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Welcher Fortschritt macht Glück­li­cher?

Über Unsinn und Zweck wirtschaftlichen Wachstums

aus : Vorgänge 195 ( Heft 3/2011), S.89-97

1. Glück und Einkommen

Das durchschnittliche Glücksempfinden bzw. die Zufriedenheit der Menschen in entwickelten Ländern nimmt schon lange nicht mehr zu, obwohl die durchschnittlichen Einkommen sich mit dem Wirtschaftswachstum stets weiter erhöhen. Das belegen zahlreiche empirische Studien und dieses Resultat ist in der Literatur auch unter dem Begriff „Easterlin Paradox” bekannt.[1] Es ginge den Menschen insgesamt besser, wenn sie mehr Zeit hätten und dafür auf zusätzliches Einkommen verzichten würden. So zeigt etwa eine Untersuchung, dass Menschen, die Überstunden machen und deshalb mehr verdienen, dadurch nicht glücklicher werden.[2] Trotzdem machen aber viele Menschen freiwillig Überstunden und streben generell nach einem immer noch höheren Einkommen. Die interessante Frage lautet deshalb: Wenn die Menschen ein anderes Verhalten glücklicher machen würde, warum ändern sie es dann nicht?

Der Grund liegt in den so genannten Tretmühleneffekten.[3]Auf einer Tretmühle kann man immer schneller laufen und diese immer schneller bewegen, doch man bleibt immer am selben Ort. Genau gleich verhält es sich mit dem menschlichen Streben, durch mehr Einkommen glücklicher zu werden. Die Menschen werden dadurch zwar immer reicher, aber was ihr Glücksempfinden betrifft, treten sie auf der Stelle. Die Hoffnung auf mehr Glück wird ständig enttäuscht, dennoch wird an diesem irrationalen Glauben festgehalten.

Dass Geld nicht glücklich macht, ist keine neue Erkenntnis. Wir alle kennen diese Redewendung seit früher Kindheit. Aber es gibt einen neuen Gedanken, der die alte Volksweisheit wieder in Frage stellt. Er lautet: „Menschen, die behaupten, dass Geld nicht glücklich macht, wissen nicht, wo einkaufen.” Was ist nun richtig? Die überraschende Antwort lautet: Beide Aussagen treffen heute zu. Die Glücksforschung zeigt uns deutlich, dass mehr Einkommen die Menschen in entwickelten Ländern im Durch-schnitt nicht glücklicher macht[4] Doch es stimmt auch, dass wir nur selten wissen, was und wo wir einkaufen sollen, um tatsächlich glücklicher zu werden. Dies ist aber ein viel tieferes Problem, als es die obige Aussage suggeriert. Mit der Entwicklung hin zu einer Multioptionsgesellschaft wird es immer schwieriger, die Produkte, Dienstleistungen oder Freizeitbeschäftigungen zu finden, die wir tatsächlich bräuchten, um glücklicher zu sein. Wir ertrinken in der Fülle von Möglichkeiten und haben nur mehr selten die Zeit, eine vernünftige Auswahl zu treffen. Der amerikanische Psychologe Barry Schwartz (2004) hat dieses Phänomen in seinem Buch „The Tyranny of Choice” (dt.: Anleitung zur Unzufriedenheit) eindringlich beschrieben. Er zeigt, wie die wachsende Zahl an Produkten und Dienstleistungen und die immer zahlreicher werdenden Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, also die Auswahl zunehmend zur Tyrannei wird. Und diese Tyrannei ist bereits ein Teil der Erklärung, warum Menschen mit steigendem Einkommen nicht glücklicher werden.

Dazu kommt, dass es zwar immer mehr Produkte und Dienstleistungen gibt, aber Dinge wie Liebe, Erfolg, Gesundheit oder Schönheit, die wirklich glücklich machen würden, sind nach wie vor nur selten käuflich erwerbbar. Zwar zeigt die Werbung ständig Menschen, die dank neuer Produkte, Seminare, Kurse oder Diäten liebesfähiger, erfolgreicher, schöner und gesünder geworden sind. Doch wenn man es dann selbst versucht, scheitert man oft kläglich. Das „Nicht-Wissen, wo einkaufen” ist für den modernen Menschen zu einem existenziellen Zustand geworden, der ihn auf unangenehme Weise an seine eigenen Grenzen in einer Gesellschaft der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten erinnert. Mehr Einkommen in mehr Glück zu verwandeln, wird somit zunehmend zur Sisyphusarbeit.

