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Fortschritt in zeiten des Klimawandel

Drei Szenarien

aus: Vorgänge 195 ( Heft 3/2011), S.70-78

Fortschritt ist ein normativer Begriff. Er unterstellt das Vorhandensein eines objektiven Prozesses gesellschaftlicher Veränderung, indem er gewisse in der Vergangenheit beobachtete Entwicklungsmuster in die Zukunft projiziert. Das, was fortschreitet, ist ein gesellschaftliches „Werden”, die Aktualisierung eines in der Vergangenheit angelegten Potenzials, oder, platonisch formuliert, einer wie auch immer vagen, aber sozial manifesten „Idee” von Gesellschaft.

Jenes Potenzial, das der Fortschrittsbegriff seit gut zweihundert Jahren zu aktualisieren sucht, ist das der so genannten „Moderne”. Obwohl es keinen sozialwissenschaftlichen Konsens darüber gibt, was denn diese Moderne eigentlich sei, können nach Joseph Huber einige wichtige Kernkomponenten identifiziert werden, wie etwa die industrielle Produktion von Konsumgütern und deren massenhafter Verbrauch; die ungebrochene Fortentwicklung von Technologien und Naturwissenschaften; die Existenz komplexer oder gar globaler Märkte auf der Basis eines hochleistungsfähigen Geld- und Kreditwesens; die Dominanz des Nationalstaats als politischer Organisationseinheit, die Entwicklung einer „rationalen” Bürokratie und die Vorherrschaft rechtsstaatlicher Ordnung.[1]„Modernisierung” ist demnach der Prozess der fortdauernden Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung dieser gesellschaftlichen Strukturen und Funktionen auf immer höheren Komplexitätsniveaus[2]Für marxistisch geschulte Systemtheoretiker wie etwa Immanuel Wallerstein ist die Moderne mit der Herausbildung des kapitalistischen Weltsystems seit dem fünfzehnten Jahrhundert gleichzusetzen.[3] Fortschritt bedeutet demnach die zyklische Expansion dieses Systems und die Integration immer neuer Gesellschaften in die globale Arbeitsteilung kapitalistischer Produktions- und Handelssysteme. Der zeitgenössische Begriff für diesen horizontalen Aspekt des Fortschritts heißt „Globalisierung”.

Zu keiner Zeit jedoch blieb der Fortschritt kapitalistischer Modernisierungsprozesse unwidersprochen oder friktionsfrei. Die durch ihn ausgelösten technologischen und sozialen Umwälzungen waren mitverantwortlich für die Französische Revolution und das aus ihr erwachsene egalitäre Weltbild und riefen zahlreiche Gegenbewegungen wie die Maschinenstürmer, den Romantizismus und die Arbeiterbewegungen des neunzehnten Jahrhunderts sowie die Demokratie- und Friedensbewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts auf den Plan, um nur einige Beispiele zu nennen. Systemtheoretisch betrachtet waren diese Gegenbewegungen jedoch keine Stolpersteine, sondern notwendige Bedingungen für den Fortschritt. Sie führten zur Demokratisierung der liberalen Nationalstaaten und zur Herausbildung umfangreicher sozialstaatlicher Strukturen sowie letztlich zum Entstehen kaufkräftiger Mittelschichten, die dem System neues Wachstum und neue Innovationsschübe verliehen. Die negativen Energien des Protests werden durch die politischen Ausgleichsmechanismen in das System integriert und zu positiven Energien des Systemwandels transformiert. Solange das moderne Weltsystem die Fähigkeit behält, neues Wirtscharts-und Wohlstandswachstum zu generieren, wird diese Art von gesellschaftlichem „Energiehaushalt” daher aufrecht bleiben und werden Protest und Kritik nicht zum Ende des Systems sondern zu seiner weiteren Ausdifferenzierung führen. So zumindest lautet eine der empirisch robusten Grundhypothesen der soziologischen Systemtheorie.[4]

