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Fortschritt der Demokratie

aus: vorgänge Nr. 195 (Heft 3/2011), S. 17-29

Der „Fortschritt” ist wie „Zukunft” eine gedankliche und begriffliche Erfindung des 18. Jahrhunderts. Sie erfolgt, wie vor allem die begriffsgeschichtlichen Forschungen Reinhart Kosellecks und die in dem mehrbändigen Lexikon „Geschichtliche Grundbegriffe” niedergeschriebenen Einzelforschungen gezeigt haben, im Zuge der Wandlung des historischen Bewusstseins von einem Gedächtnis der Vergangenheit, das in „Geschichten” erzählt und tradiert wurde, hin zu dem neuen Kollektivsingular „Geschichte”. Erst als Geschichte betrachtet, lässt sich der als strukturell kontinuierlich unterlegte Zeitstrom aus der Vergangenheit durch die Gegenwart hindurch bis in die Zukunft projizieren, die ungewiss ist und in der etwas grundlegend Neues passieren könnte. Erst jetzt wird es möglich, diese zukünftige Geschichte als „Fortschritt” zu interpretieren und zu werten, wie es das überwiegend optimistische Aufklärungsdenken des 18. Jahrhunderts begonnen hat und wie es vor allem im wissenschaftsgläubigen 19. und 20. Jahrhundert lange Zeit dominant blieb.

Zwar gab es auch immer den fortschrittsskeptischen Blick der Konservativen, die den Akzent stärker auf die Verluste und die Gefahren als auf die Verbesserungen setzten, die die Zukunft bringen würde; sie begleiteten die Geschichte des Fortschritt spätestens seit Burkes Zerrbild der Französischen Revolution und stellten den Fortschrittsglauben unter Ideologieverdacht. Aber, wie die bekanntesten und einflussreichsten Beispiele des 19. Jahrhunderts, Hegels Geschichtsphilosophie einerseits und Tocquevilles Bericht über die Demokratie in Amerika anderseits zeigen: Befürworter und Kritiker gingen zumeist gleichermaßen davon aus, dass die Gegenwart eine Zukunft habe, die mit ständigen Veränderungen einherginge; die Anschauung, dass nichts bleibt, wie es ist, dass also alle jetzt und in der Zukunft ,in der Geschichte‘ leben und dass diese Zukunft ungewiss ist, liegt seitdem dem modernen Weltbild zugrunde. Das dynamische lineare Modell hat sich gegenüber dem älteren Kreislaufdenken durchgesetzt; „Fortschritt” und „Dekadenz” bezeichnen einerseits die extremen Gegenpositionen, werden aber schon früh von einer radikalisierten Aufklärung bei Nietzsche in ihrer Dialektik erkannt: „Es hilft nichts: man muss vorwärts, will sagen Schritt für Schritt in die decadence (— dies meine Definition des modernen ,Fortschritts …)“ (Nietzsche, zit. nach Fischer 1999, 48).

Die Anhänger des Forschritts, politisch erst mit der aufstrebenden bürgerlichen Gesellschaft gegen die Tradition von Feudalismus und Adelsherrschaft, dann seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch mit der Arbeiterbewegung gegen Kapitalismus und bürgerliche Herrschaft verbunden, erwarten von den Veränderungen, die die Zukunft bringt, Verbesserungen. Mal, weil sie als die unmittelbaren Folgen von Aufklärung, Wissenschaft oder allgemein dem Eindringen der Vernunft in alle gesellschaftliche Sphären erwartet werden, mal, weil sie durch diese objektiven Faktoren zwar ermöglicht werden, aber noch von den ,fortschrittlichen‘ Kräften erkämpft werden müssten. „Fortschritt” heißt dann also stets „Verbesserung”, die je nach der gesellschaftlichen Sphäre operational bestimmt werden muss: in der Technik effizienterer Energie- und Ressourceneinsatz, in der Wirtschaft höherer Gewinn, in der Medizin weniger Krankheit und mehr Heilung durch Prävention und Behandlung, im Sport ,schneller, höher, weiter‘ usw.

Komplizierter ist die Frage nach dem Fortschritt in der Politik im Allgemeinen und der Demokratie im Besonderen zu beantworten – und das insbesondere unter den Bedingungen einer durch Aufklärung selbstreflexiv gewordenen Moderne, die mit der Metaphysik als Begründung ihrer gesellschaftlichen und politischen Existenz abgeschlossen hat. In dieser „politischen Gesellschaft” (Greven 2009a) mit ihrer unreduzierbaren Pluralität von Milieus und Lebenslagen, Werten und Ideologien, Interessen und Anliegen, kann die funktional notwendige Geltung allgemeiner Normen und Regelungen nur noch politisch erzeugt, aufrechterhalten und weiter entwickelt werden. Wer immer seine Werte oder Auffassungen zur geltenden Regel oder zum Gesetz der Gesellschaft machen will, muss sie politisieren; umgekehrt kann alles vom Taschengeld, das Eltern ihren Kindern schulden bis zu historischen Fakten, wie im Gesetz gegen die Auschwitz-Lüge, durch Politisierung zur verbindlichen Anerkennung gebracht werden. Weil in der politischen Gesellschaft keine metaphysischen, allgemeiner vorpolitischen Ansprüche allgemeine Geltung erfolgreich beanspruchen können, weil insofern alles politisiert werden kann, sind die Politik und das Politische in ihr durch Kontingenz und Dezision gekennzeichnet.

