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Feminismus und Forts­chritts­denken

Reflexive Brechungen und vielfältige Horizonte

aus: Vorgänge 195 ( Heft 3/2011), S.111-119

Die feministische Fortschrittskritik hat das hegemoniale westliche Fortschrittsdenken kritisiert und konterkariert. Sie ist von Ambivalenzen und reflexiven Brechungen gekennzeichnet. Auch deswegen hat sie wenig geschlossene Fortschrittsvisionen entwickelt. Feministische Ansätze über die gesellschaftliche Zukunft sind zum Einen in Utopien oder in ihrem „schwarzen Gegenstück”, den Dystopien wie auch der Science Fiction beheimatet. Zum Zweiten spielen einige Stränge mit einer Auflösung oder Dekonstruktion des Geschlechts. Zum Dritten wurden Entwürfe zur Aufhebung der gesellschaftlichen Ungleichheit vorgeschlagen. Aber eben diese reflexiven Brechungen und Ambivalenzen sind relevant und interessant, wenn man das hegemoniale Fortschrittsmodell der westlichen Gesellschaft auf den Prüfstand stellen will.

Diesem Beitrag liegen die Thesen zu Grunde, dass das hegemoniale westliche Forschrittsdenken durch einen linearen Progressismus gekennzeichnet ist. Als Progressismus bezeichne ich den Glauben an den Fortschritt und insbesondere die Annahme, dass die historische Entwicklung in einer Linie zur Ausweitung des Marktes, des Wissenschaft und Technik und Demokratie führt. Die Fortschrittskritik der Neuen Frauenbewegung bewegt sich demgegenüber eher in Spiralen: Sie orientiert sich nicht an einem homogenen Fortschrittsbild, sondern an der Anerkennung der Differenz. Sie sieht auch seitwärts auf die Ausgeschlossenen, wie die Frauen, die „dritte Welt”, und die Natur. Diese Sichtweisen resultieren aus der Reflektion der eigenen Erfahrungen von Ungleichheit und Exklusion in der Moderne – und keinesfalls aus einem mütterlichen oder gar „besseren” Sozialcharakter der Frauen, auch wenn dies in differenzorientierten Strömungen der Frauenbewegung manchmal behauptet wurde. Doch sowohl der Ertrag wie auch der Preis des Denkens in Spiralen ist hoch: Der Vielfalt und Breite des Blicks steht die Fragmentierung und der zu Grunde liegende Ausschluss entgegen. Es gibt also keinen Anlass, die feministische Fortschrittskritik zu idealisieren, aber sie ist wichtig für eine Kritik des herrschenden Fortschrittsmodells und für weiterführende Zukunftsperspektiven.

Im Folgenden will ich zunächst dies Verhältnis von Linie und Spirale beleuchten. Deshalb gehe ich zunächst kurz auf hegemoniale Fortschrittsmodelle, den Ausschluss von Frauen in der Moderne und auf die feministische Fortschrittskritik ein. Dann diskutiere ich einige feministische Ansätze, die in diesem Zusammenhang relevant und weiterführend sind.

Das hegemoniale lineare Forts­chritts­denken und die Moder­ni­sie­rung der Geschlech­ter­ord­nung

Das hegemoniale Fortschrittsmodell, so lautete die These. ist linear progressiv angelegt: Es nimmt an, dass die Gesellschaft sich ohne wesentliche Brüche in eine „bessere Zukunft” entwickelt (vgl. auch Kößler 1998). Die unterschiedlichen progressiven Denkrichtungen nehmen verschiedene Triebkräfte dieser Entwicklung an: Der Liberalismus setzte auf einen linearen Fortschritt durch die Entwicklung des freien Marktes, der Wissenschaft und Technik und der Demokratie in einer Gesellschaft freier und rationaler Marktbürger. Die Berufung auf die Kräfte des Marktes, des Wirtschaftswachstums und der Demokratie wurde in der Globalisierung zur hegemonialen Ideologie. Aber der Einschluss in diese öffentlichen Sphären für die Männer der herrschenden Schichten beruhte auf dem Ausschluss der Frauen und der Kolonisierten, wie noch zu zeigen sein wird.Der Sozialismus verband Fortschrittsdenken mit tief greifender Kritik am kapitalistischen System. Der Kapitalismus beruhte in dieser Sicht auf der Irrationalität des individuellen Profitstrebens und er brachte die grundlegende Klassenspaltung zwischen Kapitalisten und Beschäftigten hervor. Zugleich aber schuf er erst die Mittel, um diese Spaltung zu überwinden: Der Klassenkampf würde zur Revolution, zur vernünftigen Umgestaltung der Menschheit in eine klassenlose Gesellschaft führen. Sie würde auf dem materiellen Überfluss beruhen, der durch Wissenschaft und Technik im Rahmen des Kapitalismus ermöglicht wird. Nicht der Marktbürger, sondern der vielseitige Vernunftbürger stand im Zentrum: Der Philosoph könnte nachmittags fischen oder kochen und die Köchin philosophieren. Das Modell beinhaltete also die Abschaffung der Arbeitsteilung, auch der geschlechtlichen, durch Vergesellschaftung aller Aufgaben und die Aufhebung des Privaten.