Spätestens in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts stellte sich die Erkenntnis ein, dass diese Fähigkeit des Systems, neues Wachstum und mehr Wohlstand zu generieren, künftig weniger an der „sozialen Frage” als an der Begrenztheit der Biosphäre und ihrer natürlichen Ressourcen scheitern könnte. Erneut war es eine Protestbewegung, die – diesmal im Verein mit Naturwissenschafter/innen – die destruktive Dynamik des industriellen Fortschritts aufzeigte und somit die politischen, wissenschaftlichen und ökonomischen Funktionssysteme für eine neue Herausforderung sensibilisierte. Und erneut entfaltete der gesellschaftspolitische Stoffwechsel seine Inkorporationsdynamik und wandelte die Protestenergie in Problemlösungsenergieunl somit in neues Wachstumspotential um.[5] Es wurde schnell klar, dass die Industriemoderne, will sie sich nicht ihrer eigenen Existenzgrundlage berauben, einen selbstkritischen Blick auf ihre Produktionssysteme werfen und deren ökologische Nebeneffekte kontrollieren und reduzieren wird müssen.[6] Der Fortschritt konnte nicht mehr als lineare Projektion der Vergangenheit in die Zukunft, als autonomer Prozess technologischer Entwicklung verstanden werden, sondern musste von nun an das Ideal der gesellschaftlichen Zielsteuerung in sich aufnehmen. Der Begriff der „nachhaltigen Entwicklung” wurde somit spätestens mit dem so genannten Brundtland-Bericht an die World Commission on Environment and Development 1987 zum neuen Fortschrittsideal, zur vagen Idee einer von ihren inneren Widersprüchen geheilten Moderne.[7] Der Kapitalismus von morgen wurde als eine sozial gerechte und ökologisch neutrale Gesellschaftsform vorgestellt, die es durch geschickte politische Steuerung und demokratische Partizipation aller stakeholder zu erreichen gilt.

In den frühen Neunziger Jahren wurde für diesen neuen Typus des Fortschritts der Begriff der ökologischen Modernisierung geprägt. Martin Jänicke, einer der Begründer der ökologischen Modernisierungstheorie, hielt bereits 1993 fest: „The essence of this changed modernity perspective is that progress is not a linear development of an existing phenomenon. Rather, it includes a fundamental break or transition and an Innovation of the direction of change.“[8] Doch diese Veränderung der Fortschrittsrichtung hlgibt auf die Modernisierung mit einer „Flucht nach vorne” gleichzusetzen: eine Beschleunigung und gleichzeitige Richtungskorrektur des technologischen Fortschritts[9] Es geht um die ökologische Anpassung und Optimierung bestehender Technologien und um die Forcierung technologischer Innovation. So konnten seit den 1980er Jahren in vielen Industrienationen die Flüsse entgiftet, das Waldsterben gestoppt oder gebremst, die Abgase von Autos und Fabriken gereinigt und die giftigsten Pestizide und Chemikalien aus der Nahrungskette verbannt werden. Die Energie- und Materialintensität vieler Produkte konnte verringert und die Effizienz von Maschinen und Motoren gesteigert werden. Doch all diese Modernisierungserfolge basier(t)en auf der Grundannahme, dass sich ökonomische und ökologische Zielsetzungen im Rahmen der Industriemoderne verein-baren lassen.[10] Ökologische Modernisierung zielt somit nicht auf einen radikalen Wandel der (kapitalistischen) Industriegesellschaft, sondern auf ihre ökologische Optimierung innerhalb der marktwirtschaftlichen und sozialstaatlichen Rahmenbedingungen. Es gilt nicht, die Moderne zu verwinden sondern sie zu radikalisieren. Demnach besteht die einzige Möglichkeit um die Systembedrohung durch die negativen Effekte des technologischen Fortschritts zu bannen in mehr und zielgerichtetem technologischen Fortschritt.

Der Erfolg des ökologischen Modernisierungsparadigmas gibt dieser Strategie bislang in einigen Bereichen Recht: so hat die politisch gesteuerte Neuausrichtung technologischer Entwicklung in den vergangenen dreißig Jahren massiv dazu beigetragen, die Zentren des modernen Weltsystems sauberer, sicherer, grüner und gesünder zu machen. Doch wie sieht die Bilanz dieser Systemkorrektur auf planetarischer Ebene aus? Vieles deutet darauf hin, dass die ökologische Reparatur der kapitalistischen Zentren wenig daran ändert, dass die Biosphäre des Planeten in ihrer Gesamtheit immer stärkere Zerfallserscheinungen zeigt. Die Artenvielfalt sinkt rapide, Wälder und natürliche Ökosysteme verschwinden, Wüsten dehnen sich aus und die Atmosphäre erwärmt sich unaufhörlich. Aus diesem Blickwinkel erscheint die ökologische Modernisierung bisher nicht mehr erreicht zu haben als auf einem sinkenden Schiff noch schnell das Deck zu schrubben und die Kapitänskabine aufzuräumen. Dieser Eindruck drängt sich vor allem im Zusammenhang mit dem dringendsten aller gegenwärtigen globalen Umweltprobleme auf, dem Klimawandel.