Für die Frage nach der Bedeutung des Fortschritts der und in der Demokratie hat das gravierende Folgen, auf der allgemeinsten Ebene die, dass ein Konsens, eine ungefragte Geltung dessen, was genau als Fortschritt der oder in der Demokratie gelten können sollte, nicht zu erwarten ist. Denn die moderne Demokratie ist nicht nur der historisch einmal institutionalisierte und in bestimmte Verfahren geronnene gesellschaftliche Prozess der Herstellung verbindlicher gesellschaftlicher Entscheidungen über diese oder je-ne politisierten Sachverhalte, sondern auch über das, was ggf. den Fortschritt der Demokratie selbst ausmachte, könnte nur in ihr gestritten und letztlich entschieden werden. Mit einem Wort: die Demokratie ist reflexiv geworden, das bedeutet, in ihr ist ihr eigener kontingenter Entscheidungscharakter (fast) allen inzwischen bewusst geworden. In ihr weiß man, dass sie weder notwendig, noch selbstverständlich oder ,natürlich‘ ist — aber eben auch nicht unmöglich. Weiß man deshalb auch, was sie in Zukunft sein wird? Das Bewusstsein von dieser Reflexivität schafft eine Reihe von praktischen Problemen und Paradoxien mit denen vormoderne Gesellschaften, auch wenn sie sich wie die athenische Polis als ,demokratisch‘ ansahen, nicht zu kämpfen hatten. Wer soll in der Gründungssituation einer Demokratie über die Mitgliedsrechte verfügen, um ihre Zukunft exklusiv zu bestimmen, wer danach, wenn sie einmal konstituiert und so selbstverständlich sind? Was heute am weltweiten Problem des Umgangs mit Migration ein praktisches Problem für alle demokratischen Regierungen aufwirft, macht man sich am besten rückwirkend in der Geschichte der Demokratie, mit Kosellecks (1979) berühmter Formulierung also ihrer ,vergangenen Zukunft‘ noch einmal deutlich: sollten die Frauen, denen über ein Jahrhundert und mehr die Mitgliedsrechte als Demokratinnen verweigert wurden, über die Frage, ob sie ihnen zukünftig zugebilligt werden sollten, mitbestimmen können oder nicht? Aus heutiger Sicht war es Unrecht, ihnen damals die Mitwirkung zu versagen. Wie steht es aber heute mit den Mitgliedsrechten der bereits im Inland lebenden Migranten, oder bei der Frage der Absenkung des Wahlalters? Nimmt man die umgekehrte Perspektive ein, so stellt sich das Problem, das beispielsweise seit Lockes entsprechender Kritik an Hobbes lange die Geschichte der Vertragstheorie begleitet hat: wenn es die Zustimmung der Einzelnen zum Gesellschaftsvertrag sein soll, die seine Legitimität begründet, wie kann dann der Vertrag oder heute die politische Verfassung eine legitime Bindungswirkung für die nachfolgenden Generationen entfalten, wie sie beispielsweise im Grundgesetz mit der so genannten ,Ewigkeitsklausel‘ des § 79 (3) scheinbar für alle Zeiten festgeschrieben wurde? Mag man den Versuch bei der Festschreibung der Menschen- und Grundrechte wegen ihres postulierten universalistischen Charakters noch logisch nachvollziehen können, so ist die Frage, ob beispielsweise die föderalistische Ordnung der Bundesrepublik oder der Schutz von „Ehe und Familie” ebenso selbstverständlich der Veränderung in der Zukunft kraft legaler Satzung entzogen bleiben können, nicht mehr so einfach zu beantworten. Jedenfalls dann nicht, wenn es sich nicht mehr um das bewusste Ergebnis von Entscheidungen etwa des Gesetzgebers oder von Gerichten handelt.

Die Ursache dafür liegt nicht nur in den oft und lange diskutierten normativen Problemen, sondern – mindestens zum Teil – in dem nicht-intentionalen Teil jener Veränderungen in der Gesellschaft die die Zukunft herbeiführt, die gemeinhin mit dem etwas hilflosen Titel „sozialer Wandel” überschrieben werden. Er scheint einfach zu passieren, ohne dass er von jemandem gewollt oder bewusst herbeigeführt wurde – und ist doch nichts anderes als das oft dem Zeitbewusstsein einer Gesellschaft erst spät oder nachträglich erkennbar und begrifflich zu fassende Ergebnis der Aggregation vieler einzelnen Entscheidungen, Handlungen und Verhaltensweisen. Wird dafür das ebenso unklare Wort „Entwicklung” benutzt, so schwingt immerhin noch die Vorstellung mit, dass sich die Veränderungen der Zukunft irgendwie aus dem Vorherigen ergeben, eben „entwickelt” haben und damit einen „Fortschritt” gebracht haben könnten. Aber „sozialer Wandel” bringt eben auch nicht selten ganz Neues hervor, das in ihm erst entsteht, also emergent ist – und dann stellt sich die Frage, an welchem Maßstab oder Kriterium gemessen zu beurteilen ist, ob es sich dabei um „Fortschritt” im Sinne einer Verbesserung handelt.

Die Frage ist, ob das, was wir uns gemeinhin als eine Demokratie vorstellen, von solchen Prozessen ausgenommen werden kann, oder ob auch sie dem sozialen Wandel unterliegt – und ob man in diesem Fall Anlass hat, von „Fortschritt” zu sprechen.