In der sozialistischen Sicht führte der Fortschritt zu wachsendem gesellschaftlichen Reichtum, aber er erwuchs aus dem Konflikt. Im Zentrum des linken progressistischen Konfliktmodells standen die (männlichen) Arbeiter, die Gewerkschaften und die linke Partei als deren politische Vertretung. Frauen waren nicht ausgeschlossen, aber auf Grund ihrer Randstellung in der Produktion und der Interessenorganisation marginalisiert.

Während die Wachstumsperspektive linear progressistisch angelegt war, ermöglichte die konflikttheoretische Grundlegung auch eine Hinterfragung dieses linearen Progressismus. So fokussierte die Frankfurter Schule die Brechungen des Fortschrittsdenkens, indem sie die Dialektik der Aufklärung herausarbeitete. Sie beeinflusste die neue Frauenbewegungen wie auch die Studenten- und Jugendbewegungen nach 1968 grundlegend.

Diese progressistischen Fortschrittsmodelle beruhten also auf den männlich zentrierten Sphären des Marktes und der Produktion, der Wissenschaft und der Demokratie. Ihr Leitbild war der männliche Bürger als Familienernährer in der Nation. Gleichheit erforderte eine Angleichung an dieses Leitbild des Mannmenschen, während die Frauen als das „andere Geschlecht” galten. Das Private wurde als traditioneller marginaler Teilbereich und Reich der Hausfrau und Mutter betrachtet, die den Anschluss an die Moderne nur durch Zugang zum Arbeitsmarkt schaffen konnte.

So ordneten diese Modelle Frauen unter und schlossen sie tendenziell aus. Denn in der Moderne wurde die Geschlechterungleichheit entgegen ihrem Leitbild von Freiheit, Gleichheit und Solidarität nicht aufgehoben, sondern sie wurde in das Fundament der neuen Gesellschaftsordnung eingebaut. Begründet wurde das mit der modernen Vorstellung einer biologischen Geschlechterdifferenz und der dadurch begründeten ungleichen Arbeitsteilung, nach der Frauen und Männern unterschiedliche Aufgaben zugewiesen wurden: Der Mann trug Verantwortung für Staat und Wirtschaft, die Frau für den Haus-halt und die Versorgung von Mann und die Kindern. Die gesellschaftliche Entwicklung, die im linearen Progressismus als Fortschritt gefeiert wurde; brachte für Frauen eine mehrstufige Modernisierung der Ungleichheit, die hier knapp am Beispiel der Modemisierungen der modernen Geschlechterordnung umrissen werden soll (vgl. ausführlich Mae, Lenz 2012).

Die neopatriarchale Geschlechterordnung bildete sich parallel zur Nationenbildung und zur Entwicklung des Kapitalismus heraus. Sie war mit dem modernen Klassensystem und dem Kolonialismus gekoppelt. Macht in Staat, Politik und Wirtschaft kam Männern der nationalen Eliten zu, während Frauen bis ins 20. Jahrhundert vom Wahlrecht, von der Wissenschaft und von Entscheidungspositionen in der Wirtschaft ausgeschlossen waren. Zugleich erhielten Männer im modernen Familienrecht als Haushalts-vorstand Autorität über ihre Ehefrauen, ihre Söhne und Töchter.

