0. Hirschmann, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus
    vor seinem Sieg. Frankfurt am Main 1987.
    [14] Zitiert nach Bedrich Loewenstein, Der Fortschrittsglaube. Geschichte einer europäischen Idee. Göttingen 2009, S. 287.
    [15] Unter den Ausnahmen: Wolfgang Harich, Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der Club of Rome. Hamburg 1975, aber auch die frühen, beinahe ökologischen Anklänge bei Karl Liebknecht; hierzu Ossip K. Flechtheim, Von Marx bis Kolakowski. Sozialismus oder Untergang in der Barba‘
    rei? Köln und Frankfurt am Main 1978, 5.133f£
    [16] Walt W. Rostow, The Stages ofEconomic Growth. A Non-Communist Manifesto. Cambridge 1960.
    [17] Vgl. Rolf Peter Sieferle, Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart. München: Beck 1984.
    [18] Paradigmatisch Theodor Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am
    Main 1969 (erstmals 1947); Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stuttgart 1955.
    [19] Ulrich Teusch, Die Katastrophengesellschaft. Zürich 2008, S. 210.
    [20] Günter Ropohl, Technologische Aufklärung, Suhrkamp 1991, S. 251.
    [21] Joseph Ratzinger, Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das apostolische Glaubensbekenntnis. München 2005 (Erstausgabe 1968), S. 56–59.
    [22] Günter Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. München 1968 (Erstausgabe 1956); S. 21ff.
    [23] Grundlegend Ulrich Teusch, Freiheit und Sachzwang. Untersuchungen zum Verhältnis von Technik,
    Gesellschaft und Politik. Baden-Baden 1993.
    [24] Immanuel Wallerstein, Die Sozialwissenschaft „ kaputtdenken „. Die Grenzen der Paradigmen des
    19. Jahrhunderts. Weinheim 1995.
    [25] Grundlegend Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt am Main 1979.
    [26] Aus Sicht der katholischen Soziallehre vgl. die Enzyklika Sollicitudo rei socialis (1987) bes. § 34.
    [27] Daniel Bell, Die Zukunft der westlichen Welt. Kultur und Technologie im Widerstreit. Frankfurt am
    Main 1976.
    [28] Hierzu Martha Nussbaum, Not For Profit. Why Democracy Needs the Humanities. Princeton und
    Oxford 2010.
    29 In einem solchen Begriff des Fortschritts würden sich m. E. auch die Differenzen zwischen bürgerlichen Fortschrittsbefürwortern und ihren Kritikern vermutlich aufheben. Paradigmatisch in: Karl-Heinz Paque, Wachstum! Die Zukunft des globalen Kapitalismus. München: Hanser 2010; sowie Meinhard Miegel, Exit. Wohlstand ohne Wachstum. Berlin: Propyläen 2010.

    nach oben