Einfach scheint der Fall zu liegen, wenn man als ihre normative Leitidee die Verwirklichung der „gleichen Freiheit” ihrer Mitglieder durch entsprechende grundrechtliche Garantien und Mitwirkungsrechte ansieht – was relativ unkontrovers sein dürfte. Als „Fortschritt” würde man dann sicher den steigenden Inklusionsgrad beschreiben können, durch den die Zahl der Mitwirkungsberechtigten jener der von gesetzlichen Regelungen unmittelbar Betroffenen immer mehr angeglichen wird – etwa durch Ausweitung des aktiven und passiven Wahlrechts unabhängig von ursprünglichen Besitzstandsanforderungen und vom Geschlecht.

Kompliziert wird es aber sofort, wenn es um den Inklusionsgrad der Regelungsprobleme und -materien geht, auf den das demokratische Entscheidungsverfahren anwendbar sein soll. Als in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts unter der Regierungsparole „Mehr Demokratie wagen!” Willy Brandts einige die „Demokratisierung aller Lebensbereiche” (Vilmar 1973) forderten, sahen andere genau darin eine Gefährdung der Demokratie (Hennis 1970), also keinen „Fortschritt”, sondern vielmehr eine „Systemveränderung” (Schelsky 1973). Schließlich geht es auch um die Entscheidungsverfahren und die mit ihnen verbundenen Erwartungen. War für die „moderne Demokratie” lange die Mehrheitsentscheidung nach vorangehender Diskussion und Meinungsbildung legitimatorisch zentral, so konkurrieren seit einiger Zeit „Deliberation” oder gar „Konsensbildung” zumindest in theoretischen Diskussionen und mancherlei praktischen Experimenten damit recht erfolgreich, sodass man heute von einer Dominanz der „deliberativen Demokratietheorie” (Habermas 1992) im Bereich der normativen Politiktheorie sprechen kann. Auch hier stellt sich die Frage des „Fortschritts”, das bedeutet, nach den Kriterien, die einer Beurteilung zugrunde gelegt werden können. Während die Vertreter der deliberativen Demokratietheorie „eine Rationalisierung der Demokratietheorie” behaupten, die „der mangelnden Effektivität und Irrationalität der Demokratie” Abhilfe schaffen können soll (Buchstein/Jörke 2003, 474ff), weisen Kritiker seit Langem darauf hin, dass sich ihr „Partizipations- und Vernunftanspruch … hart im Raum stoßen” (Abromeit 2002, 103) – was bedeutet, dass das eine nur auf Kosten des anderen zu haben sei. Vernunft generierende Deliberation lässt sich vor allem in exklusiven Expertengremien erwarten, ein Praxismodell fair gesellschaftsweite Partizipation ist sie kaum. Grundsätzlicher aber noch ist der Einwand gegen den zugrunde liegenden Politikbegriff handelt es sich bei freiheitlicher Politik um rationalisierbares Problemlösungshandeln, bei dem es eine zu ermittelnde „beste” Lösung gibt, oder sind die politischen Probleme nicht im Kern von der Art, bei der es darum geht, angesichts der unreduzierbaren Vielfalt der Meinungen und Wertungen durch gemeinsames Handeln und Entscheiden etwas zu bewirken, ohne dass jenen, die dabei momentan mit ihrer Auffassung unterliegen, zugemutet würde, ihr eigene Auffassung als falsch oder eben „irrational” anzusehen. Das Problem ist seit Rousseaus Auffassung, in der Demokratie gehe es um die Verwirklichung des vernünftigen Gemeinwillens, der volonte generale, bekannt und umstritten.

Da also, wo es um bewusste Entscheidungen geht, wie die „Demokratie” in die Zukunft fort zu entwickeln sei, zeigt sich bei allen angeführten Problemen, dass eindeutige Kriterien für den „Fortschritt” fehlen, dass der Streit darüber unvermeidlich ist und zur „modernen Demokratie” dazu gehört. Auch vermeintlich bloß theoretische Stellungnahmen innerhalb der Wissenschaft sind und bleiben Teil dieses Streits – der letztlich auch nicht mit wissenschaftlichen Mitteln entschieden werden kann.

Nicht viel anders sieht es hinsichtlich des sozialen Wandels aus. Jeder komplexere Begriff von Demokratie begreift sie als ein Ensemble von anerkannten Normen, Institutionen und Organisationen sowie dazu auf der Ebene der Individuen komplementären Einstellung und Praktiken. Während es auf den ersten Blick noch so erscheinen mag, als beträfe der schleichende soziale Wandel nur die Einstellungen und Praktiken der Individuen, führt jedes weitere Nachdenken sofort zu der Anschlussfrage, ob von deren Wandel und dadurch herbeigeführten Änderungen denn die Normen, Institutionen und Organisationen unbeeinflusst oder im Falle der Normen ihre Geltung untangiert bleiben können. Im Falle der Institutionen und Organisationen ist die Antwort eindeutig, denn sie bestehen und reproduzieren sich ja nur durch die Praktiken, die wiederum von den bewussten wie unbewussten Einstellungen zumindest mitgeformt werden: ändern sich letztere und über die Zeit nachhaltig, so müssen auch Organisationen und letztlich Institutionen ihre Form und ihren ,Gehalt‘ und ihre Funktion verändern – oder verschwinden.

