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Das "hörende Herz"

Papst Benedikt XVI. vor dem Deutschen Bundestag

aus: Vorgänge 196 ( Heft 4/2011), S. 127-135

Trotz aller Aufgeregtheiten und Proteste wurde dem Papst im deutschen Parlament am 22. September 2011 ein würdiger Empfang bereitet. Viele Parlamentarier waren beeindruckt von der „Tiefe” seiner Ausführungen. Da sich der Papst wieder des professoralen. Redestils befleißigte und eine philosophisch-theologische Grundlagenreflexion vorführte, waren manche Parlamentarier sehr erstaunt, manche wohl auch leicht überfordert. Was hat er dem deutschen Gesetzgeber eigentlich ins Stammbuch geschrieben? (Kein Argument, keine Anspielung sei hier ausgelassen.)

Dazu ist vorab festzuhalten, in welcher Funktion Benedikt im Parlament geredet hat. Er selbst hat ausdrücklich in seiner Rede klargestellt, dass er als Oberhaupt eines Staates spricht, der als „Partner innerhalb der Völker- und Staatengemeinschaft” wahrgenommen werden will. Er beruft sich auf seine internationale Verantwortung und möchte den Deutschen Bundestag mit Überlegungen über die „Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaates” vertraut machen.

Als Hintergrund sei die Rechtsordnung des Vatikanstaats in Erinnerung gerufen: In dem 2001 von Papst Johannes Paul II erlassenen Grundgesetz des Vatikans, veröffentlicht in den Acta Apostolicae Sedis, lautet Art.l : „Der Papst besitzt als Oberhaupt des Vatikanstaates die Fülle der gesetzgebenden, ausführenden und richterlichen Gewalt.” Dieser monarchische Absolutismus wurde unter Papst Benedikt noch dadurch spektakulär manifestiert, dass die automatische Übernahme der Gesetze des italienischen Staates für die Untertanen des Kirchenstaates ab 2009 außer Kraft gesetzt wurde. Papst Benedikt hatte so entschieden, weil die parlamentarisch verabschiedeten Gesetze häufig den Prinzipien der katholischen Kirche widersprächen. Die Gesetze sollen entsprechend von Fall zu Fall geprüft und nur bei Bedarf adaptiert werden. Dazu passt, dass im Vatikan bislang auch kein Bedarf bestand, die Menschenrechtskonvention der UN zu unter-zeichnen. Insofern trifft auf dieses Gebilde, rein empirisch beschrieben, die Kennzeichnung „Nicht-Rechtsstaat” zu, auch wenn es natürlich im Vatikan-Staat eine Gerichtsbarkeit gibt, die über die Einhaltung der geltenden Gesetzesvorschriften wacht. Das Verhältnis von Macht zu Recht ist im Falle dieses anachronistischen Gemeinwesens allemal nicht unproblematisch.

I.

Anlässlich der Erörterung der Frage „Wie erkennt man, was Recht ist?” behauptet Benedikt vor dem Deutschen Parlament, in der Geschichte seien Rechtsordnungen fast durchgehend religiös begründet worden. „Vom Blick auf die Gottheit her” sei entschieden worden, was unter Menschen rechtens ist. Hier stellt sich die Frage, welchen Geschichtsbegriff und welchen Begriff von Naturrecht Benedikt eigentlich seinem Reden zugrunde legt. Zwar wissen einige Experten, dass erste Konturen einer Begründung von Menschenrechten sich schon bei spanischen Spätscholastikern finden, aber für die moderne Rechtsentwicklung ausschlaggebend ist jene philosophische Entfaltung des Vernunftrechts, die wir mit den Namen Hobbes, Grotius, Spinoza, Locke, Rousseau und Kant verbinden. In allen diesen Rechtsbegründungen finden sich auch, allerdings eher beiläufig, Bezugnahmen auf ein göttliches ,Höheres Wesen‘, aber die Instanz, an die für das Nach-Denken dieser Rechtsbegründungskonstruktionen appelliert wird, ist die endliche Vernunft, die die Vorteile des Rechtsgehorsams und des innerstaatlichen Friedens zu kalkulieren weiß. Dieses Recht konzentriert sich (wie Immanuel Kant schließlich luzide eingeschärft hat) auf die äußere Handlungssphäre und ihre freiheitsförderliche, eine friedliche Ko-Existenz der Bürger sichernde Normierung – und es schafft so gerade die Voraussetzungen für die Wahrnehmung der Freiheit des Gewissens und der Religionsfreiheit.

