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Utopische Ordnung als Strategie der Entpo­li­ti­sie­rung

aus: Vorgänge 195 ( Heft 3/2011), S.120-130

Einleitung

In jüngster Zeit ist Entpolitisierung zum Gegenstand politiktheoretischer Zeitdiagnostik geworden.[1]Diese Literatur kreist vornehmlich um die Frage, ob sich gegenwärtig im politischen Denken Entpolitisierungsstrategien und -prozesse beobachten lassen. Diesen wird dabei meist kritisch begegnet und attestiert, politische Handlungsmöglichkeiten auszublenden, Konfliktverhältnisse zu verschleiern sowie demokratische Partizipationschancen zu beschneiden. Diese Kritik hat ihr Recht, sparte aber bisher einen Aspekt aus, den ich ins Blickfeld nehmen möchte: Wie steht es um den Geschichts- und Zukunftsbezug, der sich in einigen Entpolitisierungsstrategien irrpolitischen Denken ausdrückt? Im Folgenden werde ich zunächst zwei historische Varianten des utopischen Entpolitisierungsdenkens sowie einen zeitgenössischen Förtsetzer dieser Tradition vorstellen und hierbei den Zusammenhang von Entpolitisierung und utopischem Zukunftsbezug beleuchten. Im Hinblick auf eine Tendenz der zeitgenössischen Politikwissenschaft will ich dann zeigen, was geschieht, wenn dieser Zukunftsbezug eingezogen wird. Abschließend stelle ich eine zeitgenössische politiktheoretische Revolte gegen das Entpolitisierungsdenken vor.

Zwei historische Varianten des utopischen Entpo­li­ti­sie­rungs­den­kens

In einer berühmten Parabel hat der französische Philosoph Henri de Saint-Simon im Jahre 1819 eine Utopie der Entpolitisierung formuliert, die sich nicht nur später im Marxismus als wirkmächtig erwiesen hat. Saint-Simon zeichnete in seiner Parabel zwei unterschiedliche soziale Szenarien. Man stelle sich einmal vor, so Saint-Simon, Frank-reich verlöre auf einen Schlag die „dreitausend ersten Gelehrten, Künstler und Arbeiter” der Nation (Saint-Simon 1819: 161).[2] Was wäre die Folge?

„Diese Männer sind die tätigsten unter den Franzosen, stellen die wichtigsten Erzeugnisse her, leiten die nützlichsten Arbeiten, machen die Nation schöpferisch in der Wissenschaft, in der Kunst und im Handwerk; sie sind die wahre Blüte der Gesellschaft,dienen am besten ihrem Lande, verschaffen ihm den größten Ruhm, beschleunigen die Entwicklung seiner Kultur wie seines Gedeihens. Verlöre die Nation diese Männer, so würde sie ein Körper ohne Seele, geriete schnell in einen Zustand der Minderwertigkeit gegenüber den Nationen, deren Wettbewerberin sie heute ist” (ebd.).

Im Kontrast dazu, so Saint-Simon weiter, stelle man sich nun vor, Frankreich verlöre nicht diese soziale Gruppe, sondern eine andere, nämlich die „30 000 der vornehmsten Männer des Staates” (ebd.), all die Würden- und Entscheidungsträger des öffentlichen Apparates. Was wären in diesem Fall die Resultate? Abgesehen davon, dass es sich natürlich in beiden Fällen um eine menschliche Tragödie handelte, so sei doch of fenkundig, dass sich im zweiten Fall ein „Schmerz rein sentimentaler Art” (ebd.) ein-stellen würde. Denn zum einen sei es in diesem Fall „leicht …,die freigewordenen Stellen wieder zu besetzen” (ebd.). Zum anderen bilde die zweite Gruppe eine unproduktive Klasse, die von der produktiven Arbeit der „Industriellen”, und damit meinte Saint-Simon die erwähnten „Gelehrten, Künstler und Arbeiter”, lebe, ohne eine für die soziale Integration notwendige Leistung zu erbringen. Streng genommen würde sich in der französischen Gesellschaft wenig zum Schlechten ändern – und vieles zum Guten. Denn Frankreich verlöre eine Herrschaftsgruppe, deren Leitungstätigkeit auf anderem Wege besser und kostengünstiger zu erbringen sei und die ihre Privilegien durch Steuern, und damit durch die Abschöpfung des Überschussprodukts der produzierenden Klasse, finanziere (ebd.: 162).