Ein deutliches Beispiel, das für die Wahrnehmung und Zukunft der Demokratie nicht unbedeutend zu sein scheint, ist die Veränderung, die sich heute zunächst bei den politischen Parteien, dann weiterhin in jenem Bereich ergibt oder schon ergeben hat, der – jedenfalls in Deutschland – mit den Begriffen ,politische Willensbildung‘ einerseits, ,organisierte Interessenvertretung‘ andererseits beschrieben wird. Politische Willensbildung schien lange das unangefochtene Privileg der politischen Parteien gewesen zu sein, diese wiederum unverzichtbare Organisationen der modernen Demokratie. Damit ihre Mitwirkung an der Gesetzgebung über die parlamentarischen Fraktionen als legitim eingeschätzt wurde, galt innerparteiliche Demokratie, wie sie sogar das Grundgesetz und das Parteiengesetz in Deutschland vorschreiben, als unbedingte Voraussetzung – eine Voraussetzung, der in den Praxis und empirischen Forschung schon immer mit berechtigter Skepsis begegnet wurde. Das System der in Verbänden organisierten Interessen hingegen, einerseits als unverzichtbarer Bestandteil einer pluralen freiheitlichen Zivilgesellschaft gerade im Gegensatz zu den monolithischen Strukturen totalitärer Systeme angesehen, sollte zwar in der Öffentlichkeit für seine jeweiligen Anliegen Unterstützung mobilisieren und für deren gesetzliche Verwirklichung werben dürfen, aber dessen unmittelbare Einflussnahme auf den Gesetzgebungsprozess oder gar verwaltungsmäßigen Umsetzungsprozess galt als illegitim. Folglich war Lobbyismus lange Zeit die Bezeichnung eines eher anrüchigen Gewerbes, stand oft unter Korruptionsverdacht und wurde noch vor wenigen Jahren keineswegs als Bestandteil einer legitimen Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Gesetzgebers angesehen.Das alles hat sich heute faktisch und normativ doch sehr verändert. Handelt es sich um „Fortschritte” der Demokratie?

Die selbstmandatierte Mitwirkung gesellschaftlicher Organisationen gilt, solange ihr Anspruch, advokatorisch die Interessen der Allgemeinheit zu vertreten, als glaubwürdig erscheint, heute auch der normativen Demokratietheorie und einer durch sie gerechtfertigten Praxis von der kommunalen Ebene bis hinauf zur Europäischen Kommission als legitimer Bestandteil des demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses. Seit Jahren wird es unter Begriffen wie „Participatory Governance” (Kommission 2001) propagiert und praktiziert. Davon zeugen zahlreiche institutionelle Beteiligungsarenen, die solchem zivilgesellschaftlichen Engagement bereitgestellt und zu dem sie sogar eingeladen und ermutigt – und im Falle der EU sogar oft finanziert – werden. Der eigentliche Legitimationsgrund für diese bisher noch als Ergänzung der parlamentarischen Demokratie angesehene Entwicklung scheint neben dem advokatorischen Anspruch gemeinwohlorientierter Interessenvertretung die normative Bewertung von Partizipation als solcher als positiv und effektiv zu sein. Kritische Stimmen, dass eine solche Mitwirkung an verbindlichen Entscheidungsprozessen nicht ebenso auf der Gleichheit als normativer Leitidee der Demokratie beruht wie die auf Wahlen basierende repräsentative Demokratie, dass somit ungleiche Ressourcen und Kompetenzen über den Erfolg des Einflusses entscheiden, finden kaum Gehör.

Die empirische „Entzauberung partizipativer Demokratie” (Kohler-Koch/Quittkat 2012) kommt gegen das erfolgreiche Selbstlob und Lobbying von EU-Kommission und NGOs wie dem „Active Citizenship Network” kaum zur öffentlichen Wirkung. Ebenso wenig beeindruckt das Argument, anders als in der repräsentativen Demokratie mit Parteienkonkurrenz und Mehrheitsherrschaft könnte die Bürgerschaft gegenüber den so genannten „Governance-Networks” keine Verantwortlichkeit mehr ausmachen, folglich auch keine wirksame Kontrolle ausüben. Was früher einmal gegenüber der Regierung durch „Große Koalitionen” als schlagkräftiges Argument galt, nämlich der Verlust an sichtbarer Opposition auf Zeit, wird im Regierungsmodus der „Participatory Governance” zur Regel auf Dauer, ohne dass es ähnlichen Protest hervorriefe. Networks kann man weder wählen noch abwählen. Schließlich öffnet die Praxis von Regierungen und Verwaltungen, zivilgesellschaftlichen Organisationen mit Gemeinwohl-Anspruch die Teilnahme an Governance zu ermöglichen, der Opportunität der Regierenden Tor und Tür, darüber zu entscheiden, bei wem dieser Anspruch anerkannt und wem die Partizipation gewährt wird. Umgekehrt sind zivilgesellschaftliche Organisationen aus Eigennutz und zum Erhalt ihrer Mitwirkungs- und Einflussmöglichkeiten in der ständigen Versuchung, sich in die Vorgaben und Strukturen der angebotenen Partizipationsarenen einzufügen und nicht aus der Rolle des effizienten und Probleme lösenden Mitwirkenden am Governance-Prozess zu fallen.

Gerade der letzte Umstand hat inzwischen dazu geführt, dass aus der ursprünglich normativ so hoch bewerteten Partizipation von engagierten Bürgern und Bürgerinnen inzwischen das hoch professionalisierte Lobbying zivilgesellschaftlicher Organisationen geworden ist, die, mit beträchtlichen Budgets und dauerbeschäftigten Expertenstäben ausgerüstet, das Geschäft in Berlin und Brüssel betreiben – oft genug ohne innerverbandliche Transparenz und Mitwirkungsmöglichkeiten, die auch nur den Ansprüchen des Parteiengesetzes entsprechen würden. Die Gefahr der machtorientierten Verselbständigung von Stäben und Vorständen, die Robert Michels vor einem Jahrhundert mit dem ,ehernen Gesetz der Oligarchie‘ erklären wollte, gibt es schließlich nicht nur in politischen Parteien. Sie wird in heutigen Zeiten wissenschaftlich eher als „Principle-Agent-Problem” theoretisiert und stellt ganz praktisch die Frage: wie können die „Principles”, also die Mitglieder oder Spender zivilgesellschaftlicher Organisationen gewährleisten, dass die von ihnen beauftragten oder mandatierten „Agents” in Gestalt von hauptamtlichen Funktionären und Vorständen dem Organisationszweck in der jeweiligen Interpretation des „Principles” folgen und nicht ihre eigene Ziele verfechten?

