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Die Inter­ven­ti­ons­ge­sell­schaft Afgha­nistans

Die Fährnisse militärisch erzwungenen Fortschritts

aus: Vorgänge 195 ( Heft 3/2011), S.98-110

Die Fährnisse militärisch erzwungenen Fortschritts
Dieser Text enthält eine Fülle von Anschlussfeldern, die nicht ausgearbeitet und entfaltet sein können. Es handelt sich nicht um einen wissenschaftlichen Aufsatz mit vollständigen Belegen und einem Themenrahmen, aus dem heraus Afghanistan besser zu verstehen wäre oder mit dessen Hilfe man verschiedene Phänomene der Gewalt in diesem Land besser erklären könnte. Immerhin, einige dieser Erklärungen versuche ich zu liefern. Vor die Klammer ziehen möchte ich drei Aspekte: Afghanistan ist für uns in Deutschland und im öffentlichen Diskurs ein Konstrukt, das sich mit der Empirie von Beobachtung und Klassifizierung nicht deckt; Afghanistan ein Schauplatz von komplexen Dynamiken, aus denen neue Gesellschaftsformen, vielleicht auch ein neuer Staat entstehen kann, über den wir noch wenig aussagen können; umso wichtiger ist es, diese Dynamiken zu untersuchen. Und schließlich geht es um Menschen, die sich zwischen dem Überlebensbedürfnis und dem Haben, vielleicht sogar Planen einer Zukunft aufgespannt sehen, und es geht mehr um die Interessen dieser Menschen als unsere deutsche Befindlichkeit. Das kann zwar auch zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung gemacht werden, sollte aber nicht zu einem Verzicht auf Empathie und Solidarität führen. Ich danke meinem Freund und Kollegen Jan Koehler für Kritik und wichtige Aspekte an diesem Text.

1. Statt einer Einleitung

Der preisgekrönte Film Winter’s Bone[1] spielt in den USA von heute. Mitten in Missouri, im Ozark-Gebirge, leben Menschen in höchst merkwürdigen Verhältnissen. Für die Bewohner, die nicht einfach arm oder zurückgeblieben sind, gelten offensichtlich die Spielregeln zweier Gesellschaften gleichzeitig: der durch Recht und Gesetz strukturierten amerikanischen Staatsgesellschaft und einer unscharf abgegrenzten lokalen Gesellschaft, die weder ein ethnisch noch sozial definierter Stamm ist noch einfach als Milieu, etwa als Prekariat oder drogenökonomische Randgruppe bezeichnet werden kann. In dieser zweiten Gesellschaft spielt Verwandtschaft eine große, aber nicht ausschließliche Rolle, auch die Distanz zum Rechtsstaat und die partielle Opposition gegen seine Sanktionen sind wichtig. Aber die Schnittstellen sind nicht exakt markiert, es gibt Crossovers und Seitenwechsel. Ich muss die Geschichte hier nicht nacherzählen, man kann sie filmografisch leicht nachvollziehen. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass die Regeln dieser zweiten Gesellschaft stark lebensweltlich bestimmt sind, dass also Traditionen, auch tradierte Konfliktregulierungen, und starke persönliche Bindungen jenseits emotiver Anziehung und bestimmte Positionen zur Ausübung von Gewalt vorherrschen, die den formalen Institutionen des Systems nicht entsprechen.

Das System, im Gegensatz zur Lebenswelt, markiert den Raum der formalen Institutionen, also von gesetztem Recht, Gesetzen, Sanktionen vor allem des Staates in Ausübung seines Gewaltmonopols. Die Lebenswelt ist hingegen gekennzeichnet von informellen Institutionen, Regeln, Werten, Ritualen, die genealogisch begründet sein können und jedenfalls auf bestimmte Gemeinschafts-Strukturen verweisen, die von den formalen Institutionen nicht oder nur ungenau erfasst werden, z.B. Schweigegeboten, Kooperationsverboten, Recht oder Verweigerung des Rechts auf physische Gewalt innerhalb der eigenen Konfliktregulierung. Eine Schnittstelle zwischen den beiden Gesellschaftsmodi ist ihre Diachronizität, also Ungleichzeitigkeit. Im Clan herrschen Regeln, die wir vorschnell als anachronistisch, unzeitgemäß abtun könnten, ginge es nicht auch um das Kochen von ChristalMeth und Drogenhandel, um Mord mit modernen Waffen und die Frage moderner Kommunikation und Forensik. Gerade an der Nebenrolle eines Sheriffs, der sich der zweiten Gesellschaft nicht ganz entzieht, wird deutlich, worin sich Konfliktlinien entwickeln. Umgekehrt sind die Regeln innerhalb der Clangesellschaft funktional, haben ihre eigene Rationalität und Logik und sind, im Effekt, überraschend „human” mit einer Lösung der Probleme, die der Rechtsstaat so einfach nicht zustande brächte. Es geht aber immerhin um eine Familie mit drei minderjährigen Kindern, einer dementen Mutter, dem mittlerweile toten Vater, der Auslöser und Projektionsfläche für das ganze ansonsten einfache Geschehen ist. Innerhalb dieser zweiten Gesellschaft sind die Konflikte sozial eingebettet, d. h, alle halten sich mehr oder weniger an dieselben Spielregeln, auch wenn sie Antagonisten oder gar Feinde sind. Ein sehr realistisches Beispiel ist, dass die siebzehnjährige Protagonistin zur Warnung von Frauen der Familie sehr brutal geschlagen wird, aber die „Männer sie nicht anrühren”.

Dieser Film zeigt beispielhaft, dass gesellschaftliche Strukturen unterhalb und neben der Staatlichkeit existieren können und dass Staatlichkeit niemals vollständig ist. Man darf daraus nicht vorschnell den Schluss ziehen, dass außerhalb dieser Staatlichkeit Opposition oder Anomie herrschen müssen. Es kann auch autonomisierte Strukturen geben, deren Parallelität sich der Staatlichkeit nicht gänzlich entzieht.