Wir sollten uns wieder auf den eigentlichen Daseinszweck der Wirtschaft besinnen, den George Bernhard Shaw folgendermaßen beschrieben hat: „Ökonomie ist die Kunst, das Beste aus unserem Leben zu machen.” Mit anderen Worten: Es geht nicht um Einkommensmaximierung, sondern um Glück, Zufriedenheit, Lebensqualität oder noch wissenschaftlicher ausgedrückt, subjektives Wohlbefinden. Wozu sonst verdient man schließlich sein Geld, das man ja bekanntlich am Ende des Lebens nicht mitnehmen kann?

Der Ausbruch aus den Tretmühlen ist allerdings kein einfacher Prozess, denn diese sind gleichzeitig auch treibende Kräfte des Wirtschaftswachstums. Einerseits ermöglichen sie unseren Wohlstand, aber auf der anderen Seite hindern sie uns an einem glücklicheren Leben. Mit anderen Worten: Ohne Tretmühlen gibt es kein Wirtschaftswachstum und ohne Wachstum geraten moderne Volkswirtschaften in ernsthafte Schwierigkeiten. Dahinter steckt ein grundsätzliches Dilemma moderner Wirtschaften.

II. Was ist das Ziel ökono­mi­scher Tätigkeit?

Aus ökonomischer Sicht geht es bei der Suche nach der Verwirklichung eines glücklichen Lebens um einen zweistufigen Prozess. Erstens müssen wir ein Einkommen erzielen, damit wir uns die Dinge überhaupt leisten können, die wir für ein glückliches Leben brauchen. In dieser Hinsicht sind wir in den Industrieländern im Allgemeinen Profis. Von klein auf lernen wir die Fähigkeiten, die es braucht, um in der Arbeitswelt Karriere zu machen und viel Geld zu verdienen. Leider reicht das aber nicht aus, wie viele Menschen in ihrem späteren Leben schmerzlich erfahren müssen. Man muss auch -iri dcr-Lagc-seüi; das ve~ete-Einkommen so zu verwenden,-dass es tatsächlich glücklich macht. Das ist die zweite und noch schwierigere Stufe bei der Verwirklichung eines glücklichen Lebens. Und in dieser Beziehung sind wir oft grauenhafte Amateure. So gut wir beim Geldverdienen sein mögen, so schlecht sind wir bei der Umsetzung des Einkommens in Glück oder Zufriedenheit. Die dafür erforderlichen Fähigkeiten, die sich mit dem französischen Begriff „Savoir-vivre” oder dem deutschen Wort „Lebenskunst” umschreiben lassen, werden uns in der Schule nicht beigebracht.

Ein Mensch, der nur ans Geldverdienen und Karrieremachen denkt, handelt in Wirklichkeit unökonomisch, weil er damit sein Glück nicht maximiert. Er verhält sich ineffizient, und zwar in dem Sinn, dass er seine ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht optimal nutzt. Die wesentlichen Ressourcen für den einzelnen Menschen sind Zeit und Geld. Das Ziel muss sein, den optimalen Mix von Zeit und Geld zu finden, der zu einem möglichst glücklichen Leben führt. Bei der Frage nach dem Glück des Einzelnen trifft sich somit die ökonomische Betrachtungsweise mit der Psychologie bzw. der Philosophie. Daher sollte nicht weiter überraschen, dass Ökonomen sich in neuster Zeit verstärkt mit dem Glücksthema beschäftigen. Es geht um eine Rückbesinnung auf den eigentlichen Zweck des Wirtschaftens, der nicht in der Einkommensmaximierung sondern in der Führung eines glücklichen Lebens besteht.