Für Saint-Simon war diese Parabel kein bloßes Gedankenspiel, sie diente der Veranschaulichung und Propagierung seiner Utopie: der Auflösung von Politik in Verwaltung und Sozialtechnik. Ihm ging es nämlich nicht nur um eine Polemik gegen den französischen Adel und Klerus, die politische Vorrechte unabhängig vom bürgerlichen Leistungsprinzip beanspruchten, vom restaurierten System profitierten und die Regierungstätigkeit unnötig verteuerten. Saint Simon war auch der Meinung, die Leitung und Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten ließen sich wie ein Produktionsprozess organisieren, in dem die Leitungspositionen rein funktional auf Grund formaler Qualifikation von Experten besetzt und die Entscheidungen auf der Basis von rationaler Sachexpertise gefällt werden könnten. Konsequenterweise plädierte er dafür, „eine ruhige und dauerhafte Ordnung” durch die Überordnung der Verwaltung über die Regierung herzu-stellen und den Sachverstand und die Expertise im Dienste des allgemeinen Wohles zu nutzen (Saint-Simon 1824.: 171 f.).[3]

Nun ist sicherlich bemerkenswert, dass Saint-Simon diese techno- bzw. expertokratische Utopie in einer Zeit formulierte, in der von einer auf formal geregelter Fachausbildung und rationalisierten Organisationsabläufen beruhenden Verwaltung keine Rede sein konnte. Insofern richtete sich seine Polemik gegen eine dilettantische (und korrupte), nicht versachlichte Staatsverwaltung. Allerdings erschöpfte sie sich auch nicht dar-in. Der Kern von Saint-Simons Utopie ist nicht bloß der Gedanke, der Verwaltungsprozess ließe sich versachlichen. Er war darüber hinaus der Auffassung, politische Entscheidungsprozesse –zumindest ein großer Teil von Ihnen – ließen sich ebenso rationalisieren und versachlichen, mithin als entpolitisierte zu einem Teil des Verwaltungsprozesses machen.Worauf es mir an dieser Stelle ankommt, ist, dass Saint-Simon damit eine Entpolitisierungsutopie entwirft und ein mögliches Zukunftsszenario einer nicht nur formal, sondern auch material rationalisierten und versachlichten Regierung zeichnet, das als Folie zur Kritik seiner Gegenwart dienen soll. Seine Entpolitisierungsstrategie zielt nicht auf die ideologische Ausblendung von Herrschafts- und Konfliktverhältnissen, sondern sein utopischer Erwartungshorizont einer Zukunft, in der Politik versachlicht und herrschaftsfrei wird, soll durch einen plastischen Kontrasteffekt die Herrschaftsverhältnisse seiner Gegenwart sichtbar machen.

Saint-Simon zählt zu einem der Gründer der Soziologie. Er zählt jedoch ebenso zu einem Vordenker des modernen Sozialismus. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass einige Motive Saint-Simons bei Marx und Engels wiederkehren. Hierzu gehört in erster Linie das Ziel, die eigene politische Praxis auf eine wissenschaftliche Analyse des Vergesellschaftungsprozesses zu gründen, aber eben auch die Utopie einer entpolitisierten, sich selbst rational organisierenden Gesellschaft, in der Herrschaft als irrational gewordene Unterdrückung abgeschafft und in die vernünftige Gestaltung der gemeinsamen Angelegenheiten überführt wird. Dies gilt insbesondere für Friedrich Engels als dem ersten wichtigen Popularisierer und Vereinheitlicher des marxschen Denkens. Die letztlich anarchistische Utopie einer sich selbst organisierenden Gesellschaft, die ohne einen repressiven politischen Überbau und Zentralsteuerung auskommt, findet sich allerdings auch in politischen Schriften von Marx, insbesondere in seiner Abhandlung über die Pariser Kommune (Marx 1891, zuerst 1871) und, ex negativo, in seinem 18. Brumaire des Louis Bonaparte (Marx 1869, zuerst 1852). Allerdings ist das Motiv der wissenschaftlichen Analyse bei Marx (und auch bei Engels) gebunden an eine praktisch-politische Kritik der Gegenwart, wohingegen der Versuch, durch rein gedankliche Konstruktion ein „ideales System” der Zukunft zu entwerfen, die Kritik und den beißenden Spott von Marx fand, am populärsten wohl im Kommunistischen Manifest, das sich in seinem dritten Abschnitt mit sozialistischen und kommunistischen Strömungen polemisch auseinandersetzt (bes. Marx/Engels 1848: 854).