Zu Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die neopatriarchale allmählich durch die differenzbasierte Geschlechterordnung abgelöst, in der nicht mehr die väterliche Autorität über den gesamten Haushalt, sondern die biologisch abgeleitete Geschlechterdifferenz zwischen männlichem Ernährer und Hausfrau leitend war. Geschlecht wurde als duale biologische Festlegung verstanden, aus der deterministisch „natürliche Geschlechterrollen” abgeleitet wurden. Diese Geschlechterrollen wurden in Form des Ernährer-/Hausfrauenmodells in den sich herausbildenden Wohlfahrtsstaat eingebaut: Die Lohnarbeit zur Absicherung der Familie wurde „dem Mann” zugeordnet und die unbezahlte Familien- und Versorgungsarbeit „seiner Hausfrau”. Während die vorige neopatriarchale Hierarchie auch mit der Autorität des männlichen Bürgers und Familienvaters legitimiert wurde, begründete die differenzbasierte Ordnung die geschlechtliche Arbeitsteilung vor allem mit der biologischen Geschlechterdifferenz: Sie führe zu ungleichen Aufgaben und Lebenssphären von grundsätzlich gleichen Bürgern, die tendenziell als „different, but equal” angesehen wurden.

Gegenwärtig zeichnet sich der Übergang zu einem flexibilisierten Geschlechterregime ab. Zunächst errangen Frauen zunehmend den Zugang auch zu höherer allgemeiner und beruflicher Bildung. Im Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft konnten sie sich mittlere Berufspositionen eröffnen. Sie wurden damit zu neuen Humanressourcen eines globalisierten und flexibilisierten Kapitalismus, der sie als Speerspitze der sich ausweitenden flexiblen oder prekären Arbeitsverhältnisse einsetzt. Das männliche Ernährermodell schmilzt tendenziell ab und die flexiblen Beschäftigungsformen zwischen Teilzeitarbeit und Prekariat, die mehrheitlich weiblich sind, wachsen an.

Frauen erreichen nun Zugang zur politischen und wirtschaftlichen Öffentlichkeit und der frühere grundlegende Ausschluss ist erodiert. Doch wurde das Private erneut privatisiert und unbezahlte Versorgungsarbeit wie Kinderversorgung erscheint als Störfaktor einer unbegrenzten Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt. Das öffentliche Bewusstsein schwindet erneut, dass es sich um gesellschaftliche unverzichtbare Arbeit zur Reproduktion der nächsten Generationen handelt, ohne die eine Gesellschaft Gefahr läuft, sich abzuschaffen.

Der mögliche Übergang zu einer flexibilisierten Geschlechterordnung wird nicht nur von einem globalisierten postfordistischen Kapitalismus sondern auch von den neuen Wellen der Frauenbewegung und der Gleichstellungspolitik nach 1970 vorangetrieben. Der neue Feminismus griff die differenzbasierte Ordnung heftig an, die Frauen kollektiv auf die Hausfrauen- und Mutterrolle festlegte. Er setzte sich für höhere Bildung und bessere Berufschancen für Frauen ein. Schließlich hinterfragte er die moderne Vorstellung eines biologischen Geschlechts als Stützpfeiler sozialer Ungleichheit mit der These der kulturellen Konstruktion von Gender. Dabei zielte er auf eine egalitäre Geschlechterordnung und Anerkennung der Differenz von Frauen und anderen Gruppen und er eröffnete neue Partizipations- und Freiheitsräume. Die „unbeabsichtigte Nebenfolge” war das Aufbrechen bisheriger Sicherheiten, die mit dem Ernährer-/Hausfrauenmodell und der biologische Geschlechtsnorm verbunden waren, die Flexibilisierung und Entgrenzung von Lohnarbeit und die Abwertung der unbezahlten Versorgungsarbeit.

In diesem Abschnitt wurde das lineare progressistische Fortschrittsdenken der liberalen und linken Strömung mit der Modernisierung der Geschlechterordnungen und der Formen der geschlechtlichen Ungleichheit konfrontiert. Die Frauenbewegungen haben an diesen Modernisierungen mitgewirkt, wenn auch die Ergebnisse ihren Zielen widersprachen. Vor diesem Hintergrund sollen nun Ansätze der feministischen Fortschrittskritik diskutiert werden.