Die hier vertretene ökonomische Perspektive deckt sich wesentlich mit der Auffassung des Philosophen Jeremy Bentham (1789), der vor mehr als zweihundert Jahren in England lebte. Bentham ging davon aus, dass die Menschen nach einem glücklichen Leben streben und die beste Gesellschaft demzufolge diejenige ist, in der die Menschen insgesamt am glücklichsten sind. In der Folge erwies sich dieser zunächst einleuchtende Gedanke allerdings als problematisch. Wie sollte man feststellen, wie glücklich die Menschen insgesamt in einem Land sind? Und was heißt das überhaupt: „glücklich sein”? Diesen Fragen fühlten sich die Ökonomen bald nicht mehr gewachsen und so strichen sie den Begriff des Glücks aus ihrer Theorie und ersetzten ihn durch den harmloseren Begriff des Nutzens. Harmlos ist dieser Begriff insofern, als er vorsichtshalber so definiert wurde, dass er gar nicht messbar ist. Der Nutzen, so wie er heute in der ökonomischen Theorie verwendet wird, ist eine so genannte ordinale Größe. Es lassen sich nur Aussagen darüber machen, ob der Nutzen eines Individuums durch bestimmte Handlungen zu- oder abnimmt, aber nicht, um wie viel er zu- oder abnimmt. Aus diesem Grund lässt sich der Nutzen verschiedener Güter nicht einfach addieren und auch der Nutzen verschiedener Menschen lässt sich nicht quantitativ vergleichen. Beobachten können wir gemäß der Annahmen der heutigen Standardökonomie nur die Folgen der Nutzenmaximierung der Individuen. Diese führt dazu, dass die Menschen, wenn sie rational handeln, das tun, was für sie am besten ist. Und tun sie das nicht, dann verhalten sie sich irrational, womit die meisten Ökonomen bis vor Kurzem nichts zu tun haben wollten. Erst in neuester Zeit erkennt auch die ökonomische Forschung, dass man das Verhalten der Menschen nur verstehen kann, wenn man ihnen eine gehörige Portion Irrationalität zugesteht.

In der wirtschaftlichen und politischen Praxis konnte man mit dem nicht messbaren und blutleeren Nutzenbegriff der Ökonomie allerdings nie viel anfangen. Dort steht bis heute das Wachstum des Bruttoinlandproduktes im Mittelpunkt des Interesses und nicht, wie sich dies Bentham vorgestellt hatte, das Glück der Menschen. Doch wenn Wachstum nicht glücklicher macht, dann macht die einseitige Ausrichtung der wirtschaftlichen Tätigkeit am Wachstum auch keinen Sinn .[5] In der ökonomischen Theorie ist Wachstum ein Mittel und nicht ein Zweck. In der Realität ist dieses Mittel aber längst zum Zweck geworden, und kaum jemand spricht heute mehr von einem glücklichen Leben, wenn es um wirtschaftliche Fragestellungen geht. Doch so langsam dämmert es einigen Menschen, dass wir uns verrannt haben. Das erkennt man etwa daran, dass die permanente Steigerung von Effizienz, Produktivität, Innovationsfähigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Rentabilität zu modernen Glaubensdogmen geworden sind. Für heutige Manager gibt es kein hehreres und schöneres Ziel als die Steigerung der eben genannten Größen. Man muss nicht mehr wissen, warum man die Effizienz oder Produktivität erhöht, denn eine solche Erhöhung ist an sich gut. Das ist aber ein gewaltiger Irrtum. Steigerungen von Effizienz oder Produktivität führen häufig zu einer Beschleunigung der in diesem Buch geschilderten Tretmühleneffekte und verhindern (damit) das Glück, statt es zu fördern.