An der von den utopischen Sozialisten geforderten und am sozialwissenschaftlichen Reißbrett geplanten Utopie der idealen, sozialtechnisch herstellbaren Zukunftsgesellschaft, der „Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land, der Familie, des Privaterwerbs, der Lohnarbeit, die Verkündung der gesellschaftlichen Harmonie, Verwandlung des Staats in eine bloße Verwaltung der Produktion” (ebd.: 855) haben Marx und Engels jedoch nur die fehlende Vermittlung mit der politischen Praxis und den sozialen Konfliktlinien der Zeit auszusetzen, nicht den konkreten Inhalt der Utopie einer sich selbst organisierenden freien Gesellschaft, die nach Marx und Engels in einem historischen Entwicklungsprozess Wirklichkeit wird und mit der bürgerlichen Klassenherrschaft die letzte Form einer klassenmäßig strukturierten Herrschaftsordnung beseitigt. Insofern der Staat als öffentliche Gewalt strukturell aus einer in Klassen gespaltenen und auf Ausbeutung beruhenden Gesellschaft erwachse, die funktional auf Gewaltmonopolisierung und bürokratische Steuerung angewiesen sei, sei er in Zukunft überflüssig und könne, sobald seine funktionalen und strukturellen Ursachen mit der Klassenherrschaft wegfallen, als Relikt einer überwundenen sozialen Entwicklungsstufe „absterben” (bes. Engels 1892: 168 und Engels 1891: 224).

Diese These war fiir Marx und Engels nicht aus geschichtsphilosophischer Spekulation geboren, sie sollte empirische Entwicklungstendenzen des Vergesellschaftungsprozesses zum Ausdruck bringen und die aus dem vernünftigen Gedanken entwickelte idealistische Utopie als eine realistische Utopie reformulieren, die empirische Praxis reflektiert. Bei Marx und Engels wird die Utopie Saint-Simons mithin historisiert und prozessualiert. Der Gegenwart wird nicht mehr eine aus dem reinen Gedanken heraus-gesponnene Utopie als idealer Zukunftsentwurf abstrakt gegenübergestellt, sondern die Züge der möglich gewordenen Zukunft sollen aus der Analyse des historischen Vergesellschaftungsprozesses selbst entwickelt werden. Hierbei hat die entpolitisierte Form einer sich selbst organisierenden Produzentengesellschaft als normativer und historischer Fluchtpunkt die gleiche Funktion wie bei Saint-Simon, sie dient der Kritik der Gegenwart, wird aber an den Verlauf des Geschichtsprozesses gekoppelt.

Die damit historisierte Utopie weist aber insofern eine Ambivalenz auf, als dass Engels und Marx, um die historische Verwirklichungsmöglichkeit der Utopie beglaubigen zu können, empirisch beobachtbare Entwicklungstendenzen im konkreten Geschichtsprozess aufweisen können müssen. Engels geschichtstheoretische Prognostik und Marx‘ Beschreibung der Pariser Kommune übernehmen genau diese Funktion. Welche Gefahr der ldeologisierung mit einer solchen real-historischen Übersetzung der Utopie ins konkrete Geschichtsgeschehen verbunden ist, wird nun im Folgenden deutlich.

Zwischen Utopie und Ideologie: Habermas

Die Utopie der herrschaftsfreien rationalen Selbstorganisation der Gesellschaft findet gegenwärtig kaum noch Fürsprecher. Bemerkenswerterweise finden sich aber Züge einer solchen Utopie in der rationalistischen Deliberationstheorie von Jürgen Habermas. Sie haben dort eine Leerstelle besetzt, die nach dem Wegfall der Projektion emanzipatorischer Hoffnungen in den Marxismus auftrat. Auch wenn Habermas betont, dass seine Theorie einer komplexen Gesellschaft angemessen sein soll, sie deshalb begrenzt und nicht radikaldemokratisch ansetzt und er das „Idea]” einer sich rational organisierenden Gesellschaft kommunikativ wendet, im Sinne eines „Modell[s] ,reiner‘ kommunikativer Vergesellschaftung” (Habermas 1992: 393), bleibt sein normativer Fluchtpunkt eine Gesellschaft vernünftiger Selbstorganisation, wenn auch unter der Einschränkung durch „Komplexität” und die angeblich unüberwindbare Eigenlogik von ausdifferenzierten Subsystemen (ebd.: 370).