Diese Erzählung ist kein Ornament. Sie zeigt nur, dass vieles, das wir in Afghanistan beobachten, auch anderswo stattfindet. Ich habe den Begriff der eingebetteten Konflikte eingeführt; er spielt vor allem bei der Frage von Gewalt eine große Rolle [2] Die Theorien, auf die ich mich stütze, sind zunächst sozial-anthropologisch und ethnologisch der Schule von Eiwert entnommen, vor allem der Begriff der eingebetteten Konflikte in Bezug auf Gewaltanwendung.[3] Deren konflikttheoretischer Rahmen wiederum ergibt sich aus der Linie Simmel-Coser-Dahrendorf, also aus der Grundannahme, dass Konflikte unabdingbar zur Konstituierung und Dynamisierung von Gesellschaft gehören und nicht Abweichungen von einer vorgegebenen Norm sind, die immer wieder hergestellt werden muss.

Nun gilt die Faustregel, dass dort, wo die Rule of Law wenig ausgebildet ist, die lebensweltlichen informellen Institutionen eine größere Rolle spielen, ohne dass sie im Rechtsstaat völlig verschwinden. Das beste Beispiel hierfür ist die Ehre als regulatives Prinzip. Pionierarbeit für diesen Sachverhalt hat u. a. Bourdieu im Algerienkrieg 1960–1962 geleistet.[4] Es gilt aber auch, was Habermas zum Verhältnis von System und Lebenswelt anmerkt, dass nämlich das System zunehmend die Lebenswelt kolonisiert.[5] Das will besagen, dass die Lebenswelt mit ihren Traditionen und Ritualen, aber auch mit ihren nicht im Staat gleichmäßig verankerten Regeln immer mehr unter Druck gerät – und bestenfalls anti-kolonialen Widerstand leistet, um im Bild zu bleiben. Winter’s Bone gibt einen Einblick in ein Kultur übergreifendes Phänomen, das in Afghanistan eine große Rolle spielt.

Auch wer die angesprochenen Theorien noch nicht kennt, wird eines verstehen: Herrschaftstheorien mit einem Hang zur Staatsteleologie, die also Gesellschaft immer staatlich zusammengefasst verstehen, sind oft nicht weit genug gegangen im Einbezug von Kategorien wie Macht, Konflikt und Gewalt. Wenn also bei Staatsgründungen oder Nation-Building wie in Afghanistan der lebensweltliche und damit auch mikrosoziale Unterbau vernachlässigt wird, muss das Verständnis der Gewaltszenarien an der Basis der Gesellschaft beschränkt bleiben. Zu Beginn unserer Interventionstheorie anlässlich des Kosovo-Konflikts ca. 2003 habe ich das einmal das „Surfen” des Systems über der Lebenswelt genannt, d. h. dort, wo die formalen Institutionen verhandelt werden, also die allgemeinen Regeln aufgestellt werden, ist man unter sich und nicht mit den alltäglichen und verankerten Konfliktregulierungen der gesellschaftlichen Basis konfrontiert. Im Falle Afghanistans kann man diese Auffassung in praktisch allen Geberkonferenzen und politischen Vereinbarungen auf Regierungsebene bestätigt sehen – sie haben so gut wie keine Auswirkung auf den Gewaltmarkt und die Konflikteinbettung auf gesellschaftlicher Ebene.[6]

II. Afghanistan

Ich werde im Folgenden zu einigen Aspekten der Konfliktsituation in Afghanistan Stellung nehmen. Damit impliziere ich folgende Rahmensetzungen:

  • Afghanistan ist eine Interventionsgesellschaft; damit sind viele der jetzt vor-herrschenden auch gewaltsamen Konflikte solche, die durch die Intervention bedingt sind und nicht solche, die zur Intervention geführt haben.[7] Bei allen Formen von State- und Nationbuilding spielt die Interventionsgesellschaft eine entscheidende Rolle, auch und weil sie sich nicht auf die Staatsform und die Wechselwirkung mit Staatlichkeit konzentriert, sondern davon ausgeht, dass die Gesellschaft der Intervenierten durch die Intervention irreversibel verändert wird und dass die Interventionsgesellschaft entscheidend zur Formgebung neuer Staatlichkeit beiträgt. Dieser Aspekt wurde bei den meisten humanitären Interventionen und Friedenseinsätzen weitgehend vernachlässigt, weil der Fokus auf der Systemebene und damit den Staats- und Herrschaftsformen der Makro-Ebene lag und liegt. Das ist eine Ursache partiellen Versagens dieser Interventionen
  • Jede Intervention erzeugt eine Interventionsgesellschaft.
  • Alle Interventionsgesellschaften sind strukturell einander ähnlich und vergleichbar, unabhängig von ihren höchst unterschiedlichen kulturellen Erscheinungsformen.
  • Interventionsgesellschaftlichen sind bestimmt durch die dynamische Beziehung von Intervenierenden und Intervenierten. Diese Beziehung führt zu teil-weisen Verschmelzungen, kollusiven Verhältnissen und zur Entwicklung neuer Gesellschaftsstrukturen, die nicht einfach Kompromisse zwischen den Strukturen der beiden Gruppen sind. Diese neuen Strukturen sind weitgehend irreversibel.
  •  Die Systemebene dieser neuen Interventionsgeselischaft steht in einem besonderen Spannungsverhältnis zur Lebenswelt der Intervenierten. Damit werden unmittelbar die Institutionen (Spielregeln) dieser Gesellschaft und alle Aspekte von Governance auch auf der mikro-sozialen Ebene betroffen (Konfliktregelungen, Traditionen, Werte, Habitus).
  • Daraus ergibt sich zwingend die Entstehung einer Interventionskultur in der Interventionsgesellschaft.
  • Bei der Steuerung der Beziehung zwischen Intervenierenden und Intervenierten spielt vor allem der Heimatdiskurs der ersteren eine entscheidende Rolle.
  • Die Verschmelzung bzw. kollusive Verbindung von intervenierten Afghanen und intervenierenden internationalen Akteuren ist nicht vollständig und nicht gleichmäßig.[8] Sie erhält durch den bevorstehenden Teilrückzug von ISAF eine besondere Dynamik.
  • Es gibt einen Gewaltmarkt[9] in Afghanistan, d. h, viele Gewaltunternehmer profitieren davon, dass Gewaltanwendung nicht deeskaliert wird; ob andere Gewalt mit genau dem Ziel der De-Eskalation oder des militärischen Sieges anwenden, lässt sich weniger denn je mit Sicherheit sagen.