In seinem vierten Arbeitsbericht aus dem Jahr 2007 schlug das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) ein Stabilisierungsziel für die Erderwärmung vor, demzufolge verhindert werden soll, dass sich die Atmosphäre um mehr als zwei Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Temperaturniveau erwärme. Wird dieses Ziel verfehlt, so könnten sehr leicht Kettenreaktionen in Gang kommen, die zu einem unkontrollierbaren und katastrophalen Klimawandel (mit Temperaturanstiegen bis zu 6 Grad und einem Anstieg des Meeresspiegels um bis zu vierzig Metern) Uhren würden. Um das Stabilisierungsziel zu erreichen, müssten die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um 50 bis 85 Prozent des Niveaus des Jahres 2000 reduziert werden [11] Eine Halbierung des Kohlendioxidausstoßes in den nächsten 38 Jahren klingt auf den ersten Blick nach einer machbaren Aufgabe: mit etwas mehr Ehrgeiz beim technologischen Fortschritt könne das schon gelöst werden, so denken wohl viele Fortschrittsoptimisten. Manche hoffen auch, dass das nahende Ende des Erdölzeitalters den Innovationsdruckerhöhen und damit die Aufgabe vereinfachen werde. Doch derlei Optimismus lässt drei entscheidende Faktoren außer Acht: erstens hat sich der globale Ausstoß an  Treibhausgasen seit dem Jahr 2000 stark erhöht (alleine zwischen 2000 und 2005 um satte 15 Prozent! [12]) und eine allgemeine Trendumkehr ist trotz technologischer Fortschritte bisher nicht in Sicht; mit jedem neuen Jahr wird die Aufgabe somit noch monumentaler statt einfacher. Zweitens wird die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2050 nach Schätzungen der iJNO um rund ein Drittel auf neun Milliarden Menschen anwachsen, was bedeutet, dass die Pro-Kopf-Emissionen weit radikaler gesenkt werden müssen, als das bei Bevölkerungsstabilität der Fall wäre. Und drittens muss auch davon ausgegangen wer-den, dass die Weltwirtschaft und somit das globale Pro-Kopf-Einkommen bis zum Jahr 2050 weiter wachsen. Selbst bei einem moderaten durchschnittlichen Jahreswachstum von zwei Prozent würde sich das Bruttoglobalprodukt zwischen 2000 und 2050 beinahe verdreifachen.

Der Ökonom Tim Jackson hat die vom IPCC definierte Aufgabe im Auftrag der britischen Regierung in ökonomische Maßstäbe übersetzt: er berechnete zunächst, dass die „Kohlenstoffintensität” der Weltwirtschaft im Jahr 2007 bei 768 Gramm Kohlendioxid pro US-Dollar lag. Um das Stabilisierungsziel von zwei Grad Temperaturanstieg zu er-reichen, müsste dieser Wert bis zum Jahr 2050 – unter der Annahme moderaten Bevölkerungs- und Einkommenswachstums – auf bloße 36 Gramm reduziert werden.[13] Vereinfacht ausgedrückt: jeder erwirtschaftete Dollar darf im Jahr 2050 nur ein Zwanzigstel der Treibhausgasemissionen verursachen, die er im Jahr 2007 verursacht hatte. Eine Halbierung des Treibhausgasausstoßes bis zum Jahr 2050 bedeutet also in Wahrheit, dass die Weltwirtschaft bis dahin mehr oder weniger vollständig auf den Ausstoß von Treibhausgasen wird verzichten müssen.