Habermas übernimmt den Anspruch, diesen normativen Fluchtpunkt nicht abgekoppelt von Praxis zu denken, sondern immanent-rekonstruktiv zu ihm zu gelangen (Gaus 2009), d. h, keine rein empirische Beschreibung demokratischer Institutionen und Verfahren oder eine bloß normative Begründung eines Ideals deliberativer Demokratie zu liefern, sondern gewissermaßen durch beide Pole hindurch zu argumentieren:

„Diese Frage [nach dem Verhältnis von normativer ldealkonstruktion, Bewertung und empirischer Beschreibung, V. S.] möchte ich nicht im Sinne einer Gegenüberstellung von Ideal und Wirklichkeit verstehen; denn der zunächst rekonstruktiv zur Geltung gebrachte normative Gehalt ist teilweise der sozialen Faktizität beobachtbarer politischer Prozesse selber eingeschrieben. Eine rekonstruktiv verfahrende Soziologie der Demokratie muss deshalb ihre Grundbegriffe so wählen, dass sie die in den politischen Praktiken, wie verzerrt auch immer, bereits verkörperten Partikel und Bruchstücke einer ,existierenden Vernunft‘ identifizieren kann“ (Habermas 1992: 349).

Die Position seiner deliberativen Demokratietheorie läuft deshalb, so Habermas, auf das Ziel hinaus, zwischen dem normativ nüchternen, aber realitätsgerechteren liberalen Modell und dem normativ emphatischen, aber praxisuntauglichen republikanischen Modell zu vermitteln, und so eine realistische Utopie zu formulieren, in der die Demokratie weder als neutraler Rechtsrahmen einer Gesellschaft von Wirtschaftssubjekten verstanden wird, noch als identitäre Selbstbestimmungsgemeinschaft von Bürgerinnen und Bürgern, sondern als politische Form einer Gesellschaft von verfahrensmäßig mit-einander verkehrenden Rechtsgenossen, die im Rahmen von Deliberationsverfahren sich als Autoren wie auch als Adressaten der demokratischen Gesetzgebung verstehen können sollen. Die Volkssouveränität bleibe, neben den „gleichursprünglichen” Menschenrechten, Kern der Demokratie, werde aber in diesen Deliberationsverfahren und -prozessen, seien dies parlamentarische oder zivilgesellschaftliche, „verflüssigt” und rationalisiert. Zwar kommen nicht nur in Anbetracht pragmatischer Grenzen Deliberationsverfahren nicht ohne Dezisionen aus, und das heißt in der Regel, nicht ohne die Anwendung der Mehrheitsregel, sie seien aber aufgrund ihrer argumentativen Logik Bürgen der Rationalität:

„Das Selbst der sich selbst organisierenden Rechtsgemeinschaft verschwindet in den subjektlosen Kommunikationsformen, die den Fluss der diskursiven Meinungs- und Willensbildung so regulieren, dass ihre falliblen Ergebnisse die Vermutung der Vernünftigkeit für sich haben. […] Wegen ihres internen Zusammenhangs mit einer deliberativen Praxis begründet die Mehrheitsregel die Vermutung, dass die fallible Mehrheitsmeinung bis auf weiteres, nämlich bis die Minderheit die Mehrheit von der Richtigkeit ihrer Auffassungen überzeugt hat, als vernünftige Grundlage einer gemeinsamen Praxis gelten darf‘ (ebd.: 365 und 371).