Forts­chritts­kritik in feminis­ti­schen Utopien und Science-­Fic­tion

Feministische Utopien und Science-Fiction bieten eine wesentliche Quelle für das feministische Fortschrittsdenken. Ich möchte einige viel gelesene Romane diskutieren, die zu ihrer Zeit repräsentativ für feministisches Denken waren und es zugleich befruchtet haben. Dabei werden die Kontinuität der Ambivalenzen und reflexiven Brechungen deutlich, aber auch deren Radikalisierung im neuen Feminismus.[1]

Die feministische Forscherin und Journalistin Charlotte Perkins Gilman veröffentlichte ihren utopischen Roman Herland im Jahre 1915. Drei Entdecker aus Kalifornien gelangen mit ihrem Flugzeug in eine isolierte, aber hochzivilisierte Frauengesellschaft, die auf der Logik einer verallgemeinerten Mutterschaft beruht. Nachdem die Männer vor langer Zeit durch eine Reihe von Katastrophen ausgestorben waren, pflanzten sichausgewählte Mütter durch eine kulturell regulierte (und nicht biologisch gegebene) Parthogenese fort: Die Sehnsucht einer Frau nach einem Kind begründete eine Schwangerschaft, während die Sorge für die Kinder von allen Frauen übernommen wurde. Aber die Mütterzivilisation baute nicht allein auf dieser kulturellen Eugenik auf, sondern sie konnte auch Bäume genetisch zu höchst fruchtbaren und langlebigen Nutzpflanzen weiterentwickeln und selbst Katzen züchten, die nur Ratten und Mäuse fangen, aber keine Vögel jagen. Das Frauenland ist ein ökologisches Paradies, in dem Menschen, Tiere und Pflanzen friedlich zusammenleben. Der Roman liest sich wie ein Gegenentwurf zum produktionszentrierten Progressismus und zur neopatriarchalen Geschlechterordnung. Er stellt die Reproduktion, also das Kinderbekommen und Erziehen, als kulturelle Meisterleistung der Mütterzivilisation dar. Diese verfügt überdies – im Gegensatz zu den marxistischen Vorstellungen eines primitiven Matriarchats als unterster Stufe der Evolution – über Wissenschaft, eine hohe Produktivität und kulturelle Entwicklung, die Gewalt und Verbrechen weitgehend überwunden hat.

Nun will ich am Beispiel von Herland meine These kurz pointieren, dass feministische Utopien eine Fortschrittskritik und -perspektive herausarbeiten, die auf reflexiven Brechungen, Ambivalenzen und einer Spiralsicht beruhen. Gilman relativiert das Geschlecht als biologische Norm, die eine ungleiche Arbeitsteilung legitimieren soll, und öffnet es zugleich im Sinne einer egalitären Differenz. Frauen können alles in diesem Gegenbild zum modernen männlich zentrierten Fortschritt: Sie forschen und studieren, arbeiten und üben Sport, so dass sie intellektuell und körperlich stark und selbstbewusst sind. Das Mütterland ist auf Reproduktion zentriert – wie das moderne Männerland auf die Produktion. Aber sowohl der Zwang der modernen Männlichkeits- und Weiblichkeitsnormen wie auch der Dominanz eines Geschlechts werden grundlegend kritisiert. Die Eingeschlechtlichkeit des Frauenlandes und seine Frauenzentrierung können als sarkastische Kritik an der Männerzentrierung der Moderne gelesen werden. Schließlich wünschen die Frauen, diese Einseitigkeit zu überwinden und wieder einen zweigeschlechtlichen Zustand herzustellen. Der Erzähler, ein Soziologe, verlässt seine ansozialisierte männliche Überlegenheitshaltung und bewegt sich in Richtung der Anerkennung der Frauen und des Frauenlandes. Er sieht sie als Menschen (people), die ihm nah sind und von denen er sich nicht abgrenzen muss. Seine Geliebte erhofft von dem Zusammenleben mit Männern große Bewegung, dauernden Wandel und neue Entwicklungsmöglichkeiten. Sie ist zutiefst überzeugt von dem Vorteil des Zusammenlebens von zwei Geschlechtern und der Überlegenheit einer Welt mit Männern gegenüber dem einseitigen Frauenland. Am Ende von Gilmans Utopie steht also das Experiment einer egalitären Differenz – und nicht der homogene männliche Nationalbürger. Sie baut auf der Elternschaft von Müttern und Vätern und der Gleichheit der Geschlechter, nicht der Genderdifferenzierung, auf.