Das Rationale der internationalen Intervention und der supranationalen Vereinbarung über Afghanistan ist die Hinterlassung funktionierender Institutionen mit einer starken Zentralregierung und weitgehend geschwächten Insurgenten (Taliban wäre ein verkürzter Begriff). Dieses Ziel ist zurzeit zwar nicht in Reichweite, ihm dienen aber auch die meisten militärischen Aktivitäten und nicht nur die zivile Aufbau- und Entwicklungszusammenarbeit (EZ).[10] Der Sachstand über die Situation in Afghanistan kann am besten über die seriösen Analytiker und Beobachter vor Ort aktualisiert werden und wird hier nicht weiter ausgebreitet [11] Denn die prinzipiellen Probleme, die ich heute anspreche, sind teilweise relativ unabhängig von aktuellen Zeitpunkten und eher über Zeitlinien zu erfassen.

III. Kein Staat wie alle anderen?

Afghanistan ist ein Staat, dessen Staatsgrenzen relativ lange bestehen und dessen Territorium seit Langem nicht ernsthaft von Spaltungen oder Separatismen bedroht ist. Gleichwohl ist es kein Nationalstaat im europäischen, traditionellen Sinn, auch kein ethnischer Volksstaat, sondern ein durch seine fragile Staatlichkeit gekennzeichneter Staat im permanenten Versuch sich über das Gewaltmonopol zu stabilisieren. Das ist jedenfalls seit dem Ende der Monarchie der Fall; vorher waren die Herrschaftsverhältnisse oberhalb der lokalen und regionalen Strukturen weniger fraglich, auch hat der Außendruck großer internationaler Akteure, vor allem der Briten, die Frage der Grenzregime anders bewerten lassen als heute.

Es ist hier nicht der Platz, die Geschichte der tribalen, ethnischen, soziogeographischen und politischen Differenzierungen des Landes vorzustellen. Wichtig ist an dieser Stelle anzumerken, dass die Vorgeschichte des dreißigjährigen Krieges seit 1978 durch diesen Krieg und die damit verbundenen Zerstörungen, Modernisierungen und Umstrukturierungen in gewissem Sinnausgelöscht bzw. verzerrt wurde [12] und heute in verschiedenen narrativen Konstruktionen wieder auflebt, die empirisch mehr mit kollektivem Gedächtnis und Erinnerungskultur, auch mit einer gewissen Amnesie und Faktenarmut belebt werden; und ebenso wichtig ist, dass die Intervention nach 2001 und die afghanische Regierung keinen Zustand von früher, also vor dem sowjetischen Einmarsch, wieder herstellen können und wollen, dass es aber auch kein vordringliches Eroberungs- oder Kolonisierungsinteresse der Intervenierenden gibt.

IV. Nachkriegs­ge­walt

Wir haben es mit typischen und keineswegs einzigartigen Phänomen von gesellschaftlicher Umstrukturierung zu tun, die für Nachkriegsgesellschaften kennzeichnend sind. Gleichzeitig mischen sich Kriegserfahrungen, Flüchtlings- und Entwurzelungsphänomene, Aufbauaktionen, eine gewisse Ausdifferenzierung der Gesellschaft und die Folgen fast völlig fehlender rechtsstaatlicher, sozialstaatlicher und sicherheitsorientierter Governance. Das heißt natürlich nicht, dass nicht regiert wird, sondern es wird fragmentiert regiert, uneinheitlich oft antagonistisch und jedenfalls nicht in den Bahnen idealtypisch gestaltender Staatlichkeit. Wenn alle Akteurs-Konflikte immer auf Differenzen über Ressourcen, Prestige und Macht zurückgeführt werden können (Coser), dann ist leicht einzusehen, dass eine fragmentierte Gesellschaft in einer durchaus gewaltaffinen Situation kein einheitliches Konflikt-Mapping zulässt. Norm- und Sinnkonflikte (konkurrierende Muster von Lebensstilen und Zukunftskonstruktionen) sind noch schwieriger zu kartieren. Diese Kartierung wird, wenn überhaupt, pauschal auf der Systemebene transportiert, um die Intervention und verschiedene militärische Gewalthandlungen zu legitimieren. Ich halte mich nicht mit den Schwächen der Konstruktion und Implementation des sog. Liberal State-Building auf, und auch nicht damit, wie fatal inkompetent und inkonsequent es vor allem durch die USA als Führungsmacht der Intervention umzusetzen versucht wurde.[13] Die Policy ist nicht mein Thema, aber sie gibt den Rahmendafür ab, was sich an Konflikten an der gesellschaftlichen Basis abspielt. Wenn wir bei den zwei Gesellschaften aus der Einleitung bleiben, dann kann man jedenfalls sagen, dass die erste Gesellschaft noch weit weniger als die im Film agiert, und die zweite Gesellschaft ihre Konflikte mit höchst unterschiedlichen Widerständen reguliert. Afghanistan hat keine fragile oder beschränkte Staatlichkeit, sondern einen Staat, der zum einen defizient, aber real entsteht, zum anderen an seiner Stabilisierung massiv durch Wider-stand von innen und außen behindert wird.

Die Reorganisation des Spielfelds und der Regeln wurde immerhin deutlich durch die neue Strategie unter Obama und das Konzept der vernetzten Sicherheit und Aufstandsbekämpfung durch Gen. McChrystal (COIN = Counterinsurgency) seit 2009 sichtbar[14], ein zweiter Fixpunkt wurde durch das völlig unrealistische Abzugsdatum 2014 gesetzt. In diesem volatilen Übergangsrahmen zu einem instabilen, aber überlebensfähigen Staat befinden wir uns.