Wollte man dieses Beispiel für die schleichende Veränderung der Demokratie in die Zukunft hinein zu einem relativ vollständigen Bild über den laufenden Veränderungsprozess ergänzen, so müsste man wohl ein ganzes Buch schreiben. Viele Aspekte sind ja auch bekannt und in aller Munde: Die immer stärkere inter- und transnationale Interdependenz und im Falle der EU zusätzlich das Erstarken der supranationalen Kompetenzen der Europäischen Kommission und des Europäischen Gerichtshofes, lassen viele bereits von der „Denationalisierung” oder gar vom „Ende des Nationalstaates” als maßgeblicher Politikarena sprechen. In der Wissenschaft ist die Frage umstritten, ob und in welchem Maße die tatsächlich gewachsene Interdependenz und Verflechtung, die in allen gesellschaftlichen Dimensionen, vor allem in der Wirtschaft, dem Recht und letztlich auch der Politik als empirisches Faktum unumstritten ist, nicht längst die Vorstellung einer demokratisch legitimierten und verantwortlich zu machenden Regierung im nur vermeintlich noch geschlossenen politischen Raum des Verfassungsstaates zur Illusion hat werden lassen.

Zwei Argumente sprechen dafür, dass das jedenfalls bisher nicht vollständig der Fall sein kann: immer noch kann man die gravierend unterschiedlichen Effekte von nationalem Regierungshandeln, kann man Erfolg oder Misserfolg nationaler Regierungen vergleichend beobachten. Nationales Regieren hat also weiterhin unbestritten Wirkungen und Relevanz. Zweitens muss man berücksichtigen, dass mindestens einigen nationalen Regierungen auf der inter- und transnationalen Ebene und im Zusammenspiel mit supranationalen Institutionen auch neue Handlungsspielräume und Entscheidungsmacht zuwachsen, die sich auch im nationalen Rahmen auswirken. Das „Spiel über die europäische Bande” ist auch und gerade bei der deutschen Regierung, etwa im Zuge der Einführung des Euro oder im Zuge der „Europäisierung” der Sicherheitspolitik in der Vergangenheit oft thematisiert worden. Seit dem Ausbrechen der Finanzkrise 2008 kann man beobachten, welche Macht die deutsche Regierung, allenfalls noch moderiert durch das Zusammenspiel mit der Frankreichs, innerhalb der EU und der Eurozone ausübt. Für die Zukunft der Demokratie sind diese Beobachtungen auch normativ deshalb bedeutsam, weil das für dieses Regime legitimatorisch konstitutive: „Kongruenzprinzip” (Zürn 1998, 237) immer mehr erodiert. Auf der Partizipations- wie auf der Ergebnisseite der Politik stimmt der Kreis derjenigen, die auf eine Entscheidung Einfluss nehmen können und derjenigen, die von ihr betroffen sind, nicht mehr überein, wie es aktuell am deutlichsten vielleicht die Situation Griechenlands zeigt: wen können die griechischen Bürger und Bürgerinnen in Wahlen verantwortlich machen und wer bestimmt im Moment und für eine absehbare Zukunft die politischen Entscheidungen in ihrem Land? Damit wird auf europäischer Ebene eines der weniger Prinzipien verletzt, von denen oben noch behauptet werden konnte, es gäbe ein eindeutiges Fortschrittskriterium ab. Wenn das auch ein Extremfall ist, so wird an ihm doch eine allgemeine Tendenz deutlich, die auch andere wesentliche Funktionsprinzipien und Normen der Demokratie betrifft und die ihre Zukunft nicht unbeeinflusst lässt.

Auf diese und andere Entwicklungen, die zum Teil vielleicht sogar als sozialer Wandel unvermeidbar sind, wird in der Wissenschaft und der öffentlichen Diskussion vielstimmig unterschiedlich reagiert, aber folgende Antworten stechen hervor. Ihre jeweils unterschiedliche Reaktion auf die Erfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart bedingen dabei auch ihren Ausblick auf die Zukunft und das was als „Fortschritt” angesehen wird.

