Publikationen / vorgänge / vorgänge 195: Was ist heute Fortschritt?

Editorial

aus: Vorgänge 195 ( Heft 3/2011), S.1

Die Katastrophe von Fukushima markiert den Umkehrpunkt einer großtechnologischen Entwicklung, deren Folgen sich als nicht beherrschbar erwiesen haben. Der Klimawandel verweist schon seit mehr als zwei Jahrzehnten auf die Grenzen einer wachstumsorientierten Wirtschaftsweise. Deutschland war über Jahrzehnte ein role-model dieses Fortschrittstypus. Mit dem Atomausstieg hat es nun national eine Entwicklung eingeleitet und international ein Zeichen gesetzt, deren Aus- und Nachwirkungen noch nicht ab-sehbar sind. Denn was daraus folgt, ist nicht nur der Wechsel einer Technologie, sondern der Wandel einer Lebensweise. Das über zwei Jahrhunderte hegemoniale Fortschrittsmodell der westlichen Gesellschaft, welches in der Entfaltung der Produktivkräfte, der Wissenschaft und Forschung die Grundlage individueller Emanzipation, gesellschaftlicher Entwicklung und demokratischer Selbstverwirklichung des Volkes sah, steht auf dem Prüfstand. Denn von keinem der Bestandteile dieses Modelle ist gewiss, dass es ohne die anderen fortexistieren kann, und bislang war ihre gelingende Symbiose ein Fortschrittsmodell, das global ausstrahlte – ohne allerdings global akzeptiert zu sein. Doch erweist sich noch kein anderer nationaler oder kultureller Pfad als begehenswerter. Allein die Vernunft ist derzeit ein schwacher Kompass des Fortschritts. Diese Ausgabe der vorgänge will Pfade ausloten, deren Richtung dieser Kompass anzeigt.

Markus Holzfinger sieht die moderne Gesellschaft kalkulierbaren Fortschritts abgelöst, durch die „Kontingenzgesellschaft” in der eingelebte Formen der Institutionalisierung und Kollektivität zunehmend durch Entscheidungen bestimmt sind, ohne über die Orientierungssicherheit zu verfügen, diese zu fällen. An die Stelle des homo oecononücusist der homo creator getreten, der die Paradoxie aushalten muss, in einer Welt zu leben, in der er zunehmend selbst sein Schicksal in die Hand nehmen muss, und gleich-zeitig zu reflektieren, dass er auf Grund just dieser Optionen weit verzweigte Kausalketten in Gang setzt, deren nicht intendierte Nebenfolgen er nicht mehr über-blickt und über die er in der nächsten Runde des Handelns erneut zu entscheiden hat.

Für Michael Th. Greven ist in der Kontingenzgesellschaft eine ungefragte Geltung dessen, was genau als Fortschritt der oder in der Demokratie gelten könne, nicht mehr gegeben. Die Demokratie ist reflexiv geworden, das bedeutet, sie muss selbst über ihre eigene Verfasstheit entscheiden. Zugleich muss sie auf den Wandel ihrer sozialen Umwelt antworten, wovon ihre Verfahren, Organisationen und Institutionen nicht unbeeinflusst bleiben. In der Konsequenz ist eine Erosion ihrer legitimatorischen Grundlagen zu konstatieren, welche die Angemessenheit des Begriffs Demokratie zur Beschreibung der aktuellen Herrschaftsweise fragwürdig erscheinen lässt.

Matthias Zimmer zeichnet die Entwicklung des Fortschrittsbegriffs von seinen Anfängen bis zu seiner Blüte- und Verfallszeit in der Moderne nach und macht seine weitere Entwicklung abhängig von einer Rückbindung seiner Potenzen an eine normative Leitidee außerhalb der reinen materiellen Bedürfnisbefriedigung. Ein daraus erwachsender ganzheitlicher Begriff des Fortschritts könne allerdings nicht verordnet werden, sondern könne sich nur als das Resultat einer auf den ganzheitlichen Menschen gerichteten Erziehung verstehen.