Ich will nun einige Gewaltaspekte aus mehreren deutlicher darstellen. Ich will die Differenzen dieser Aspekte in der Spannung von System und Lebenswelt betonen. Wir brauchen nicht nur wissenschaftliche Methoden, um zu verstehen, was wir wahrnehmen, wir brauchen dafür auch Empathie und eine Vorstellung von den Lebensumständen der betroffenen Menschen:

  • Wir hören ja allenthalben vom Krieg, der nicht militärisch gewonnen werden.. kann. Wer führt gegen wen Krieg, wer hat ihn erklärt, was würde ein Sieg in diesem Krieg bedeuten?
  • Wir hören von den radikal-islamischen Taliban und setzen sie oft mit Terroristen, oft mit Al-Qaida gleich.
  • Wir hören von Drogenökonomie und damit verbundener gewaltsamer Verhinderung wirtschaftlichen Aufbaus in „unserem Sinne”, zugleich aber ist die Ökonomie in manchen Landesteilen die Bedingung für Wohlstand und damit ein Gewalt mindernder Faktor. An dieser Ambivalenz kann man studieren, wie wenig der Blick von der Systemebene Klarheit verschafft.
  • Wir hören von Warlords, lokalen Kommandos, Kriegsherrn und autonomen „Mezzanin“-Potentaten auf Provinzebene, die ihre Herrschaft gewaltsam stabilisieren.

Die Dekonstruktion dieser Wahrnehmungen („wir hören …) ist kompliziert, erfordert sowohl wissenschaftliche Analyse als auch empirische Differenzierung – und steht unter dem Zeitdruck, dass sie während der Übergangszeit noch schneller geleistet werden musste, als sie bereits versäumt wurde. Aber aus meinen Formulierungen wird bereits deutlich, dass die Distanz zwischen der Wahrnehmung und objektiven Tatbeständen jeweils beachtlich ist. Das Gleiche gilt natürlich für internationale Streitkräfte, deren Konfliktregulierung in vielen Fällen völlig entbettet gegenüber der sozialen Struktur der Intervenierten erfolgt, in anderen Fällen intern wenig konsistent ist, obwohl man vom Militär konsistente Handlungsmuster erwarten sollte. Dass Militär, auch wenn es zur Konfliktminderung entsandt wurde, selbst Konflikte produziert und in sich konfliktträchtig ist, wird niemanden verwundern. Mein Augenmerk ist aber auch darauf gerichtet, welche Gewaltstrukturen diese Konflikte mobilisieren.

Aus all dem ziehe ich das Zwischenfazit, dass Gewaltanwendung nur in den wenigen Fällen eindeutig klassifizierbar ist, in denen die Gewalt manifest ist. Strukturelle Gewalt, wenn man diesen m. E. hohl gewordenen Begriff verwenden möchte, tritt oft camoufliert, oder gar im Gewand von Ordnung und Tradition oder aber Sachzwang auf und wird oft anders wahrgenommen als sie erscheinen muss, wenn ihre diskursiven und materiellen Schleier entfernt sind. Struktureller Zwang, also Handlungen gegen die eigenen Interessen unter gewaltsamem Einfluss, können hingegen sehr wohl beschrieben werden (z.B. als Drogenkuriere zu dienen, wenn Leistungen vom Gewaltakteur erwirkt wurden; oder in bestimmten Produktionsmethoden zu verharren, obwohl andere angestrebt werden etc.).

V. Gewalt

Selbst ein durchstrukturierter Rechtsstaat mit aller Legitimation schafft noch nicht Gerechtigkeit, aber immerhin Erwartungssicherheit, Legitimität, Verfahrensgleichheit usw. Ein interessanter Nebengedanke, der unmittelbar forschungsrelevant ist: Wenn der Rechtsstaat von der Lebenswelt der Betroffenen abgekoppelt ist, dann ist für diese immerhin noch die Hoffnung, dass Legitimation durch Verfahren sie zum „Mitmachen” bewegt, ohne dass dies strategisch oder taktisch gemeint ist.

Wenn nun der Rechtsstaat erst in den Anfängen ist, konkurrieren verschiedene Regelsysteme, und viele davon sind durch echte oder behauptete Tradition und genealogische Authentizität ausgewiesen. Wenn also in einem Kriminalfall die lokale Polizei korrupt, die Rechtslage unsicher und die Verfahren zur Konfliktregulierung, also z. B. Bestrafung der Schuldigen und Rückbringung gestohlenen Eigentums, unabsehbar sind, ist es kein Wunder, wenn sich lokale und oft auch internationale Petenten an die lokal herrschenden Gewaltakteure um Hilfe wenden. Wenn diese zur Herstellung von „Gerechtigkeit“[15]  Gewalt anwenden, wird dies billigend in Kauf genommen, und wenn der Preis illegitime Gefolgschaft ist, vielfach ebenso. (Hier geht es darum, dass der individuelle Petent oder die betroffene Gruppe gerade nicht das „Allgemeinwohl” oder „die Gesellschaft” im Auge hat, sondern ihre aktuellen Interessen. Ich weiß schon um die Differenz zwischen diesen beiden normativen Ebenen, aber ich weiß auch, wie schwer sie in den Erscheinungsformen und vor allem den Äußerungen der Betroffenen getrennt wahrnehmbar sind. Wenn es sich zum Beispiel um Taliban handelt, die diese Position in einem Dorf haben, dann setzen diese die Spielregeln, wo die Staatlichkeit fehlt oder defekt ist. Es kann sein, dass diese Spielregeln eingebettet werden oder diese soziale Einbettung fehlt. Man versteht, warum die Systemebene gewaltsam gegen diese Praxis vorgeht, es ist eine Kernszene der gewaltsamen Konflikte.

Sie fehlt z. B. dort, wo es um Durchsetzung von Interessen – Macht, Ressourcen, Prestige – geht, obwohl diese Durchsetzung nur mit äußerster Gewalt oder Gewaltdrohungen möglich ist, also im fundamentalen Sinn unpolitisch und nicht verhandelbar ist. Dabei wird z. B. im Normendiskurs von Stämmen oft auf Ehrcodes zurückgegriffen, die den Rechtsstaat ersetzen oder gar übertreffen sollen (Ähnliches gilt für religiöse Auslegungen, die sich im quasi Privateigentum der Gewaltakteure als Exegeten befinden).