Ich denke, dass gerade diese rationalistische und –bei aller fallibilistischen Rhetorik – teleologische Aufladung der Deliberationsverfahren zusammen mit dem rekonstruktiven Anspruch aus der Utopie eine Ideologie zu machen droht, da nämlich das Verhältnis zwischen empirischer Beschreibung des faktischen Apparats und Prozessgefiiges der Demokratie und der normativen Implikation und Reflektion dieser Verfahren im Unklaren bleibt. Der historische Bezugspunkt und die empirische Referenz seiner Aussagen sind bei Habermas undeutlich. Seine Argumentation befindet sich deshalb in einem eigentümlichen Schwebezustand zwischen empirischer Beschreibung der Gegenwart, immanenter Rekonstruktion und dem normativen Fluchtpunkt einer sich selbst über kommunikative Vernunft steuernden Gesellschaft. Im Gegensatz zu früheren Schriften, in denen er Demokratie noch ganz konkret als eine historische Prozesskategorie begriff (Habermas 1969: 17), wird von ihm der Geschichtsbezug aufgelöst, und so changiert die Theorie diffus zwischen dem rekonstruktiven Entwurf eines Ideals der herrschaftsfreien Selbststeuerung, die Politik durch Deliberationsprozesse ersetzt, und einer empirischen Beschreibung, der zufolge Politik in der empirischen Demokratie sich bereits in kommunikativ programmiertem Verwaltungshandeln erschöpft. Insofern tendiert die
Theorie als eine, wenn auch etwas idealisierte, Beschreibung der empirischen Demokratie verstanden zu werden, die eo ipso die empirisch bestehende Herrschaft genau da unsichtbar macht, wo sie sie nicht unter dem Stichwort „verzerrter” oder „vermachteter” Kommunikation, wenn auch begrifflich „verflüssigt” und entsubjektiviert, thematisiert.

Ratio­na­lis­ti­sche Entpo­li­ti­sie­rung als Ideologie „

Während Habermas‘ Theorie damit eine eigentümliche Ambivalenz aufweist, lassen sich in der zeitgenössischen Politikwissenschaft Tendenzen beobachten, die auf eine Auflösung dieser Ambivalenz zu Gunsten einer ideologischen Beschreibung der politischen Gegenwart hinauslaufen. Die dort verwendeten Begriffe und Konzepte lassen die Politik als eine herrschaftsfreie Praxis erscheinen. Die Utopie einer sich herrschaftsfrei selbst steuernden Gesellschaft wird enthistorisiert, sie erscheint als ein bereits eingelöstes Versprechen.

Demgegenüber gilt, dass die empirische Demokratie (für alle nicht-demokratischen politischen Ordnungen gilt dies in verstärktem Maße) personale und systemische Herrschaftsphänomene aufweist. Personale Herrschaft liegt vor, wenn über „die funktional notwendige Autorität, Leitung oder auch Amtsgewalt” hinaus von einer Person oder von einer Gruppe auf Dauer gestellte, anerkannte Macht ausgeübt wird, die vor allem der Bedürfnisbefriedigung der Herrschaftsausübenden dient (Greven 2009: 123). Systemische Herrschaft liegt vor, wenn in einer politischen Institutionenordnung „bestimmte Handlungsbereiche, die partikularen Interessenformationen entsprechen, aus dem Anwendungsbereich öffentlicher Gewalt faktisch” ausgenommen sind und die in den politischen Prozess einfließenden „gesellschaftlichen Interessen, Bedürfnisse und Ansprüche in … verzerrter, spezifisch gewichteter Weise die Chance politischer Berücksichtigung genießen” (Offe 1970: 162); die politischen Institutionen wirken dann wie selektive Filter, die die demokratische Fundamentalnorm der politischen Gleichheit verletzen.