Doch ist diese monumentale Aufgabe innerhalb des heute herrschenden Fortschrittsparadigmas erfüllbar? Kann die „ökologische Modernisierung” der Weltwirtschaft einen solchen Komplettumbau der Industriegesellschaften in weniger als vierzig Jahren leisten? Und wie könnten mögliche Alternativen dazu aussehen? Ich möchte mich diesen Fragen annähern, indem ich jene drei Szenarien vorstelle, die das Möglichkeitsspektrum aus meiner Sicht weitgehend abdecken. Das erste Szenario möchte ich in Anlehnung an das viel beachtete Buch von Peter Newell und Matthew Paterson „Klimakapitalismus” nennen.[14] Es geht davon aus, dass die Aufgabe der „Dekarbonisierung” des Wirtschaftssystems innerhalb der gegebenen Rahmen- bedingungen von globalem Kapitalismus, langfristigem Wirtschaftswachstum und ökologischer Modernisierung gelöst werden muss. Klimakapitalismus ist also das fortschrittsoptimistische Szenario einer radikalisierten Moderne, einer Überwindung der ökologischen Begrenztheit menschlicher Produktivkraft durch Technologie, Markt und Innovation. Es sieht den modernen Kapitalismus als alternativloses System, das gewissermaßen zum Erfolg verdammt ist: nur durch mehr Wachstum können die nötigen Technologien entstehen, um die ökologischen Barrieren des Systems zu überwinden. Klimakapitalismus bedeutet die ultimative „Flucht nach vorne”, da Stillstand den Zusammenbruch des Wirtschaftssystems und somit der modernen politischen Ordnungen bedeuten würde. Wachstum bleibt nach diesem Modell das Primat jeder künftigen Wirtschafts- und Klimapolitik.

In Szenario Zwei hingegen wird gerade der Zwang zu unaufhörlichem Wirtschaftswachstum als das zentrale Hindernis für die Erreichung des Stabilisierungsziels erkannt und stattdessen eine „stationäre Wirtschaft” angestrebt. Das Hauptaugenmerk liegt hier nicht auf technologischem Fortschritt, sondern auf der Entwicklung eines Wirtschaftsmodells, das gemäßigten Wohlstand für alle ohne nennenswertes Wachstum generiert. Dieses Modell einer „steady state economy” wurde erstmals vor über dreißig Jahren von Herman Daly vorgeschlagen[15] und erlebt neuerdings ein Comeback unter einigen Umweltökonomen, allen voran Tim Jackson.[16] Selbstverständlich sind auch in diesem Szenario technologischer Fortschritt und enorme Effizienzsteigerungen vonnöten, um die Treibhausgasemissionen um die Hälfte zu reduzieren. Im Gegensatz zum Klimakapitalismus, der aufgrund seiner Wachstumsdynamik eine komplette Dekarbonisierung bereits bis 2050 erreichen muss, hat ein stationäres Wirtschaftsmodell jedoch etwas mehr Zeit, um seine Abhängigkeit von fossilem Kohlenstoff zu beenden. Ein System, das nicht wächst, braucht sich nicht um künftige Emissionen zu sorgen, sondern kann sich voll darauf konzentrieren, seine bestehenden Emissionen zu reduzieren.

Weitgehend unklar bleibt jedoch, wie ein solches stationäres Wirtschaftsmodell langfristig stabil gehalten werden kann und wie es genügend Wohlstand generieren kann, um sich die politische Unterstützung der Menschen zu sichern. Denn obwohl der-artige Modelle selbstverständlich dazu tendieren, Wohlstand nicht mehr nur materiell sondern in den Begrifflichkeiten von persönlicher Entfaltungsfreiheit, Gemeinschaft, Lebensqualität und Zeitgewinn zu definieren, muss ein Gesellschaftssystem, wenn es langfristig stabil sein soll, Perspektiven bieten können, die nicht als „Stillstand” empfunden werden. Der Knackpunkt dieses Szenarios ist also ein politischer: welche Perspektive kann der breiten Masse der Bevölkerung geboten werden, wenn die disziplinierende Ideologie des Wachstums nicht mehr zur Verfügung steht, um soziale Aufstiegsträume zu nähren? Wie kann eine stationär wirtschaftende Gesellschaftsform politisch organisiert werden, ohne sie ideologisch zu schließen und autoritäre Formen der Disziplinierung anzuwenden? Ist das Überleben der Demokratie in einer solchen Gesellschaft wahrscheinlich?