Man darf nicht vergessen, dass Ehre ein handelbares, verhandelbares Gut ist, das bestehende Ordnungsstrukturen repräsentiert und vor allem Machtstrukturen schützen hilf (streng zu unterscheiden von der nichtverfügbaren Menschenwürde). Dies gilt für dif Taliban weniger, weil sie dem alten Fehderecht und der Stammesordnung entgegenwir ken Aber wo das alte Recht (vermindert) weiterwirkt, z.B. im Pashtunwali, kann mal das Phänomen beobachten. Man kann das bei der Mannes- und Familienehre gut ‚be obachten, wo die Würde der beschuldigten Frau mitnichten gewahrt wird, wenn die Ehre des Mannes oder des Clans wiederhergestellt werden soll, wie auch immer sie beschädigt oder beleidigt worden ist.'[6] Wenn man dann liest, dass die Bevölkerung bei einer Steinigung Beifall gespendet hat, dann wird das oft missverstanden als Billigung de;Gewaltaktes an sich; es geht vielmehr um ein an der Basis der Gesellschaft oft anzutref fendes Motiv, besser diese Ordnung als keine, anzuerkennen. Die letzte Bemerkung is allerdings eine Analogie zu empirisch notierten Feststellungen eben dieses Satzes um seiner Geltung bei den klatschenden Menschen, die einer Steinigung zusehen. Die „eth nologische Lücke” ist natürlich schwer zu schließen, d. h. die Beobachtungen und Inter pretationen von lokalem Verhalten reichen nicht aus für eine direkte Übertragung in eii Modell der sozialen und politischen Struktur.

Ein Wort zu den Taliban. Wir wissen heute so viel über die so genannten Gruppen dass ihre pauschale Gleichsetzung mit Terroristen so falsch ist wie ihre Kennzeichnunl als radikal-islamisch, wie die deutsche offizielle Mediensprachregelung es möchte. Ta liban kann man am besten nach dem Grad ihrer politischen Zielsetzung kategorisieren nach ihren Interessen, an der politischen Macht teilzuhaben und mitzuregieren, an ihrei Ressourcen, Quellen, Legitimationsverfahren. Und dabei kann man sehr wohl Muste erkennen. Manche Taliban handeln terroristisch, andere nicht, manche versuchen, ihre mangelnde Anerkennung durch taktische Moderation zu kompensieren, wie etwa be Angriffen auf Schulen[17], andere üben Gewalt durch eingelöste Drohungen aus (Koehler spricht hier von „Verlässlichkeit“). Dementsprechend breit ist ihre Bereitschaltung
zur Anerkennung von Spielregeln, die auch für andere Akteursgruppen gelten. DiSpielregel für eine lokale Gemeinschaft kann etwa lauten: Schulen greift man nicht an ebensowenig wie Stromleitungen oder Staudämme. Für Schulen hat das lange Zeit voi Seiten der Taliban nicht gegolten, jetzt erfolgt die Anerkennung aus vielleicht nur taktischen Gründe, aber die Motive sind nicht das Wichtigste. Und gerade daran können wi lernen, dass Anerkennung von Zielsetzungen und die Unterwerfung unter gewaltsar gesetzte Regeln nicht dasselbe ist. Wenn aus der bloßen Unterwerfung, die z. B. durch militärischen Zwang herbeigeführt wird – oder durch den besonders wirksamen Schut der Schule – noch keine Internalisierung der (neuen) Normen erfolgt, bleibt die sozial Struktur volatil, kann jederzeit geändert oder aufgebrochen werden.

Ähnliches gilt für Gewaltregime zur Absicherung ihrer Herrschaft in einem be stimmten begrenzten, oft kleinen Territorium. Solche Herrschaft kann z. B. dann auch recht erhalten werden, wenn der im Prinzip vorhandene Staat bis ganz zur Spitze hin fü bestimmte Gewalthandlungen Freiheit von Strafverfolgung oder Straffreiheit gewährt.[18]

VI. Eine Hypothese mit Forschungs­be­darf

Eine noch nicht voll ausgearbeitete Annahme besteht darin, dass sich die Gewalteskalation vor allem auf die untersten und obersten Schichten einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft konzentriert: auf die ganz Armen, die von Demokratisierung und öffentlichem Raum keine Verbesserung ihrer Lebensumstände erwarten dürfen, und auf viele Eliten, die an einer Schmälerung ihres Eigentums und ihrer Machtpotenziale kein Interesse haben und als Patrone von Gewalt agieren, mehr als dass sie diese unmittelbar ausüben. Die damit verbundenen Untersuchungen könnten u. U. ergeben, dass die Entwicklungszusammenarbeit an verschiedenen Schichten unterschiedlich ansetzen muss, und die Governance nach unten sich mehr auf Wohlfahrt konzentrieren muss, während die Rule of Law für die entstehenden Mittelschichten eher mit Sicherheit verbunden werden muss; für die Eliten gilt es, sich der Herausforderung der verhandelbaren Legitimität des Staates in einem zu erweiternden öffentlichen Raum zu stellen, was Gewalt mindernd auch die Rolle der Zivilgesellschaft als das Andere von Staatlichkeit betont. Allen drei Ebenen wäre gemeinsam, dass sich eine gemeinsame Kultur von Konfliktre-gelungen, also der Einbettung, erst entwickeln muss. Dies ist, zugegeben, erst eine plausible Vermutung, noch nicht mehr: sie aber empirisch zu belegen kann von hoher Bedeutung für weitere wissenschaftliche Analysen werden. Das Ausdifferenzieren von Gesellschaft in solche Klassen und Schichten ist nicht ungewöhnlich; es ist stark an das Verhalten von Rückkehrern, an die Landflucht und Verstädterung und an den Arbeitsmarkt durch die Internationalen gebunden. Aber der kulturelle Kontext und sehr feinteilige Spezifika lassen unterhalb eines sehr allgemeinen Musters in Interventionsgesellschaften keine festen Übertragungsregeln von einem Land ins andere zu.