Eine der Aufgaben der Politikwissenschaft ist die Beschreibung, Analyse und Kritik dieser Herrschaftsphänomene, da sie gegen den immanenten Sinn und die Norm der Demokratie verstoßen und da die Demokratie nicht nur einen sozialtechnischen und instrumentellen Bedarf an sozialwissenschaftlichem Wissen aufweist, wie dies für nicht-demokratische Ordnungen gilt, sondern auch einen Bedarf an selbstreflexiv-kritischem Wissen zu befriedigen hat (Habermas 1965). Um Herrschaft aber überhaupt beobachten zu können, muss in der Politikwissenschaft ein begriffliches Instrumentarium zur Verfügung stehen, das einen in dieser Hinsicht relevanten Phänomenhorizont überhaupt aufspannen kann. Im Kontext systemischer Herrschaft setzt dies einen Begriff von politischen Institutionen voraus, der ihre spezifische Selektivität, und damit ihren Herrschaftscharakter, deutlich machen kann. Aufgrund der vorherrschenden rationalistischen Semantik und Begrifflichkeit in der Politikwissenschaft dominiert aber ein Verständnis von Institutionen, das selber wieder selektiv ist, nämlich in dem Sinne, dass in ihm Herrschaft kategorial ausgeblendet wird. Um beispielhaft zu verdeutlichen, was ich an dieser Stelle meine, wie sich also die Transformation der Utopie der Entpolitisierung zu einer ideologischen Gegenwartsbeschreibung auswirkt, zitiere ich eine, nicht unrepräsentative politikwissenschaftliche Definition des Begriffs „Institution”, der zufolge Institutionen „auf Dauer angelegte Problemlösungen” (Schubert 2003: 149) sind:

„Politikwissenschaftlich gesehen tragen sie dazu bei, normative Vorstellungen in konkrete Realität umzusetzen. Mit anderen Worten werden mittels Institutionen für zentrale (soziale, ökonomische, politische) Probleme dauerhafte Lösungen geschaffen. Allerdings: Verändert sich mittel- oder langfristig der Problembestand, sind institutionelle Änderungen notwendig … . Institutionen können sowohl immaterieller als materieller Natur sein, d. h. … als mehr oder weniger abstrakte Regelwerke (z.B. politische Verfassungen, demokratische Mehrheitsregel, etc.) oder als konkret fassbare Einrichtungen (z.B. Parlamente, Behörden etc.) existieren … . Aus funktionaler Sicht sind Institutionen insofern geronnene Problemlösungen” (ebd.).

Der kritische Blick, der durch einen solchen problemlösungsorientierten Institu- tionenbegriff eröffnet wird, ist derjenige, der danach fragt, ob eine Institution „noch” ihre Problemlösungsaufgabe erfiillt, aber nicht der, ob eine Institution selektiv ist. Es besteht die Gefahr, empirische Herrschaftsphänomene mit solch einer Perspektive nicht einzufangen, da die empirische Herrschaft ja nicht verschwindet, sie sich aber mit dem begrifflichen Instrumentarium, welches hier vorgeschlagen wird, nicht beobachten lässt.

Daraus folgt nicht, alle Begriffe und Theorien der Politikwissenschaft müssten herrschaftsanalytisch sein. Der problemlösungsorientierte Blick auf Institutionen ist wichtig, nicht zuletzt, weil Institutionen eben auch auf Dauer gestellte Problemlösungen sein können und wir als Bürgerinnen und Bürger auch die Erwartung und das Recht haben, dass sie in dieser Hinsicht funktionieren. Problematisch wird es aber dann, wenn herrschaftsanalytische Vokabulare ganz aus der Politikwissenschaft verschwinden und nur noch Vokabulare zur Verfügung stehen, die die Herrschaftsthematik bloß begrifflich aus der Welt schaffen.

Diese Gefahr scheint mir gegenwärtig zu bestehen. Besonders prägnant kommt diese Gefahr in der gegenwärtigen Tendenz zum Ausdruck, von der „Govemment”- zur „Governance“-Semantik umzuschalten, die mit einer starken Betonung des Steuerungs- und Problemlösungscharakters der Politik einhergeht: „Govemance heißt Sachverhalte regeln und kollektive Probleme lösen” (Benz 2004: 72). Indem Governance als eine Form und Verfahrensweise der kollektiven Problemlösung und Selbststeuerung erscheint, wird die Utopie einer Gesellschaft reformuliert, die sich herrschaftsfrei selbst organisiert. Allerdings wird sie nicht mehr als eine Utopie erkennbar, die die Funktion hat, durch Kontrasteffekte bestehende Herrschaftsprozesse sicht- und kritisierbar zu machen. Sondern sie erscheint als eine Beschreibung der empirischen Wirklichkeit. Der problematische Charakter einer solchen Perspektive wurde bereits vielfach kritisiert. So bringt Artur Benz, wie auch schon Renate Mayntz (2001; 2004) und andere, diesen zwar klar zum Ausdruck, wenn er konstatiert:

„Governance als der faktisch vorfindliche Modus der Regelung kollektiver Sachverhalte … erreicht politisch gesetzte, demokratisch legitimierte Ziele oft nicht und bleibt gemessen an normativen Erwartungen defizitär. Die möglicherweise zu beanstandende Selektivität der Perspektive, die mit dem Begriff Governance zusammenhängt, liegt vielmehr an der Ausblendung wichtiger herrschaftssoziologischer Aspekte bei der Ana-lyse des politischen Geschehens. … Tatsächlich geht es in der Politik keineswegs immer und primär um Aufgabenerfüllung, Leistungserbringung und Problemlösung, sondern oft in erster Linie um Gewinn und Erhalt von politischer Macht” (Benz 2004: 75).

Was hier aber unthematisiert bleibt, ist die Tatsache, dass das in der Governancetheorie perspektivisch verzerrte Bild der politischen Wirklichkeit nicht nur empirisch betrachtet fragwürdig ist, sondern, dass diese Verzerrung der Wirklichkeit ganz konkreten partikularen Interessenlagen und gesellschaftlichen Konfliktlinien entspricht, da die Herrschaftsausübung von Personen, Gruppen und Institutionen in der Governancetheorie überhaupt nicht als solche erscheint. Diese Verzerrung ist deshalb nicht in erster Linie ein Problem eines akademischen Wissenschaftsdiskurses, sondern der konkreten Demokratie. Dieses rationalistische Denken in der Politikwissenschaft, in dem Politik als Problemlösungshandeln thematisiert wird, ist, wenn es andere Perspektiven über-deckt, eine ideologische „Politik der Entpolitisierung”, deren blinder Fleck Herrschaft ist. Problematisch ist eine solche Ausblendung nicht, weil hier in einem wissenschaftsimmanenten Diskurs eine empirisch unzutreffende Position vertreten wird. Problematisch ist sie, da der Politikwissenschaft hiermit die kritische Distanz zur Politik abhanden kommt. Unkritisch wird das Vokabular des professionalisierten Betriebes der policy-maker übernommen, die ihr Handeln als kooperatives Problemlösungshandeln beschreiben und rechtfertigen.

Friedrich Engels‘ utopische Losung „An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen” war kritisch gegen die herrschaftliche Politik seiner Zeit gerichtet. Die heutige problemlösungsfixierte und rationalistische Perspektive auf Politik hat diesen utopischen Horizont eingezogen und zeichnet ein Bild der Politik, in welchem Herrschaftsprozesse kaum mehr vorkommen. Kommt in der utopischen Entpolitisierungsstrategie Engels‘ die Hoffnung zum Ausdruck, Politik ließe sich in der Zukunft in die herrschaftsfreie Verwaltung gemeinsamer Angelegenheiten auflösen, so wird in der zeitgenössischen Entpolitisierungsrhetorik der Eindruck vermittelt, das Herrschaftsproblem sei bereits gelöst. Politik, so scheint es, erschöpft sich im Jerrschaftsfreien Problemlösungshandeln.

Die Romantik der Differenz als Utopie des Politischen

Ein Strang im zeitgenössischen politischen Denken, der eine Revolte gegen diese Entpolitisierungsstrategien darstellt, ist die zeitgenössische Form der politischen Romantik, die Ontologie der „politischen Differenz” (Marchart 2010). Dies insofern, als dass die Verkürzung der Politik auf instrumentelles Handeln, vernunftorientiertes Kommunizieren oder problemlösungsorientiertes Funktionieren von Institutionen oder Systemen, ei-ne politische Leitidee der Moderne ausblendet, nämlich die Idee der kreativen Selbsterschaffung und emphatischen Autonomie (Schmidt 2009), die weiterhin in subkulturellen Milieus und kollektiven Bildern, beispielsweise von politischen Revolutionen, aktualisiert wird, und mithin Bedürfnisse und Erwartungshorizonte schafft, die von der konventionellen Politik und dem Mainstream der Politikwissenschaft nicht befriedigt werden.