Diese letzte Frage wird vielen Verfechtern der stationären Wirtschaft als geradezu absurd erscheinen, da diese Form der Gesellschaft oft als Ideal einer partizipatorischen, demokratischen und von den Zwängen des Kapitalismus befreiten Gesellschaft vorgestellt wird. Doch es muss klar sein, dass eine stationäre Wirtschaft ein hohes Maß an politischer Steuerung und Planung erfordert und somit ein enormes Konfliktpotential birgt. Während im Kapitalismus der Markt die epistemische Funktion eines opaken Schleiers erfüllt, der Kausalzusammenhänge ausblendet und die resultierende Wirklichkeit als schicksalhaft gegeben erscheinen lässt, müssen in einer stationär wirtschaftenden Gesellschaft die Konturen der Wirklichkeit transparent und politisch entschieden werden. Die „gefühlte” Hierarchie in einer solchen Gesellschaftsform ist trotz aller Partizipationsmechanismen mitunter weit höher als im marktgesteuerten Kapitalismus, da die Wirklichkeit als Resultat menschlicher Entscheidungen erscheint. Schon kleine soziale Ungleichgewichte können in diesem Szenario zu großen politischen Schieflagen führen. Naiv ist daher, wer glaubt, dass eine wachstumsfreie Gesellschaft notwendigerweisefriedlicher oder stabiler ist als eine kapitalistische. Ich werde diese Frage weiter unten noch einmal aufgreifen.

Das dritte Szenario, schließlich, ergibt sich, wenn die ersten beiden Szenarien scheitern: wenn also das Stabilisierungsziel bis zum Jahr 2050 weder durch die ökologische Hypermodernisierung des Klimakapitalismus noch durch die Etablierung einer neuen stationären Wirtschaftsweise erreicht werden kann. Was dann bleibt, ist das Szenario der Anpassung und der Krisenwirtschaft. Schon heute verschiebt sich der Schwerpunkt des politischen und wissenschaftlichen Klimadiskurses merklich von mitigation (Linderung/Vermeidung) zu adaptation (Anpassung) und resilience (Widerstandsfähigkeit). Wir befinden uns bereits mitten in der Klimaerwärmung und die Extremwetterereignisse nehmen zu. Es müssen Vorkehrungen getroffen werden, um unsere Gesellschaften vor den Folgen des Klimawandels zu schützen: Die politischen Systeme müssen etwa auf massiv steigende Lebensmittelpreise und zunehmenden Migrationsdruck vorbereitet werden und ganze Regionen ihre landwirtschaftlichen Praktiken neuen klimatischen Gegebenheiten anpassen. Ganze Wirtschaftsbranchen müssen sich auf geänderte Rahmenbedingungen einstellen. Doch all diese Anpassungsmaßnahmen müssen auch dann getroffen werden, wenn das Stabilisierungsziel von zwei Grad Celsius eingehalten werden kann. Zwei Grad werden die Weltwirtschaft vor enorme Herausforderungen stellen, aber sie werden die menschliche Zivilisation in ihrer Gesamtheit voraussichtlich nicht bedrohen.

Wird das Ziel jedoch verfehlt, droht ein unkontrollierbarer Klimawandel, dem nur noch mit beinhartem Krisenmanagement begegnet werden kann: Wirtschaftssysteme werden kollabieren und Millionen Menschen zur Migration gezwungen sein. Kriege werden um Wasser und urbares Land geführt werden und jene Menschen, die begünstigte Zonen bewohnen, werden sich gegen die Begehrlichkeiten ihrer Nachbarn verteidigen. Es ist schwer vorherzusehen, welche politischen Systeme unter diesen Bedingungen überleben oder neu entstehen würden. Vielleicht würde die Demokratie untergehen, vielleicht würden aber auch neue Formen der Demokratie entstehen. Eine Zeit des Improvisierens, Experimentierens und Reagierens würde anbrechen und politische Stabilität wäre wohl auf geraume Zeit eine Ausnahmeerscheinung. Und wenn neun oder zehn Milliarden Menschen auf einem heißen, zunehmend süßwasserarmen und unfruchtbaren Planeten um ihr ökonomisches und physisches Überleben kämpfen müssen, dann muss davon ausgegangen werden, dass viele von ihnen diesen Kampf nicht überleben werden.

Dieses dritte Szenario ist also nicht nur das des Scheiterns der Klimapolitik, sondern im Extremfall auch jenes des Scheiterns der Moderne als Menschheitsepoche. Ihr Potenzial könnte nicht länger aktualisiert und die dafür notwendige Ordnung nicht länger stabilisiert werden. Dem Fortschritt würde sein Telos abhanden kommen und die Zukunft wäre nicht mehr die lineare Projektion der Vergangenheit. Bei allem Schrecken, der dieser Vorstellung innewohnt, könnte dieses Szenario jedoch auch seine positiven Seiten haben: wenn der Begriff des Fortschritts seinen Sinn verliert, ergibt sich die Möglichkeit des Neubeginns. Vielleicht würde der Moderne eine Epoche folgen, deren Fortschrittsbegriff die Menschheit nicht erneut in den Abgrund führen würde.