Feministische Dystopien und Science-Fiction, die in dem neuen Aufbruch der 1960er Jahre entstanden, behandeln vergleichbare Themen der Geschlechterdifferenz und Ungleichheit, der Mutterschaft und Körper, aber sie dekonstruieren sie radikal. Ursula le Guin entwarf in The Left Hand of Darkness 1969 in einem Gedankenexperiment.Menschen mit wechselndem Geschlecht in einer Gesellschaft ohne ein institutionalisierschlechtsfrei und wechseln in der monatlichen Trieb- und Paarungsphase flexibel ihr Geschlecht in Kommunikation mit ihrem Partner. Aus einer androgynen Anlage entwickeln sich durch hormonelle Steuerung in diesem Austausch weibliche oder männliche Sexualorgane. Bei einer Befruchtung bleibt die Person während der Schwangerschaft und Stillzeit weiblich, wird danach aber wieder zum perfekten Androgyn. Die Mutter von mehreren Kindern kann also auch der Vater weiterer Nachkommen sein. Zwar existieren die Worte männlich und weiblich, aber sie bezeichnen vorübergehende Zustände, die je nach der sexuellen Interaktion variabel sind. In Le Guins Gedankenexperiment sind die Sexualität und die Reproduktion von festen Genderzuweisungen freigesetzt, sie werden vielmehr je nach der Qualität der sexuellen Interaktion selbsttätig flexibel gestaltet.

Marge Piercy schildert in der Dystopie Women at the Edge of Time (1976) eine ökologische und gerechte Zukunftsgesellschaft, in der die Reproduktion nicht mehr durch das Geschlecht diktiert wird: Babies wachsen in einem Laboratorium heran, das an ein großes Aquarium erinnert. Nach der Geburt kümmern sich drei Personen als soziale Ko-Mütter um jedes Kind, die ihre Körper hormonell für das Stillen verändern. Barbarossa mit seinen 45 Jahren und seinem intellektuellen Schulmeistergesicht hat kleine Brüste und beim Stillen schwebt er vor Freude im Raum. Beim Zusehen wird der Hauptfigur des Romans zunächst übel. Sie ist eine Mexikanerin in den USA, die in die Psychiatrie eingewiesen wurde, und hat das Sorgerecht für ihre Tochter verloren. Die Erinnerung an die eigene, ihr aber abgesprochene und zerstörte Mutterschaft empfand sie als letzten Rest ihrer Macht. Aber bald entscheidet sie sich, für diese Zukunftsgesellschaft zu kämpfen und Gewalt anzuwenden; denn von ihrem Handeln hängt ab, ob sich der weitere Fortschritt zu der geschlechterfreien ökologischen Utopie oder zu einer dystopischen zutiefst ungleichen Kontrollgesellschaft wenden wird.

In diesen Romanen zum Aufbruch der neuen Frauenbewegung wurde das Geschlecht in Gedankenexperimenten radikal dekonstruiert — und damit wird auch die Grundlage der differenzbasierten Geschlechterordnung angegriffen. Geschlecht hat in diesen Entwürfen seine institutionelle Bedeutung wie auch seine körperliche Verankerung verloren und es ist nach Liebes- und Versorgungsbeziehungen und eigenen Wünschen flexibel selbstgestaltbar und veränderbar. Aber der Fortschritt ist kontingent und hängt vom individuellen Handeln auch der Ausgeschlossenen und Marginalisierten ab, nicht von mächtigen Großorganisationen.

Zwischen Dekon­struk­tion des Geschlechts und Aufbau einer egalitären Gesell­schaft

In diesem Beitrag wurden bislang das hegemoniale lineare Fortschrittsdenken mit den weiblichen Erfahrungen von Ausschluss und Unterordnung in der Modernisierung konfrontiert. Vor diesem Hintergrund wurden die reflexiven Brechungen, die Ambivalenz und die Spiralsicht der feministischen Fortschrittskritik am Beispiel der Science-Fiction und Utopien betrachtet. Eine geschlossene Fortschrittsprogrammatik hat der Feminismus, der sich eher im Plural entwickelt hat, nicht zu bieten. Die Feminismen haben aber
wichtige Vorschläge für die gesellschaftliche Entwicklung ausgearbeitet, die ich zum Schluss noch knapp vorstellen will. Sie bewegen sich zwischen der Dekonstruktion des Geschlechts und Wegen zu einer geschlechtergerechten ökologischen Weltgesellschaft.