III.Das Dilemma moderner Wirtschaften

Jede Zeit produziert ihre eigenen Verrücktheiten, die dann später kaum mehr nachvollziehbar sind. Schon heute fragen wir uns, wie es möglich war, dass sich die Menschen in Russland und anderen osteuropäischen Ländern ihr Leben über fast 100 Jahre mit dem Kommunismus vermiesen ließen. Und unser Verständnis hört ganz auf, wenn es um Inquisition oder Hexenverbrennungen geht, womit Kirche und staatliche Justiz über lange Zeit Angst und Schrecken verbreiteten. Doch wir sollten vorsichtig sein. Spätere Generationen werden sich wahrscheinlich auch einmal fragen, warum sich die Menschen in der heutigen Gesellschaft trotz eines zuvor nie da gewesenen Wohlstands ständig noch mehr stressen ließen, statt diesen Wohlstand zu genießen. Vor fast 2000 Jahren degenerierte das damals reiche Rom, weil sich seine Bürger buchstäblich zu Tode amüsierten. Im Vomitorium steckten sie sich einen Finger in den Hals, um die gerade genossenen Leckerbissen wieder heraus zu kotzen, damit sie noch mehr Köstlichkeiten zu sich nehmen konnten. So erfanden die alten Römer ständig noch perversere und raffinierte Methoden, um ihren Wohlstand zu verprassen. Doch dieser Degenerationsprozess war immerhin unterhaltsam und mit einem — wenn auch fragwürdigen — Genuss verbunden. In den Industrieländern laufen wir heute jedoch Gefahr, auf eine viel unattraktivere Art zu degenerieren. Es lohnt sich, dagegen etwas zu unternehmen.

Obwohl die Tretmühlen des Glücks sich auf das Wohlbefinden des Einzelnen negativ auswirken, ist unsere heutige Wirtschaft auf diese angewiesen. Würden die Tretmühlen komplett verschwind’en, gäbe es bald auch kein Wirtschaftswachstum mehr. Das ist das grundlegende Dilemma, welches heute für entwickelte Volkswirtschaften charakteristisch ist. Die Tretmühlen hindern uns daran, mit dem durch das Wirtschaftswachstum stets zunehmenden Wohlstand glücklicher zu werden. Aber sie sind gleichzeitig eine Voraussetzung für dieses Wachstum. Die Werbung und die Massenmedien ermuntern uns deshalb unaufhörlich, die Tretmühlen weiter laufen zu lassen, denn sonst wäre das Wirtschaftswachstum bedroht.

Hoffnung auf eine immer noch bessere Zukunft ist essentiell für das Wirtschaftswachstum. Das eben beschriebene Dilemma führt dazu, dass es zwischen den beiden Zielen Glück und Wachstum keine Harmonie gibt. Gäbe es keine Statustretmühle, dann würden die Menschen viel weniger Geld für teure Statusgüter ausgeben. Gäbe es keine Anspruchstretmühle, dann würden die Menschen nicht ständig Geld für materielle Güter ausgeben, an denen sie nach kürzester Zeit die Freude verlieren. Gäbe es keine Multioptionstretmühle, dann würden die Menschen den Konsum auf ein paar wenige Produkte beschränken, deren Märkte meist längst gesättigt sind. Und gäbe es keine Zeitspartretmühle, dann würden die Menschen einfach damit anfangen, ihre Freizeit zu genießen, statt immer wieder Geld für neue zeitsparende Lösungen auszugeben.[6].Die Suche nach Status, die steigenden Ansprüche, die ständige Suche nach neuen und besseren Optionen und die stetigen Versuche, noch mehr Zeit zu sparen, bewirken ein ständiges Wirtschaftswachstum, da die Menschen sich stets eine noch bessere Welt in der Zukunft erhoffen.[7] Das Wachstum hängt somit an den Tretmühlen genauso wie an der Tatsache, dass man sich ihrer im Alltag nicht bewusst ist: Die Hoffnung auf eine immer noch bessere Zukunft ist essentiell für das Wirtschaftswachstum, auch wenn diese Hoffnung ständig aufs Neue enttäuscht wird.

Bereits der Vater der modernen Volkswirtschaftlehre, Adam Smith, hat in seinem Buch „Theorie der ethischen Gefühle” das Heilsversprechen eines ewigen Wachstums als einen gewaltigen Täuschungsprozess beschrieben. Dort führt er aus, dass sich Menschen oft erst in hohem Alter oder bei Krankheit der Endlichkeit des Lebens bewusst werden. In solchen Momenten erkennen sie dann, wie sie ihr Leben mit ihrem ständigen Streben nach mehr materiellem Wohlstand vertan haben. Wörtlich schreibt Smith (1977, S. 314).