Doch zum Abschluss müssen wir uns die Frage stellen, welches dieser drei Szenarien das wahrscheinlichste ist, und welche Handlungsanleitungen wir aus unserer Analyse ziehen sollen. Der Vorteil am Szenario des Klimakapitalismus ist, dass es ohne politische Revolutionen und ohne die komplette Neuerfindung der modernen Gesellschaft auskommt: es verlässt sich auf die gewohnten Stärken des Kapitalismus und hofft, dass diese in der Lage sind, seine Schwächen zu besiegen. Der Nachteil an diesem Szenario ist, dass es derart stark von der Entwicklung neuer Technologien abhängt, dass sein Er-folg aus heutiger Sicht äußerst unwahrscheinlich erscheint. Um eine weiter wachsende Weltwirtschaft vollständig zu entkarbonisieren, bedürfte es einer wundersamen neuen Energiequelle, die zugleich hoch konzentrierte Energie liefert, als auch kostengünstig und massenhaft verfügbar ist. Die heute bekannten erneuerbaren Energiequellen sind bisher nicht in der Lage, die Rolle der fossilen Energieträger im Industriekapitalismus auch nur annähernd zu ersetzen. In Ermangelung einer derartigen Wundertechnologie ist jedoch davon auszugehen, dass die verfügbaren fossilen Energiespeicher (vor allem Kohle und Erdgas) im Dienste des Wirtschaftswachstums auch künftig gnadenlos aus-gebeutet werden. Klimakapitalismus wird sich stets zuerst um den Kapitalismus und erst dann um das Klima kümmern. Gegen den Klimakapitalismus spricht außerdem, dass die Klimaerwärmung ja nicht das einzige auf Dauer System bedrohende Problem ist: selbst wenn eine Dekarbonisierung der Weltwirtschaft gelänge, würde eine konstant wachsende Wirtschaft schnell an andere ökologische Grenzen stoßen — wie etwa die begrenzte Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen und landwirtschaftlich nutzbarer Flächen. Selbst hartnäckige ökologische Modernisierungstheoretiker wie Martin Jänicke sind sich darüber im Klaren, dass technologischer Fortschritt alleine letztlich nicht ausreicht:
In the end, the question of economic growth […]can no longer be ignored„.[17]

Das Szenario einer stationären Wirtschaft wiederum hat den Vorteil, dass es technologische mit sozialer und politischer Innovation kombinieren kann. Die Last wird damit auf verschiedene Subsysteme verteilt. Sein großer Nachteil jedoch besteht in seiner ungewissen politischen Durchsetzbarkeit. Eine stationäre Wirtschaft benötigt demokratische Steuerungsinstrumente, die erst entwickelt und getestet werden müssten, und selbst mit diesen wäre ihre politische Stabilität ungewiss. Das Modell der liberalen, repräsentativen Demokratie ist für diese Aufgabe nicht gerüstet: es ist als demokratisches Verwaltungssystem wachsender kapitalistischer Ökonomien entstanden und benötigt eine dynamische und wachsende Wirtschaft als opake Wirklichkeitsquelle. Parlamentarische Demokratie funktioniert nur dann stabil, wenn Repräsentanten und Repräsentierte auf eine als beiden von außen „gegebene”, scheinbar unabhängige Wirklichkeit rekurrieren können. Der kapitalistische Markt generiert genau diese Art von Wirklichkeit. Sobald die Konturen der Gesellschaftswirklichkeit jedoch innerhalb des Verhältnisses von Repräsentierten und Repräsentanten auf transparente Weise stets aufs Neue entschieden werden müssen, entsteht eine strukturelle Opposition zwischen beiden Teilen des Repräsentationsverhältnisses, die schnell zum Zerfall des demokratischen Systems führen kann.[18] Daraus muss geschlossen werden, dass eine stationäre Wirtschaft nicht nur ein neues Verständnis für Begriffe wie Wohlstand und Fortschritt voraussetzt, sondern auch eine neuartige Form demokratischer Organisation, deren Funktionsweise heute noch unbekannt ist.