Seit Langem schon erfreut sich eine Literatur, die davon ausgeht, dass man auf die als „Globalisierung” beschriebene wachsende Interdependenz mit einer ebensolchen Globalisierung der Demokratie, also mit „Global” oder auch „Cosmopolitan Democracy” (Archibugi/Held 1995) reagieren könne, großer Resonanz. Das entscheidende ist, dass die Vertreter dieser Auffassung der Meinung sind, dass sich die normativen Gehalte der modernen Demokratie auch auf globaler Ebene verwirklichen ließen, dass insofern die Globalisierung nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Chance für weltweite Demokratie und ihren Fortschritt böte. Hier nur zwei kritische Überlegungen zu dieser utopischen Version: Es ist das eine, anzunehmen, dass die Menschen überall auf der Welt nach Freiheit und Gerechtigkeit streben, aber das andere, anzunehmen, dass von China über Afghanistan bis Peru unabhängig von Geschichte und Kultur ihrer eigenen Region sie deren institutionelle Verwirklichung sich nach dem Muster dessen vorstellen, was bei aller Variation als ,westliche Demokratie‘ verallgemeinert werden könnte. Zu häufig wird bei diesem Optimismus vergessen, welche ganz konkreten Erfahrungen diese Länder oder ihre Bevölkerungen bis in die jüngste Vergangenheit mit eben dieser ,westlichen Demokratie‘ gemacht haben – Erfahrungen, die sie auch davon abhalten könnten, genau so werden zu wollen. Vielmehr aber erscheint utopisch, dass die oft erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts politische Selbstständigkeit erlangt habenden ,Völker‘ mittelfristig bereit sein werden, ihre politische Selbständigkeit freiwillig wieder abzugeben und sich einem transnationalen Regime unterzuordnen – demokratisch oder nicht. Und schließlich übersieht diese Hoffnung auf eine „Global Democracy” die Rolle von regionalen oder gar globalen Großmächten, die, wie ja heute schon das Beispiel des Verhaltens Chinas, der USA, aber auch Indiens und Brasiliens zeigt, nicht einmal bereit sind, sich einem Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen zu unterwerfen.

Die zweite Antwort, die auf die oben nur kurz angesprochenen Erosionserscheinungen der Demokratie gegeben wird, steht unter dem Schlagwort der „Post-Demokratie”. Zunächst und zuerst von Colin Crouch (2004) auf das Beispiel italienischer Verhältnisse gemünzt, kann man im Zusammenhang mit der Frage nach der Zukunft der Demokratie diese Argumentation auch verallgemeinern: danach sind wir in eine Phase eingetreten, wo die ehemals Demokratie verbürgenden Institutionen wie freie, gleiche und geheime Wahlen und parlamentarische Regierung in den demokratischen Verfassungsstaaten zwar der Form nach noch existieren, ihre normativen Versprechen, soziale Gerechtigkeit und politische Freiheit zu realisieren aber nicht mehr verwirklichen. Insofern lebe man heute in einem formalen Gehäuse von „Demokratie” – aber eben nach der Phase wirklicher Demokratie. Diese Sicht der Dinge hat viel mit meiner eigenen Erosionsthese gemeinsam, aber in ihr herrscht eine deutlich andere Zeitvorstellung, weil sie die Vergangenheit der Demokratie auch für eine Zukunft als beispielhaft ansieht und dadurch wieder erreichen will, dass ihre Funktionsdefizite, die zu den post-demokratischen Zuständen geführt haben, korrigiert werden sollen. Die Vorstellungen von der Vergangenheit und von der in der Kritik an der post-demokratischen Gegenwart angestrebten Zukunft sind in dieser Konzeption also weitgehend identisch – die Zukunft wäre mehr oder weniger eine Rückkehr zur Vergangenheit. Fortschritt im eigentlichen Sinne wird hier gar nicht thematisiert.

Schließlich haben französische Intellektuelle wie Alain Badiou und Jacques Ranciere mit beträchtlicher internationaler Ausstrahlung bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Theorien im Einzelnen doch gleichermaßen das Argument popularisiert, dass es sich bei den „westlichen Demokratien” gar nicht um die „wahre Demokratie” handle oder jemals gehandelt habe, sondern um die Ordnung des „Konsens” und der „Polizei”, in der die Erscheinung des „Politischen”, in der sich die „wahre Demokratie” allererst manifestieren könnte, gerade zumeist verhindert wird. „Diese Ordnung ist keine Demokratie … Sie (die Demokratie, M.G.) ist überhaupt keine Regierungsordnung, keine Gesamtheit von Regierungsformen” (Ranciere 1997, 121). Es ist hier nicht der Raum, um sich mit diesen philosophischen Traktaten im Einzelnen auseinanderzusetzen, aber im Hinblick auf das Thema der Zukunft der Demokratie machen diese Ansätze klar, dass sie ihre jeweils momentane Verwirklichung nur im Widerstand, nur „Demokratie als Protest” (Jörke 2010, 21) gegen die historisch-reale Demokratie denken können – wobei es irritierend anmutet, wie sehr diese Postmarxisten immer noch darauf vertrauen, dass der Widerstand und Protest des „Volkes”, das sich als „demos” spontan äußert, der Freiheit und Gleichheit aller den Weg bereiten würde. Die Demokratie als zukünftige Ordnung kann es demnach aber gar nicht geben, denn jede „Ordnung” trägt in sich angeblich schon wieder zum Ausschluss des „Politischen” bei, das sich nur als „Streitsache” gegen die „Polizei”, das heißt gegen die verfasste und alltägliche politische Problembehandlung (policy) manifestieren kann. Das ähnelt eher der Wiederkehr des Immergleichen als einem Begriff von Fortschritt. Man kann aus der Sicht der Politikwissenschaft wirklich nur von „philosophischen Traktaten” sprechen, weil diese Art philosophischer Widerstandsaufrufe gegen die schlechte Wirklichkeit sich einerseits umstandslos auf einen zeitlos gültigen philosophischen Demokratiebegriff bezieht, andererseits in institutioneller und praxistheoretischer Hinsicht jeder Konkretion ermangelt. Vielleicht macht gerade das ihre gegenwärtige Popularität aus, dass sie in utopielosenZeiten eine diffuse Unzufriedenheit mit vagen, aber radikal vorgetragenen Thesen artikulieren.