„Reichtum und Macht erscheinen jedem, sobald er durch Verdrossenheit oder Krankheit dahin gebracht wurde, seine eigene Lage mit Aufmerksamkeit zu beobachten und zu überlegen was es ist, das ihm tatsächlich zur Glückseeligkeit fehlt, in einem erbärmlichen Licht. Macht und Reichtum erscheinen ihm dann als das, was sie wirklich sind, als ungeheure und mühsam konstruierte Maschinen, ersonnen, um ein paar wertlose Bequemlichkeiten für körperliches Wohlbefinden zustande zu bringen.”

Doch Smith argumentiert weiter, dass letztlich unser ganzer Wohlstand nur dadurch zustande gekommen ist, dass sich die Menschen ständig durch die Versprechungen des Wachstums blenden lassen. Deshalb ist dieser Täuschungsprozess eine Notwendigkeit für einen andauernden Wachstumsprozess. Doch lassen wir den Meister wieder selbst sprechen (Smith, 1977, S. 315):

„Es ist gut, dass die Natur uns in dieser Weise betrügt. Denn diese Täuschung ist es, was den Fleiß der Menschen erweckt und in beständiger Bewertung erhält. Sie ist es, was sie zuerst antreibt, den Boden zu bearbeiten, Häuser zu bauen, Städte und staatliche Gemeinwesen zu gründen, alle die Wissenschaften und Künste auszubilden, … die die rauen Urwälder in angenehme und fruchtbare Ebenen verwandeln und das pfadlose, öde Weltmeer zu einer neuen Quelle von Einkommen und zu der grossen Heerstrasse des Verkehrs gemacht haben … Durch diese Mühen der Menschen ist die Erde gezwungen worden, ihre natürliche Fruchtbarkeit zu verdoppeln und eine größere Menge von Einwohnern zu erhalten.”

Die Natur hat also mit ihrer Täuschung des Menschen dafür vorgesorgt, dass dieser sich stets fleißig bemüht, den allgemeinen Wohlstand zu erhöhen. Davon profitieren letztlich alle durch einen höheren Wohlstand, doch glücklicher werden sie dadurch nicht. Adam Smith hat die Ambivalenz des Wirtschaftswachstums schon damals erkannt, doch die dann folgende Industrialisierung und wirtschaftliche Entwicklung drängte diese Überlegungen wieder in den Hintergrund.

Mehr als zwei Jahrhunderte nach Adam Smith haben wir einen Wohlstand erreicht, den Smith sich nicht einmal erträumen konnte. Deshalb lässt sich die Frage stellen, ob wir denn angesichts dieses Wohlstandes überhaupt noch ein weiteres Wachstum brauchen. Müssen wir uns stets weiter täuschen und uns eine glücklichere Zukunft vorgaukeln lassen, die dann nie eintritt? Sollten wir nicht anfangen, uns auf das Glück bzw. das Wohlbefinden der Menschen zu konzentrieren, statt einfach immer weiterzuwachsen, ohne glücklicher zu werden?

Das sind berechtigte Fragen, und man könnte leicht zum Schluss kommen, dass wir eigentlich kein Wachstum mehr brauchen.[8] Doch wenn wir uns die aktuellen wirtschaftspolitischen Diskussionen anschauen, dann steht Wachstum nach wie vor ganz hoch im Kurs. Ein Jahr ohne Wachstum wird in praktisch allen Ländern als nationale Katastrophe empfunden. Und hält eine Wachstumsschwäche über mehrere Jahre an, dann werden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs zu bringen. Wachstum scheint also wichtig zu sein, obwohl in den Industrieländern für eine Mehrheit der Menschen die materiellen Bedürfnisse längst gedeckt sind und obwohl empirische Untersuchungen aufzeigen, dass das Glück der Menschen mit weiterem Einkommen im Durchschnitt nicht mehr ansteigt. Weshalb ist das Wirtschaftswachstum also immer noch so wichtig?