VII. Militä­ri­sche Gewalt

Nun sind wir aber in einer Interventionsgesellschaft und betrachten nicht einfach einen Staatsgründungsprozess mit einem Krieg der sich konsolidierenden Staatlichkeit gegen Insurgenten und Separatisten. Es gibt über 130.000 ausländische Soldaten im Rahmen der mandatierten ISAF und jede Menge Special Operations der USA ohne jedes Mandat, die ebenso mit den Gewaltakteuren interagieren wie sie teilweise selbst solche sind. Dies ist in Deutschland ein ebenso sensibles Thema wie in Afghanistan. Die ehemals als OEF (=Operation Enduring Freedom) benannte Racheoperation nach 9/11[19] und der Wunsch nach Sanktionen gegen die konkret Schuldigen am Attentat hat einen Feind (Enemy) klar im Rahmen des War on Terrorism benannt. Die Operation sollte zur Verödung von Rückzugsräumen für Al Qaida und Osama bin Laden führen. Dieser Feind der USA, des Westens, der zivilisierten internationalen Gemeinschaft ist ebenso unscharf konturiert wie abstrakt und wird nach der Golden Hour, also nach 2005, zunehmend in militant operierenden Insurgents, Aufständischen, unterschiedlicher Zielsetzung gesehen. Dieser Feind ist nur teilweise deckungsgleich mit den Gegnern des Staates im Aufbau mit seinen defizienten Regierungsapparaten und seiner unvollkommen Demokratie und Justiz. Aber er ist der „Enemy”, der in den USA den langen fortdauernden Krieg auch unter Obama rechtfertigt, obwohl er im Memorandum von McChrystal bereits differenziert zu einem (weitgehend!) integrationsfähigen Gegner umformuliert wurde [20] Die Assistance Forces der ISAF sollten ja nationale Sicherheit mit aufbauen und helfen, das Gewaltmonopol des neuen Staates herzustellen. Dass das nicht ohne Gewalt abgehen würde, war abzusehen, wurde aber hierzulande lange Zeit verdrängt. Sehr gewalttätige Angriffe der Insurgenten auf die eigene Bevölkerung, vor allem auch auf die Polizei, sowie Massenfluchten aus Gefängnissen und andere Provokationen gegen die Staatsgewalt lassen, mehr noch als Selbstmordattentate, den Stand dieser Aufbauarbeit als mäßig erfolgreich erscheinen. Das nützt dem Gewaltmarkt.

Die im Zusammenhang mit der zivil-militärischen Koordination (CIMIC) und der vernetzten Strategie ausgeweiteten Aufgaben der ISAF sind jedenfalls weit von der Feindsetzung entfernt; was man in einem aus dem Ruder gelaufenen, auch innermilitärischen, Konflikt, wie dem Bombardement des Tanklasters unter Oberst Klein am 4.9.2009 nicht merkt[21]: an diesem Beispiel kann man Gewaltanwendung seitens der Intervenierenden nach Regeln beobachten, an denen die Intervenierten nicht beteiligt und nicht gefragt wurden, die sie also schwerlich anerkennen können – umso interessanter, dass der Gewaltakt von einigen interessierten Gruppen von Afghanen gebilligt, von an-deren scharf kritisiert wurde. Noch komplizierter ist die Situation bei Special Operations, die nur teilweise unter dem Kommando von ISAF bzw. des US-Oberbefehlshabers stehen, teilweise direkt von Washington aus gesteuert werden. Sie sind auf den Feind fixiert, als wären sie an der Front in einem traditionellen Stellungskrieg[22]; sie arbeiten teilweise mit der lokalen Bevölkerung zusammen und stellen dazu Regeln beschränkter Reichweite und Geltungsdauer auf, die sie aber in bestimmten Fällen selbst außer Kraft setzen können; sie integrieren sich mit einem Teil der lokalen Bevölkerung um einem anderen Teil, z. B. einem anderen Dorf oder Clan, zu schaden, weil dieser mit dem „Feind” kollaboriert[23] Junger stellt fest, dass diese Truppen unter unsäglichen Bedingungen, die ich „Quagmire” nenne nach dem Vietnamtrauma, nicht mehr wissen, in welchem Kontext sie eigentlich kämpfen. Ihre Gewaltanwendung ist unmittelbar physisch und folgt irgendwann nur mehr einem Motiv: den „Feind” zu töten, weil dann einer weniger da ist, der einen selbst tötet. [24]

Verregelung von Konflikten würde gerade unter dem Abzugsdiktat bedeuten, dass das Verhältnis von Intervenierenden und staatlicher Governance gemeinsam und unter zunehmender Haftung der Afghanischen Regierungsorgane geregelt würde. Das aber ist aus verschiedenen Gründen schwer möglich und jederzeit brüchig. Diese Gründe zu untersuchen, wäre ein nächster Schritt als Konsequenz aus diesen Darlegungen, den ich in folgenden Bereichen mit Priorität vorzunehmen rate:

  • Untersuchung der Entstehung von Staatlichkeit von unten, mit dem Shura Komplex und neuen Konstellationen auf Distriktebene; sicherlich Gewalt de-eskalierend, aber auch abhängig von bestimmten „life-lines” zum (Zentral-) Staat und zu den komplexen Beziehungen von Sicherheit und Entwicklung.
  • Analyse der Rolle von jenen Provinzgouverneuren und regionalen Machtakteuren, die ohne allzu große Perspektiven auf Kabul ihre Territorien autoritär mit einem halb-autonomen Kanon von Regeln regieren (Ich verwende den Begriff der Mezzanine-Rulers, den ich aber nicht statisch festgelegt wissen möchte) [25]
  • Konsequenzen aus der Verschiebung ökonomischer Elitenkorruption zur politischen Patronage weiter „unten” angesiedelter Gewalt.
  • Ausdeutung und politische Evaluation von verschiedenen Gewaltpotenzialen, die nicht unmittelbar oder immer kausal zusammenhängen: demographische Verschiebungen mit entprivilegierten Studenten als Gewaltpotenzial; Anti-Okkupationsrhetorik am beliebigen Beispiel, z. B. Gewaltexzesse im April 2011 bei den Protesten gegen die Koran-Verbrennung in den USA, in Mazar und Kabul; Schaffung von öffentlichem Raum als demokratische Basisbewegung unter Bezug auf „Ägypten” etc.
  • Dazu kommen noch die Gewaltpotenziale der Drogenökonomie und der Machtvakua unter den erwarteten Übergabemaßnahmen von Territorien an die afghanische Oberhoheit.