Dekon­struk­tion oder Deinsti­tu­ti­o­na­li­sie­rung des Geschlechts

Die moderne Geschlechterdualität hat die differenzbasierte Geschlechterordnung legitimiert. Konstruktivistische Ansätze richten sich deswegen darauf, geschlechtsduale Denkweisen und Politiken zu kritisieren und die umfassende Bedeutung (Omnirelevanz) des Geschlechts als Ungleichheitskategorie zurückzudrängen.[2] Das Ziel ist, durch eine Deinstitutionalisierung des Geschlechts gesellschaftliche Gleichheit zu erreichen.

Diese Ansätze haben sich in feministischen und Jugendmilieus rasch verbreitet. Gleichzeitig aber wird der Geschlechterdualismus in der Massenkultur und im Alltags-leben wieder populär: So wird in Bestsellern oder Babywäsche nach der Rosa-Blau-Ordnung die Geschlechterdifferenz erneut propagiert und zelebriert. Es scheint, als sei das Geschlecht in Zeiten der Unsicherheit eine letzte sichere persönliche Ressource. In-sofern greift die konstruktivistische Debatte die kulturelle Stabilisierung der differerenzbasierten Geschlechterordnung an, während diese eben brüchig wird. Jedoch konfrontiert sie die sich abzeichnende flexibilisierte Geschlechterordnung kaum, sondern sie bleibt oft auf der Ebene des Diskurses, der kulturellen Muster und der individuellen Wahlmöglichkeiten stehen und hat wenig zu strukturellen Veränderungen beigetragen.

Zudem sind Geschlechterhierarchie und Geschlechterdifferenz nicht das gleiche, denn geschlechtsegalitäre Gesellschaften können durchaus auf einer Anerkennung von Differenz aufbauen (vgl. Lenz, Luig 1990). Dass Geschlechtergleichheit durch eine „Abschaffung des Geschlechts” — und nicht eher durch seine Deinstitutionalisierung — erreicht werden kann, mag wohl bezweifelt werden. Immerhin wäre die Tragweite eines solchen anthropologischen Sprungs zu bedenken.

Ökologische Emanzi­pa­tion und globale Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit

Der neue Feminismus hat die Frage von Ökologie, Wirtschaftswachstum und Demokratie intensiv diskutiert (Lenz 2010). In den 1980er Jahren hat Maria Mies eine Vision für eine gleichheitliche regionale Subsistenzwirtschaft entwickelt, die Teile der Grünen beeinflusst hat. Allerdings fehlte ihr u.a. ein Demokratiekonzept (Mies in Lenz 2010: 409-419; 862-864). Bis heute werden solche Ansätze etwa unter dem Leitwort der Tausch-oder Gabenökonomie international weiterdiskutiert. Der Ökofeminismus hat auch den Widerspruch zwischen ökologisch begrenzter Wirtschaft und einer individuellen Emanzipationslogik herausgearbeitet, die sich auf das Wirtschaftswachstum und die sich dar-aus ergebenden erweiterten Konsummöglichkeiten, wie Waschmaschinen, Autos und Flugzeuge stützt (Lenz 2010: 854-862).

Der Unabhängige Frauenverband, der als Zusammenschluss der Frauen im Osten am 3.12.1989 kurz nach dem Fall der Mauer entstand, rief in seinem Gründungsmanifest nach einem Wirtschaftskonzept, das eine ökologische Reorganisation der Gesellschaft mit Bedürfnisbefriedigung und individueller Partizipation verbindet (Lenz 2010 880; 877-884). Diese Forderung ist weiterhin aktuell.

Ein solches Wirtschaftsmodell ist nur in globalem Maßstab vorstellbar und langfristig umsetzbar. Die internationale Frauenbewegung hat dazu umfassende Ansätze und Visionen entwickelt, die in der IV. Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 als Weltaktionsplattform beschlossen wurden. Ein breites Frauennetzwerk in Deutschland hat dazu ein Memorandum erarbeitet, in dem „Alternativen für eine Weltgesellschaft ohne Diskriminierung, Rassismus und Armut, ohne Kriege und Gewalt gegen Menschen und Natur” gefordert und erste Schritte in neun Bereichen vorgeschlagen werden, die u. a. Wirtschaft, Arbeit, Ökologie, Gewalt, Entwicklung und Machtbildung von Frauen umfassen (Lenz 2010: 925; 924-934).