Folgendes gilt es dabei zu bedenken. Dank des Wachstums ist die Wirtschaft kein Nullsummenspiel: Wachstum ermöglicht einzelnen Wirtschaftsakteuren, einen Gewinn zu machen bzw. das Einkommen zu erhöhen, ohne dass sich dadurch der Gewinn bzw. das Einkommen bei anderen Wirtschaftsakteuren verringern muss. Das Wirtschaftswachstum befreit uns von der Tyrannei eines Nullsummenspiels, bei dem jeder Gewinn einen Verlust (bzw. eine Gewinnminderung) bei anderen Wirtschaftsakteuren bedingt. Das ist natürlich angenehm, da andere Menschen reich werden können, ohne dass man selbst etwas hergeben muss. Diese Tatsache ist sowohl für die Einkommensverteilung innerhalb der einzelnen Länder als auch in globalem Rahmen zwischen den Ländern von Bedeutung. In den heute hoch industrialisierten Ländern erlaubte es das Wirtschaftswachstum breiten Schichten, einen ansehnlichen Wohlstand zu erreichen, ohne dass die Oberschicht von ihrem Reichtum hergeben musste. Die Arbeiterschaft wurde langfristig nicht ausgebeutet, wie Marx dies noch annahm, sondern partizipierte an dem durch das Wirtschaftswachstum stets steigenden Wohlstand und ist heute als eigene Klasse praktisch verschwunden. Aber auch in globalem Rahmen und für die Einkommensverteilung zwischen den Ländern ist Wachstum gerade für die Industrienationen eine angenehme Sache. Durch das globale Wirtschaftswachstum können Entwicklungsländer reich werden, ohne dass wir, in den hoch entwickelten Industrienationen, etwas von unserem Wohlstand einbüßen müssen.

Innerhalb von entwickelten Industrieländem ermöglichte das Wirtschaftswachstum somit die Kombination von zwei Zielen, die zunächst diametral entgegengesetzt zu sein scheinen: die Kombination von arbeitssparendem technischem Fortschritt mit dem Ziel der Vollbeschäftigung. Die ganze industrielle Entwicklung ist geprägt durch den Ersatz von Arbeitern durch Maschinen in der Produktion, was gleichzeitig eine Ersetzung von Arbeit durch Energie bedeutet. Die Industrieunternehmen konnten im Wettbewerb der sich entwickelnden kapitalistischen Wirtschaftssysteme langfristig nur überleben, indem sie sich durch Nutzbarmachung des technischen Fortschritts (Innovationen) immer wieder Wettbewerbsvorteile verschafften. So führte das Ziel der Gewinnmaximierung bei den Unternehmen zu arbeitssparendem technischem Fortschritt, bei dem teurer werden-de Arbeit durch billiger werdende Energie (zuerst Kohle, später Erdöl) ersetzt wurde. Dass trotzdem nicht immer mehr Arbeiter ihren Job verloren (mit Ausnahme der Zeiten von Wirtschaftskrisen), ist dem Wirtschaftswachstum zu verdanken. Im 20. Jahrhundert erfolgte die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze dann allerdings immer mehr über den Dienstleistungssektor und heute ist das der einzige Wirtschaftssektor der netto noch Arbeitsplätze schaffen kann.

Doch der wichtigste Grund, weshalb wir so sehr auf Wachstum fokussiert sind, ist in der Tatsache begründet, dass moderne Wirtschaften so genannte Kreditgeldwirtschaften sind.[9] Zusammengefasst lässt sich der Wachstumsprozess in einer Kreditgeldwirtschaft, folgendermaßen beschreiben: Das Wachstum wird durch neue Investitionsprojekte in Gang gebracht, welche in Zukunft eine Zunahme der Produktion von Gütern und Dienstleistungen ermöglichen. Die Investitionsausgaben können dabei in modernen Kreditgeldwirtschaften durch Bankkredite finanziert werden, ohne dass bereits entsprechende Ersparnisse vorhanden sind. Durch diese Kredite entsteht zusätzliches Geld und es wird zusätzliche Kaufkraft geschaffen, die unmittelbar zu mehr Einkommen und da-mit auch zu mehr Konsum von Gütern und Dienstleistungen führt. Dadurch steigen die Gewinne der Unternehmen, aus welchen diese die Zahlungen der Zinsen und Risikoprämien für das Fremdkapital sowie der Dividenden für das Eigenkapital bezahlen können. Diese Zahlungen, das heißt die Zinsen, Risikoprämien und die Dividenden, fließen größtenteils wieder in den Wirtschaftskreislauf zurück und sorgen ebenfalls für zusätzliche Nachfrage.