Man kann nicht alle Probleme auf einmal beschreiben und deuten, geschweige denn Lösungsvorschläge unterbreiten. Es ist aber möglich, durch die mikrosoziale Empirie die Prozesse an der Gesellschaftsbasis zu beobachten, die Aufschluss über die Regelungs- und Einbettungspotenziale von Konflikten und damit die De-Eskalation von Gewalt geben.

VIII. Ausblicke und Zusam­men­fas­sung
  • Der Staat ist vielen Bereichen der zweiten Gesellschaften durchaus wichtig. Das Eingangs herangezogene Filmbeispiel konnte sich auf eine Kollusion zweier Gesellschaften beschränken, in Afghanistan ist das viel komplizierter, folgt aber ähnlichen Mustern. Entscheidend sind einige Einsichten, die sich quer zu allzu glatten Modellen legen:
  •  Wo es den Staat stark und wo es ihn schwach und wo es ihn so gut wie nicht
    gibt – es wird immer regiert, Governance findet statt, mit höchst ungleicher
    Verteilung ihrer Komponenten Herrschaft, Wohlfahrt, Sicherheit.
  • Die gesellschaftlichen Bestimmungen lokaler Machtverhältnisse lassen unter-schiedliche Schnittstellen mit der aktuellen Staatlichkeit erkennen; aber auch „Pockets”, die sich gerade durch deren Abwesenheit auszeichnen.
  • Das Wechselspiel zwischen eingebetteten und entbetteten Konflikten findet nicht nach Regeln, gar durchgesetzten Mustern statt, in denen sich eine neue, von der Intervention gewollte Staatlichkeit repräsentiert. Noch sind genügend gewaltoffene Räume vorhanden, die mit der durchgesetzten Staatsgewalt konkurrieren; es gibt Gewaltmärkte, es gibt territorial beschränkte Zonen von intern höherer Sicherheitsgovernance mit entsprechenden Folgen für andere Governance-Bereiche, und es gibt Zonen, wo das Gegenteil der Fall ist.

Eine ganzheitliche Betrachtung des Konflikts in Afghanistan (und in seinem weiteren Umfeld) muss also dann in die Irre gehen, wenn sie die fragmentierte Totalität nicht
zum Ausgang ihrer Analyse nimmt. Wenn sich der Wissenschaftler die politische Kritik
anmaßen darf, dann ist das der Grund, warum die Politik gegenüber und in Afghanistan
so defizitär ist wie ihre Vermittlung in unsere eigene Gesellschaft.