Was also sollte getan werden, um das dritte Szenario, jenes der Anpassung und der Krisenwirtschaft, nach Möglichkeit zu vermeiden? Ich glaube, dass jede Antwort auf diese Frage zunächst damit beginnen muss, dass wir uns von der Vorstellung einer selbstläufigen, quasi evolutionären Modernisierung und somit von unserem linearen Fortschrittsbegriff trennen müssen. Egal, ob wir einen Klimakapitalismus oder eine neuartige Gesellschaftsform anstreben, die Monumentalität der Aufgabe zwingt uns, weit reichende politische Entscheidungen zu treffen. Zunächst bedarf es technologischer Systembrüche und deren mutiger politischer Durchsetzung. Der Markt wird das nicht für uns erledigen. Demokratisch legitimierte, politische Steuerung von Produktionsmethoden und Konsummustern ist unabdingbar. Gewisse Produkte müssen schlicht und einfach durch politische Entscheidung vom Markt genommen werden. Zugleich sollten Forschungen und Experimente zur demokratischen Steuerung alternativer Wirtschaftssysteme betrieben werden. Solange jedoch selbst die Grünen von einem „Green New Deal” im Sinne des Klimakapitalismus sprechen, sind die Chancen gering, dass neue Fortschrittsideale rechtzeitig mehrheitsfähig werden. Dann hilft nur noch beten, dass irgendjemand beizeiten die wundersame klimaneutrale Energiequelle erfindet.

[1] Vgl. Huber, Joseph (2010 [1991]): Ecological Modernization: Beyond Scarcity and Bureaucracy, in: Arthur P.J. Mol, David A. Sonnenfeld; Gert Spaargaren (Hg.), The Ecological Modernisation Reader. London, Routledge, S. 56.
[2] Siehe ebd.
[3] Wallerstein, Immanuel (1986): Das moderne Weltsystem — Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert. Frankfurt/Main, Syndikat.
[4] Vgl. etwa Niklas Luhmann (1996): Protest. Frankfurt/Main: Suhrkamp; sowie ders. (1986): Ökologische Kommunikation. Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften.
[5] Vgl. Hausknost, Daniel (2005): Weg ist das Ziel. Zur Dekonstruktion der Ökologiebewegung. Münster/Wien, LIT Verlag.
[6] Dieser Anspruch ist in Ulrich Becks Begriff der reflexiven Modernisierung ausgedrückt. Siehe Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. FrankfurdMain: Suhrkamp; sowie Beck, Ulrich; Giddens, Anthony; Lash, Scott (1996): Reflexive Modernisierung: Eine Kontroverse. Frankfurt/Main, Suhrkamp.
[7] World Commision on Environment and Development (1987): Our Common Future. Oxford, Oxford University Press.
[8] Jänicke, Martin (2010 [1993]): „On Ecological and Political Modernization”, in: Arthur P.J. Mol, David A. Sonnenfeld; Gert Spaargaren (Hg.), The Ecological Modernisation Reader. London, Routledge, S. 29-30.
[9] Vgl. ebd., S. 30.
[10] Vgl. Baker, Susan (2007): `Sustainable Development as Symbolic Commitment: Declaratory Politics and the Seductive Appeal of Ecological Modernisation in the European Union‘, in: Environmental Politics, Vol. 16, No. 2, S. 299.
[11] IPCC (2007): Climate Change 2007: Mitigation Contribution of Working Group III to the Fourth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. Cambridge, Cambridge University Press.
78 vorgänge Heft 3/2011, S. 70—78
[12] Vgl.: http://ec.europa.eu/dgs/jrc/downloads/jrc_090525_newsrelease_edgar.pdf, Zugriff am 19. Oktober 2011.
[13] Jackson, Tim (2009): Prosperity Without Growth: Economics for a Finite Planet. London, Earthscan. S. 79 ff.
[14] Newell, Peter; Paterson, Matthew (2010): Climate Capitalism: Global Warming and Transformation of the Global Economy. Cambridge, Cambridge University Press.
[15] Daly, Herman (1992 [1977]): Steady-state economics. London, Earthscan.
[16] Jackson, a.a.O.
[17] Jänicke, a. a. 0., S. 31.
[18] Ich habe diesen Gedanken näher ausgeführt in: Hausknost, Daniel (2011): Die Kunst des Unmöglichen: Zivilgesellschaftliche Organisationen und die Grenzen demokratischen Wandels, in: Wissenschaft & Umwelt Interdisziplinär, Nr. 14/2011, S. 124-134.

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