Kommt dieser Wachstumsprozess hingegen ins Stocken, dann rentieren sich die Investitionen nicht mehr, da kein zusätzliches Einkommen mehr mit ihnen erzielt wird. Die Unternehmen sind dann nicht mehr in der Lage, längerfristig Zinsen, Risikoprämien und Dividenden zu bezahlen. Ein Teil der Unternehmen geht Konkurs und die ganze Wirtschaft gerät in eine schwere Krise und beginnt zu schrumpfen. Nur Wachstum kann das verhindern. Es ist der fundamentale Zusammenhang zwischen Investitionen, Kreditgeldschöpfung und Gewinnen, der das Wachstum einerseits ermöglicht, aber andererseits auch erforderlich macht. Intuitiv wissen das auch viele Unternehmer und Manager, selbst wenn sie dafür keine tiefere Begründung liefern. So meint etwa Jack Greenberg von McDonald’s[10]: „Wenn man nicht wächst, dann schrumpft man. Es ist nicht so, dass man den Status quo halten könnte.” Mit andern Worten, es gibt nur die Alternativen Wachstum oder Schrumpfung, aber keine Möglichkeit einer langfristig stationären Wirtschaft.

Global betrachtet braucht es also Wachstum, damit die heutige Wirtschaft funktioniert, und die Tretmühlen sind eine Voraussetzung dafür, dass dieses Wachstum immer weiter geht. Allerdings ist damit noch nichts darüber ausgesagt, wie stark die Wirtschaft tatsächlich wachsen muss. Oder, um die Frage etwas anders zu formulieren: Um wie viel können wir das Wachstum verlangsamen, ohne dass die Funktionsweise der Wirtschaft beeinträchtigt wird? Ziel sollte nicht mehr ein möglichst hohes Wachstum sein, sondern ein Wachstum, bei dem die Tretmühleneffekte möglichst gering sind. Der dafür vorhandene Spielraum ist bis heute noch nicht ausgelotet.

[1] Das Easterlin Paradox beschreibt die Tatsache, dass zwar in einem Land zu einem bestimmten Zeitpunkt die Zufriedenheit der einzelnen Menschen tendenziell umso größer ist, je mehr Einkommen sie haben, dass aber ihre durchschnittliche Zufriedenheit längerfristig mit dem Wirtschaftswachstum nicht zunimmt. Mit andern Worten: die Reichen sind zufriedener als die Armen, aber insgesamt tritt die Gesellschaft trotz Wachstum glücksmäßig an Ort und Stelle. Siehe dazu die Arbeiten von Easterlin im Literaturverzeichnis.
[2] Siehe Golden and Wiens-Tuers (2006).
[3] Diese Tretmühlen sind ausführlich beschrieben in Binswanger (2006a) und Binswanger (2006b).
[4] Allerdings macht mehr Einkommen auch nicht unglücklicher, wie manchmal ebenfalls behauptet wird.
[5] Siehe etwa Layard (2005).
[6] Siehe die Kapitel 7 bis10 in Binswanger (2006a).
[7] Ewiges Wachstum, welches ein immer besseres Leben im Diesseits verspricht ist zur neuen Heilsbotschaft in der heutigen Zeit geworden. Sie hat die alte christliche Heilsbotschaft vom ewigen Leben abgelöst. Siehe dazu Binswanger (2006c).
[8] Die Frage nach der Notwendigkeit des Wachstums wurde schon zu Beginn der 70er Jahre vom Club of Rome in seinem Bericht „Grenzen des Wachstums” gestellt, wenn auch aus einem anderen Grund. Damals schien es so, als ob die natürlichen Ressourcen (vor allem das Erdöl) dem Wachstum in naher Zukunft eine Grenze setzen würden, was sich dann allerdings in der Folge als eine zu pessimistische Annahme herausstellte. Aber die Frage nach der Notwendigkeit des Wachstums war gestellt und wurde seither immer wieder diskutiert.
[9] Siehe dazu ausführlicher das Kapitel 11 in Binswanger (2006a) sowie Binswanger (2009).
[10] Zitiert aus Csikszentmihaly (2004), 5.183.

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