In der Politikwissenschaft schließlich dominiert eine Reaktion auf die schleichende Erosion der Demokratie, die neuerdings mit dem Begriff „Redescription” bezeichnet wird, der sogar einer politikwissenschaftlichen Zeitschrift als Name dient. Buchstein und Jörke nahmen in einem einflussreichen Aufsatz die „semantischen Rochaden” die „Demokratie” in seiner Geschichte vom negativ bewerteten Begriff der Antike seit Platon und Aristoteles bis zum derzeit normativ scheinbar unübertreffbaren Wertbegriff politischer Rede tatsächlich durchlaufen hat, zum Anlass, jene „semantischen Transformationen … am Ende der gegenwärtigen Verschiebung, die dem Demokratiebegriff das Überleben sichern” sollen, zu ermitteln. Ihre als Überlebenshilfe gedachte „’Dynamisierung‘ des Demokratiebegriffs” besteht im Kern darin, „sich weitestgehend von den partizipativen Momenten, die bislang alle semantischen Transformationen des Demokratiebegriffs überlebt haben, zu verabschieden” (Buchstein/Jörke 2003, 471), denn, so wird als Begründung festgestellt: „In den modernen Massengesellschaften des 20. Jahrhunderts ist die partizipative Komponente jedoch zu einem Ballast des Demokratiebegriffs geworden“ (Buchstein/Jörke 2003, 474). Politisch übersetzt bedeutet das nichts anderes als den Vorschlag, auch ein politisches Regime, das in Zukunft „weitestgehend” (?) auf die Partizipation der Bürger und Bürgerinnen verzichtet, weiterhin theoretisch und normativ als „Demokratie” zu bezeichnen. Was im Folgenden von den Autoren dann nur kurz unter der Überschrift „Demokratie als Handlungsbegriff` skizziert und der herkömmlichen Sicht von „Demokratie” als einem „Begriff der institutionellen Staatsformenlehre” gegenüber gestellt wird (Buchtsein/Jörke 2003, 490f), ähnelt dann erstaunlich der Grundidee der bereits kritisierten französischen Philosophen: nicht die institutionell gewährleistete Partizipation der in ihren Rechten und Pflichten Freien und Gleichen, sondern das spontane, projektbezogene, von kontingenten Umständen und Anlässen geförderte „enacting” und „empowering” von Protest und Widerstand soll nun die Zukunft der Demokratie gewährleisten. „Demokratie als Handlungsbegriff‘ gewinnt auch hier nur Kontur als Opposition gegen die verfasste und institutionalisierte Ordnung – auch wenn die Autoren unauffällig die salvatorische Klausel einfügen, diese „Dynamisierung” des Demokratiebegriffs sei nur „als kritische Ergänzung”, nicht als „Alternative” zum Mainstream der Demokratietheorie gedacht (Buchstein/Jörke 2003, 491). Eine solche „semantische Dynamisierung” des Demokratieverständnisses würde die Frage nach der Zukunft oder dem „Fortschritt” der Demokratie bedeutungslos werden lassen, weil sich ja nahezu alle‘ zukünftigen Zustände, in denen überhaupt noch von den Bürgern und Bürgerinnen politisch gehandelt würde, als fortgeschriebene Demokratie interpretieren ließen. Die Sicherung ihrer Zukunft würde in diesem Gedankenspiel mit dem beliebig Werden ihres Inhalts erkauft – es sei denn, man setzt ganz auf das Versprechen der Rationalität, die den deliberativen Verfahren angeblich inne wohnen soll. Wozu man dann aber überhaupt noch Beteiligungsverfahren von Bürgern brauchen und den ganzen Aufwand einer elektoralen Repräsentation betreiben sollte, bleibt offen. Genügte es nicht, einige wenige per Los zu ermitteln, die dann jeweils stellvertretend für die Bürgerschaft die rationalen Entscheidungen treffen?

In dieser hier nur grob verkürzt wiedergegebenen gegenwärtigen Diskussionslage habe ich in bewusster Provokation die Frage gestellt, ob es nicht wissenschaftlich und theoretisch fruchtbarer wäre, in streng historisierender Form die Frage zuzulassen, ob all‘ die tiefgehenden Änderungen und Transformationen der jüngsten Zeit nicht längst einen Zustand herbeigeführt haben, den man nicht mehr und länger als „Demokratie” oder als „Fortschritt” im Sinne des normativen Konzepts der „modernen Demokratie”, wie es sich seit dem 19. Jahrhundert in Wissenschaft wie Politik als relativ anerkannt durchgesetzt hatte, bezeichnen könne (Greven 2009b). Was polemische Kritiken sogleich als individuellen politischen „Abschied von der Demokratie” (Linden 2010) oder „resignierende Überzeugung” (Thaa 2011, 69) interpretierten, ist zunächst ein ganz normaler wissenschaftsimmanenter Problemansatz, dessen Validität nicht davon abhängig gemacht werden kann, ob er „sich über den Kreis einiger weniger Politikwissenschaftler hinaus wird durchsetzen können” (Jörke 2010, 23), denn noch wird in der Wissenschaft nicht mit Mehrheit über Wahrheit und Unwahrheit oder die Anerkennungswürdigkeit von Wertbegriffen entschieden. Hier wird nun der Einwand erhoben, dass gerade international vergleichende Meinungsbefragungen zeigten, dass die Bürger und Bürgerinnen Idee und Versprechen der Demokratie nach wie vor hochschätzen, ja dass sich eine partizipatorische Kultur immer mehr durchsetze (Dalton 2004). Ganz abgesehen davon, dass damit der post-partizipatorischen Dynamisierung der Demokratievorstellung von Buchstein und Jörke empirisch widersprochen wird, zeigen aber eben dieselben Umfragen in aller Regel, dass dieselben Bürger und Bürgerinnen der gegenwärtigen Praxis und den entscheidenden Akteuren der realen Demokratie, erst recht dem Demokratieversprechen der EU, immer weniger vertrauen, was sich in geringer Wahlbeteiligung, abnehmender Parteimitgliedschaft und -bindung und eben in einem eher als punktuellem Protest zu interpretierenden zeitweiligen ,Partizipationsverhalten‘ niederschlägt. Beides zusammen gesehen, bedeutet wohl, dass die Menschen an der traditionellen Idee von Demokratie normativ festhalten, aber gegen ihre Wahrnehmung der Veränderung in der Praxis protestieren. „Wutbürger” nehmen tatsächlich zu, ihre ,Partizipation‘ als Garantie der Zukunft der Demokratie zu interpretieren, scheint angesichts internationaler Erfahrungen waghalsig.