[1] Winter’s Bone (2010): Film von Debrah Granik, basierend auf dem Roman von Daniel Woodrell.
[2] Karl Polanyi (1866-1964) und Marshall Sahlin (*1930) waren die großen Anreger Elwerts: Vgl. auch KZfSS 1980: Georg Elwert: Die Elemente der traditionellen Solidarität. Nr. 32/4, 681–704. Der Gesamtaspekt dieser „skeptischen Schule der Sozialanthropologie” ist beschrieben bei Hüsken, T. (2004). Georg Eiwert und die Berliner Schule der skeptischen Sozialanthropologie. Anthropologie der Konflikte. J. Eckert. Bielefeld, Transcript.
[3] Elwert, G. F., Stephan; Neubert, Dieter, Ed. (1999). Dynamics of Violence. Sociologus. Berlin, Duncker & Humblot, Eckert, J., Ed. (2004). Anthropologie der Konflikte. Bielefeld, Transcript, Zuercher, C. (2004). Einbettung – Entbettung: Empirische institutionszentrierte Konfliktanalyse. Anthropologie der Konflikte. J. Eckert. Bielefeld, Transcript: 102–121.
[4] Bourdieu, P. (1976). Entwurf einer Theorie der Praxis auf der Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt am Main, Suhrkamp, Bourdieu, P. (2003). In Algerien. Graz, Camera Austria, Free, J. H. (2009). Was bringt Bourdieus Soziologie der Analyse von Postkonfliktgesellschaften? Tagungsband 34. Kongress der DGS. Deutsche Gesellschaft für Soziologie. Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften (in press).
[5] Habermas, J. (1995 (1981)). Theorie des kommunikativen Handelns. Blumenberg, H. (1986). Das
Lebensweltmißverständnis. Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt am Main, Suhrkamp: 7-68.
[6] Im Mai 2011 erschien ein Working Paper von Jan Koehler und Michael Daxner im SFB 700, das
diesen Sachverhalt genauer in der politischen Rahmensetzung darstellt.
[7] Eine Übersicht über den Forschungsstand bietet Bonacker, Daxner, Free, Zürcher (Hrsg.) (2010): Interventionskultur, VS Wiesbaden.
[8] Die Begrifflichkeit „Intervenierte/Intervenierende” war für uns bewusst in Absetzung von psychologisierenden Bezeichnungen gewählt worden, um den soziopolitischen Zusammenhang an-zugeben. Konkurrierend steht der gebräuchlichere Begriff der „Penetrierten/Penetrierenden”, im speziellen Fall (ohne jede Ironie) Fortnas „Peacekept/Peacekeepers”.
[9] Vgl. Eiwert, G. (1999). Markets of Violence. Eiwert, Feuchtwang, Neubert (Hg.) (1999):Dynamics of Violence. Sociologus. Supplement 1. Duncker und Humblot (Berlin).85–102.
[10] Bundesregierung (2010). Fortschrittsbericht Afghanistan. Auswärtiges Amt. Berlin.
[11] Vgl. dazu die Aussendung des www.AAN-Afghanistan.org (Afghan Analysts Network); Daxner, M. (2011) „Frieden durch Gewalt, Verhandlungen und Gewinnung der Herzen – 2010 wieder ein verlorenes Jahr für den Frieden in Afghanistan.“ www.epd.de/documentation. (Nr.13/14).
[12] Das ist zum Teil kleinflächig unterschiedlich: Patronage, indirect rule und andere Herrschaftskonstrukte sind in bestimmten Orten und Regionen hochaktuell, anderswo nicht. Es gibt hier einen Primat der empirischen Forschung, bevor Schlüsse auf Gesamtstrukturen gezogen werden können.
[13] Rashid, A. (2008): Descent into Chaos. London (Allan Lane).
[14] Ein wichtiger Aspekt der Wahrnehmung. McChrystal hat formuliert und gefordert, was bereits aus-gearbeitet vorlag: Vgl. The U.S. Army – Marine Corps (2007): The Counterinsurgency Field Manual (Chicago UP), mit Vorworten von Gen. Petraeus und John Nagl. Letzterer hat das wegweisen-de Buch verfasst: Learning to Eat Soup with a Knife. Westport 2002 (Praeger). Vgl. David Kilcullen: Counterinsurgency. New York 2010 (Oxford UP).
[15] Eher im Sinn von Recht haben und bekommen als im Sinn von Harmonie und Frieden durch Konfliktregulierung zu erlangen.
[16] Die Differenz von Ehre und Menschenwürde ist fundamental, wiewohl sie im Alltagssprachgebrauch of’t unter dem Oberbegriff der Ehre verwischt wird. Ehre ist eine nicht-materielle Handelsware, die schon in vor-pekuniären Gesellschaften immer gegen Äquivalente getauscht werden konnte und weit von ihrer erhabenen Heraushebung unter den Gütern entfernt gehandelt wird. Die Würde-Setzung muss aus einer universalistischen Betrachtungsweise stammen, ist aber im globalisierten Menschenrecht auch als nicht-hintergehbarer Kern der menschlichen Person kodifiziert. Ich habe diesen Exkurs nur deshalb eingeführt, weil jedenfalls im deutschen Alltagssprachgebrauch die Angriffe auf die Ehre und die gegen die Würde oft gleichgesetzt werden.
[17] Ruttig, T. Tactical or genuine? The Taleban’s `new education policy‘. AAN Blog 1/15/2011.
[18] In dem von Jan Koehler im Rahmen des SFB 700 Projektes C 9 entwickelten Konzepts der Governance-Zonen wird dies genauer ausgeführt. Dazu wird es bei der SFB Konferenz im Mai 2011 de-tailliertere Informationen geben.
[19] Es gab eine Vielzahl von Motiven, die die Intervention legitimieren und vorbereiten konnten. Dabei ist Rache ein verbreitungsfähiges und massenwirksames Motiv. Vgl. die ausgefeilte Kritik von Eliot Weinberger an George W. Bushs Memoiren: Verdammt richtig, sagte ich. Le Monde diplomatique 9446, 4/8/2011 (deutsch: Tageszeitung Berlin, Übers. Niels Kadritzke).
[20] McChrystal, S. (2009): COMISAF’s Initial Assessment. Bericht an den Verteidigungsminister Gates 8/30/2009.
[21] Der 4.9.2009 und die Folgen für die deutschen Soldaten bei ISAF, die Legitimität des deutschen Einsatzes, die Konfliktsituation innerhalb von ISAF und die persönlichen Folgen für Oberst Klein sind ein eigenes und zu recherchierendes Kapitel. Aber der Gewaltakt des Bombardements selbst kann nicht eindimensional-analytisch aufgearbeitet werden. Ein gutes Beispiel für empathische und zugleich dekonstruierende Aufarbeitung war die Ausstellung „Kundus, 4. September 2009” im Kunstraum des Waschhauses Potsdam, April bis Juni 2010, und des Dokumentartheaters von Clemens Bechtel „Potsdam-Kundus” (12.1.2011) am Hans-Otto-Theater Potsdam.
[22] Junger, S.(2010): War. Fourth Estate (London).
[23] Vgl. Daxner, M. (2010): We are One Tribe, but live in the Society of Intervention. AAN-Blog 5/10/2010; bezieht sich auf Gant, J. (2009): We Are One Tribe. Ein offenbar autorisierter Blog eines Special Operations Offiziers, der im Osten Afghanistans lokale Kampfbündnisse zu schmieden versucht, vgl. aber Loyalitätskonflikt entsprechend dem Ehrenkodex von Dorfbewohnern bei Junger, S. 51.
[24] Junger a. a. O. Man sollte diese Beobachtungen nicht für sich zitieren, sondern im jeweiligen Kontext der kämpfenden Soldaten „von unten”. Die Differenzierung in Feinde und (potenziell) zu beschützende oder freundliche Afghanen ist in der Kampfzone etwas anderes als ein systemische „Re-Integrationskonzept”.
25 Crawford und Miscik (2010): The Rise of Mezzanine Rulers. Foreign Affairs 89/6, 123-131.

Literatur

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Bourdieu, P. (1976): Entwurf einer Theorie der Praxis auf der Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main, Suhrkamp.
Bourdieu, P. (2003): In Algerien. Graz, Camera Austria.
Bundesregierung (2010): Fortschrittsbericht Afghanistan, A. Amt, Berlin.
Daxner, M. (2011): Frieden durch Gewalt, Verhandlungen und Gewinnung der Herzen – 2010 wieder ein verlorenes Jahr für den Frieden in Afghanistan, www.epd.de/dokumentation
Eckert, J., Ed. (2004): Anthropologie der Konflikte, Bielefeld, Transcript.
Eiwert, Georg/Feuchtwang, Stephan/Neubert, Dieter (Eds). (1999): Dynamics of Violence. Sociologus, Berlin, Duncker & Humblot.
Free, J. H. (2009): Was bringt Bourdieus. Soziologie der Analyse von Postkonflikt-Gesellschaften? Tagungsband 34. Kongress der DGS, Deutsche Gesellschaft für Soziologie, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften (in press).
Habermas, J. (1995 (1981)): Theorie des kommunikativen Handelns, Suhrkamp, Frankfurt am Main. Hüsken, T. (2004): Georg Elwert und die Berliner Schule der skeptischen Sozialanthropologie Anthropologie der Konflikte, J. Ecker1, Bielefeld, Transcript.
Zuercher, C. (2004): Einbettung — Entbettung: Empirische institutionszentrierte Konfliktanalyse Anthropologie der Konflikte, J. Eckert, Bielefeld, Transcript: 102—121.

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