Die Ontologie der politischen Differenz basiert auf der Unterscheidung zwischen dem Politischen und der Politik. In Anlehnung an das existenzialanalytische Vokabular Heideggers verkörpere die Politik die ontische Ebene, das Politische die ontologische Ebene der politischen Differenz. Politik sei auf „ontischer Ebene der Begriff für z. B. ein spezifisches diskursives Regime, ein bestimmtes soziales System, eine bestimmte Handlungsform”, das Politische hingegen die niemals zu beseitigende Ungründbarkeit und Unfeststellbarkeit der Politik. Die Politik könne deshalb nie letztgültig mit einer bestimmten Form politischer Ordnung identisch werden, das revolutionierende Potential des Politischen bringe sich „im politischen Leben durch das Faktum des letztinstanzlichen Scheiterns aller Grundlegungsversuche und in der politischen Theorie im konzeptuellen Spiel der politischen Differenz” zum Ausdruck (Marchart 2010: 147 f.).

Diese Art über Politik nachzudenken befriedigt ein romantisches Bedürfnis und sie kann in gewisser Hinsicht auch ein Antidot gegenüber der technokratischen und rationalistischen Verengung von Politik auf scheinbar entpolitisiertes Problemlösungshandeln darstellen, welches dazu tendiert, das bestehende Gefüge von Institutionen und Akteuren mit Politik überhaupt zu identifizieren, den kreativ-kontingenten Charakter politischen Handelns auszublenden, und damit die kollektive Macht, politische Strukturen aufzubrechen und zu verändern. Ich denke aber, dass dieser romantische Impuls, der in diesem Denken angesprochen wird und der aus einer Gesellschaftsformation resultiert, die bis in fast alle sozialen Zusammenhänge von Politik durchzogen, aber gleichzeitig zu einer bewussten und rationalen Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten unfähig ist, hier in einer, im Sinne Gehlens, entlastenden Intellektualisierung aufgehoben wird. Politik erschöpft sich zwar nicht, wie Claus Offe 1970 noch meinte, im dauerhaften „crisis management” der drei Systemprobleme der ökonomischen Stabilität, außenpolitischen Sicherheit und der Massenloyalität (Offe 1970: 182 ff.), verbindet aber auf widersprüchliche Weise ein institutionalisiertes „muddling through” mit einer auf kollektive Autonomie abzielenden Selbstbeschreibung des politischen Prozesses. Die Romantik der politjschen Differenz entlastet, indem hier auf einer völlig abstrakten Ebene der Meta-Reflektion die prinzipielle Kontingenz der Politik betont wird, ohne jedoch einen Bogen zur politischen Praxis zu schlagen oder eine wirklichkeitswissenschaftliche Kritik der politischen Gesellschaft zu leisten; sie wird so, überspitzt ausgedrückt, zu einer institutionalisierten, anti-praktischen Dauerreflexion der Möglichkeit, dass auch alles anders sein könnte, obwohl doch alles beim Alten bleibt.

[1] Burnham 2001, Fach 2008, Greven 2010, Hirsch 2007, Mouffe 2007, Schedler 1997, Schulze et al. 2006.
[2] Zu Saint-Simon siehe auch Hofmann 1970: 45–52 und Lemke 2003. Ich zitiere die Texte Saint Simons nach der Auswahl von Vester 1970.
[3] Im Kontext zeitgenössischer Governancetheorien findet sich auch manchmal die Hoffnung, durch den Einsatz von rationaler Sachexpertise ließen sich politische Problemstellungen entpolitisieren und technokratisch lösen. Wolfgang Bernschneider (Bernschneider 1997) hingegen zeigt anhand des wissenschaftlich beratenden Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag, wie dort erstens die angestrebte Rationalität wissenschaftlicher Sachexpertise „durch eine politisch-programmatische Präferenz- und Interessenstruktur” (ebd.: 44) überformt bzw. aufgelöst wird und
zweitens wie die durch wissenschaftliche Expertise überhaupt erst erzeugte (!) Komplexität und „Ausdifferenzierung von Entscheidungsmöglichkeiten” (ebd.: 45) die Informationsverarbeitungsund Entscheidungskompetenz der entscheidenden Akteure überfordert.

Literatur

Benz, Arthur (2004): Governance im modernen Staat, in: Ders. (Hg), Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen, Wiesbaden, 5.125-145.
Bernschneider, Wolfgang (1997): Die Politik der Nicht-Politik, in: Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung, 7, S. 34-61.
Burnham, Peter (2001): New Labour and the Politics of Depoliticisation, In: British Journal of Politics and International Relations, 3, 2, 5,127–149.

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