Der Begriff „moderne Demokratie” mag ja zu den „essentially contested concepts” gehören, wie Walter Gallie vor über fünfzig Jahren in einem den Begriff prägenden Aufsatz schrieb (Gallie 1956); in ihm mag das „Gute und Vage”, das mit ihm stets verbunden werde, gleichermaßen eine definitorische Festlegung verbieten wie Pierre Rosanvallon heute propagiert (Rosanvallon 2010) – aber ganz so beliebig, wie manche Theoretiker (!) der Demokratie in jüngster Zeit propagieren, ist die inhaltliche Bedeutung des Begriffes nun auch wieder nicht. Schließlich ist „Demokratie” „nicht nur ein Wert- sondern auch ein Beschreibungsbegriff. Eher aus dem Bereich der politikwissenschaftlichen Systemanalyse stammende Darstellungen (Schmidt 2010) ebenso wie historische Überblicke (Saage 2005), die gerade in Absetzung zum antiken Begriff die Bedeutung der „modernen Demokratie” herausarbeiten, bestätigen dieses Urteil ebenso wie die Konvergenz demokratischer Verfassungen hinsichtlich der Garantie und Institutionalisierung spezifisch der „modernen Demokratie” eigentümlicher Rechte. Das deutsche Grundgesetz ist dafür nach wie vor nicht das schlechteste Beispiel – auch wenn an ihm seit 1949 nicht nur Änderungen zum Guten und für mehr Demokratie vorgenommen wurden.

Die wissenschaftliche Frage ist nun, wie viele Veränderungen in ihrem Zusammenwirken und welche Veränderungen im Einzelnen, die wesentliche Elemente dieser seit dem 19. Jahrhundert in Verfassungen, Normen, institutionalisierten Praktiken und gewohnheitsmäßigen Verhaltensweisen zur „modernen Demokratie” zusammengefügten Wirklichkeit betreffen, sollten die Wissenschaft zu dem Urteil veranlassen, nun sei die „moderne Demokratie” zu etwas anderem geworden, das man besser auch mit einem anderen Namen bezeichne? Und stellt diese anders gewordene Wirklichkeit einen „Fortschritt der Demokratie” dar? Die erste Frage zielt zunächst auf die „Demokratie” als erfahrungswissenschaftlichen Beschreibungsbegriff, aber ein mögliches negatives Urteil, wonach es sich bei dem gegenwärtigen Zustand nicht mehr um eine „moderne Demokratie” handle, wirft natürlich auch wissenschaftlich die Frage nach einer Bewertung auf. Soll man, kann man aber auf Dauer eine neue, gegenüber der Vergangenheit grundlegend veränderte politische Wirklichkeit weiterhin an den normativen Maßstäben messen, die mit dem für die früheren Zustände angemessenen Beschreibungs- und Wertgriff unmittelbar verbunden sind? Erweckt man, wenn man dies tut, nicht entweder den Eindruck, als wolle man die neue Wirklichkeit, indem man sie positiv als Verwirklichung der oder Annäherung an die früheren Wertideen oder gar als „Fortschritt” interpretiert, nur rechtfertigen und mit einer Legitimität ausstatten, die ihr nicht zukommt? Oder aber, wenn man dies nicht tut, und das Urteil formuliert, dass die beobachtbare Wirklichkeit Beschreibungs- und Wertdimension des historischen Begriffs von „moderner Demokratie” nicht mehr entspricht, setzt man sich dann nicht dem Verdacht aus, reaktionär an einer Vergangenheit sich zu orientieren, die keine Zukunft mehr besitzt und den wirklichen „Fortschritt” zu verkennen?

Ich denke, dass die zweite Reaktion wissenschaftlich jedenfalls ehrlicher ist als die beständige Fortschreibung und Umdefinition einer semantisch dynamisierten „Demokratie”. Politisch birgt sie den Vorteil, dass sie für das Urteil über die Verletzung von Rechten und Garantien, die mit der „modernen Demokratie” seit dem 19. Jahrhundert für die Individuen einmal verbunden waren, jedenfalls noch einen einigermaßen auch bei den Bürgern und Bürgerinnen anerkannten Maßstab besitzt. Es ist demgegenüber zweifelhaft, ob die begrifflichen Transformationen, theoretischen Gedankenspiele und hochkomplexen Szenarios, die heute das vielstimmige Ergebnis von philosophischen und politikwissenschaftlichen „Redescriptions” der „modernen Demokratie” darstellen, jemals auf der realpolitischen Ebene der Bürger und Bürgerinnen zu ihrem Legitimationsglauben beitragen könnten.

Der allein aber und keine theoretische Abhandlung kann der Zukunft der Demokratie letztlich eine zuverlässige Basis verschaffen.

Literatur

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