Für Michael Müller ist der Idee des Fortschritts immer schon eine dunkle Seite der Eigentumsversessenheit und Naturvergessenheit, der Expansion und der Beschleunigung eingeschrieben, deren zerstörerischen Potenziale zunehmend die Entwicklung bestimmen. Damit ist die Frage einer Postwachstumsgesellschaft aufgeworfen, die auf die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen mit einer ein kultureller Wandel antwortet, der neue Formen von Demokratie, Wohlstand und Lebensqualität begründet.

Konrad Ott beschreibt vier politische Pfade, die in diese Postwachstumsgesellschaft führen, die wertkonservative Wachstumskritik, die industriepolitisch geprägte Effizienzrevolution, das Konzept eines neuen Gesellschaftsvertrages und die DegrowtlrStrategie der neuen Linken. Während er für Letztere keine tragfähige gesellschaftliche Basis sieht, eröffnen sich bei den Übrigen mögliche Überschneidungen und Allianzen.

Daniel Hausknost bezweifelt, dass mittels technischer Innovationen der Klimakapitalismus das Klimaziel erreichen kann. Beim darüber hinausgehenden Modell einer stationären Wirtschaft ist hingegen die politische Durchsetzbarkeit zweifelhaft, denn es ist enorm konfliktträchtig, weil es nicht mehr auf die sozial ausgleichenden Potenziale einer Wachstumsökonomie zurückgreifen kann. Die Demokratie stünde von einer bislang ungeahnten Herausforderung.

Rolf Reißig sieht die Gesellschaften der Nach-Moderne vor einer neuen „Großen Transformation” die in ihrem umwälzenden Charakter der von Karl Polanyi beschriebenen „Großen Transformation”, hin zum modernen Kapitalismus in nichts nachsteht. Sie soll auf einen sozialökologischen und solidarischen Entwicklungspfad führen, doch eine Gewähr dafür gibt es nicht.

Mathias Binswanger sieht die treibenden Faktoren permanenten wirtschaftlichen Wachstums zum einen im subjektiven Zwang zu einer vermeintlichen Selbstoptimierung durch Konsum, Statussteigerung, Flexibilisierung und Beschleunigung – dem allerdings kein Mehr an Glück und Zufriedenheit entspricht. Zum Zweiten ermöglicht es eine Wohlstandsmehrung, die nicht zu Lasten anderer geht, und zum Dritten resultiert es aus den Zwängen einer Kreditgeldwirtschaft, Mehrwert und Kaufkraft schaffen, die dann einen erweiterten Geldkreislauf in Gang setzen.

Michael Daxner analysiert am Beispiel Afghanistans die militärische Implementierung einer fortschrittlichen Rule of Law in ihrer kolonisierenden Rückwirkung auf dielebensweltlichen informellen Institutionen. Deren Resultat ist ein fragmentiertes Regime, das in dem Maße, wie die Lebenswelt ausgegrenzt bleibt, Gewaltpotenziale her-
vorbringt.

Ilse Lenz zeigt auf, dass das lineare Fortschrittsdenken der Moderne auch in seinen progressiven Ausformungen immer auf der Ausgrenzung und teilweisen Unterdrückung der Lebenswelt der Frau basierte. Auch die verstärkte Flexibilisierung des Geschlechterregimes in den letzten Jahren ist keineswegs nur Befreiung, sondern birgt Ambivalenzen. Vor diesen Hintergrund gewinnen dekonstruktive Geschlechteransätze Bedeutung, die Fürsorge und Versorgung betonen und auf eine Balance von Staat, Arbeit und Familie abheben.

Veith Selk folgt dem roten Faden utopischen Denkens, der sich von den gesellschaftsverändernden Entwürfen eines Saint-Simon und eines Karl Marx bis zu dem Ideal einer rational organisierten Gesellschaft spannt, das Jürgen Habermas seinem deliberativen Modell reiner kommunikativer Vergesellschaftung zu Grunde legt.

Ein Plädoyer von Kurt Bergmann und Leonard Novy, die wirtschaftlich angeschlagene deutsche Presselandschaft durch gemeinnützige Stiftungen wieder mehr zum Blühen zu bringen, rundet diese Ausgabe der vorgänge ab, zu der ich Ihnen wie immer eine anregende Lektüre wünsche.

Ihr

Dieter Rulff

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