Wohlfahrts­s­taat­li­cher Wandel und Care als Kern
einer geschlech­ter- und genera­ti­o­nen­ge­rechten Entwicklung

Feministische SoziologInnen haben wohlfahrtsstaatliche Modelle entwickelt, in denen dekonstruktive Geschlechteransätze mit einer Balance von Staat, Wirtschaft und Familie verbunden sind. Judith Lorber konzipiert eine allgemeine strukturelle Gleichheit, in der ökonomische Gleichheit, Rassenunterschiede und sexuelle Ausbeutung aufgehoben sind und Geschlecht sozial irrelevant wird (Lorber 1999: 402, ff.). Jane Lewis und Gillian Pascall haben ein Modell vernetzter Gleichheitspolitiken entwickelt, in dem die wesentlichen Elemente ungleicher Geschlechtersysteme aufgenommen sind: „their allocations of paid work, care work, income and time“ (Pascall, Lewis 2004: 380). Sie untersuchen, wie Gleichheit in diesen fünf Bereichen auf den Ebenen des Individuums, des Haushalts, der Zivilgesellschaft und des Staates verankert werden kann (ibid. ff.). Sie bieten einen institutionellen Gleichheitsansatz, der Partizipation und flexible Sicherheit jenseits der Trends zu flexibilisierten und individualisierten Geschlechterordnung vorsieht.

Im Kern neuerer Debatten steht die Frage der care, der Fürsorge und des Versorgens von Kindern, Älteren und Schwächeren. Hier verbinden sich dekonstruktivistische Gleichheitsansätze mit der Frage nach der demographischen Krise und der Selbsterneuerung der Gesellschaft, die im linearen Progressismus ausgegrenzt und auf die Biologie und das Geschlecht ausgelagert worden sind. Marx hatte noch gemeint, dass man die Reproduktion der Gesellschaft getrost dem biologischen Fortpflanzungstrieb der Arbeiter überlassen könne. Die demographische Krise manifestiert sich aber am schärfsten in Gesellschaften mit einem ausgeprägten, aber erodierenden Ernährer-/Hausfrauenmodell und seinen dualen Geschlechternormen wie in Deutschland, Italien, Japan und Korea. Die Care-Debatte deutet an, dass ein gutes Weiterleben und die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft von Geschlechtergleichheit und einer Balance zwischen öffentlicher Teilhabe und privater Fürsorge abhängen werden und feministische Beiträge dafür unverzichtbar sind.

[1] Es handelt sich um ausgewählte Utopien, die besonders große Wirkung zeitigten (vgl, u. a. Courage 1981, Heft 7). Reflexive Brechungen und Ambivalenzen sind eher repräsentativ für dieses Genre (Holland-Cunz 1988), aber selbstverständlich gibt es andere (und auch wenig reflektierte) feministische Utopien.
[2] Vgl. Lenz 2010: 419-434. Im Folgenden wird aus Platzgründen eine Reihe von Ansätzen aus di eser umfassenden Quellensammlung zur Neuen Frauenbewegung zitiert.

Literatur

Gilman, Charlotte Perkins (1915): Herland In: The Forerunner, 6, Januar – Dezember 1915. Holland-Cunz, Barbara (1988): Feministische Utopien – Aufbruch in die postpatriarchale Gesellschaft, Meitingen.
Kößler, Reinhart (1998): Entwicklung. Münster.
Le Guin, Ursula (1969): The Left Hand of Darkness, New York.
Lenz, llse/Luig, Ute (1990): Frauenmacht ohne Herrschaft. Geschlechterverhältnisse in nichtpatriarchalischen Gesellschaften, 2. Aufl.1995, Frankfurt a. M.
Lenz, Ilse (2008): Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, 2. Auflage 2010. Wiesbaden: VS Verlag.
Lenz, Ilse (2009): Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Ausgewählte Quellen., Wiesbaden (erhältlich bei den Landeszentralen für Politische Bildung Berlin, NRW, Rheinland-Pfalz).
Lorber, Judith (1999): Gender-Paradoxien, Opladen.
Mae, Michiko/Lenz, Ilse (2012): Frauenbewegung in Japan. Gleichheit, Differenz, Partizipation, Wies-baden.
Pascall, Gillian/Lewis Jane (2004): Emerging Gender Regimes and Policies for Gender Equality in a Wider Europe, in: Journal of Social Politics, 33, 3, S. 373–394.
Piercy, Marge (1976): Women on the Edge of Time, New York.

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