Indem Benedikt diese für die Moderne charakteristische Tradition rationaler Macht-und Rechtsbegründung überspringt, gibt er deutlich genug zu erkennen, dass er sich mit seinen Reflexionen nicht auf dem Boden bewegt, der für die Theorie und Praxis eines Rechts, das sich an der Autonomie des Menschen ausrichtet, der tragende Grund ist. Benedikt konfrontierte den Deutschen Gesetzgeber also mit einer Rückrufaktion, welche die Ausrichtung des Gesetzes an Autonomie und Mündigkeit des Bürgers in einer weltanschaulich-pluralistischen Gesellschaft gezielt ausblendete, (Insofern ist es konsequent, dass er in einer Freiburger Rede unter dem Stichwort „Entweltlichung” deutlich machte, die Kirche wolle nicht länger Privilegien in Anspruch nehmen, die ihr vön dieser Art von Staat gewährt werden.)

Nun behauptet Benedikt in diesem Zusammenhang seiner Parlamentsrede, im Gegensatz zu anderen großen Religionen habe das Christentum dem Staat und der Gesellschaft nie ein Offenbarungsrecht, eine Rechtsordnung aus Offenbarung vorgegeben. Auch diese Behauptung ist merkwürdig, wenn nicht gar abgründig falsch. Auf jeden Fall ist sie, gelinde gesagt, missverständlich. Schon ein Rechtsgrundsatz wie cuius regio – ejus religio ruft ja in Erinnerung, wie verzahnt das jeweilige konfessionelle Bekenntnis mit der jeweiligen Rechtsordnung war. Die Exilierung der „Andersgläubigen” war noch die harmloseste Konsequenz aus der Geltung dieses Grundsatzes, nachdem im 16. Jh. selbst der fromme Abweichler mit dem Tod zu rechnen hatte (ob nun in katholischen oder protestantischen Landen). Die schließlich errungene Religionsfreiheit war noch bisin die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts für die katholische Kirche eine Sache des Teufels, denn schließlich wurde dem säkularen Rechtsstaat die Legitimität abgesprochen (Apostasie-Vorwurf). Die Bevormundungsversuche gegenüber säkularen Staaten seitens der römischen Kirche reichen bis ins 20. Jahrhundert. Eine freiheitsfeindliche Synthese wie die zwischen Staat und Kirche im Spanien Francos galt dem Vatikan bis zum II. Vatikanischen Konzil als Ideal. Außerdem ist das Kirchliche Recht (corpus juris canonici) eine Institution, für welche die Kirche stets die geistige Überlegenheit und Vorordnung gegenüber dem säkularen Recht beansprucht hat. Bis 1983 galt, dass ein Priester auch im Falle schlimmer Vergehen nicht vor ein säkulares Gericht gehört. An dieser Mentalität wurde auch nach diesem Datum in der Kurie noch festgehalten.

Benedikt: Das Christentum habe „stattdessen auf Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen verwiesen – auf den Zusammenklang von objektiver und subjektiver Vernunft”. Das klingt in dieser Allgemeinheit sehr vernünftig – wird aber sogleich eingeschränkt (oder: ausgeweitet?) durch den entscheidenden Hinweis auf eine Voraussetzung dieses „Einklangs”: das „Gegründetsein beider Sphären in der schöpferischen Vernunft Gottes”. Benedikt sieht sich in dieser Auffassung verbunden mit „einer philosophischen und juristischen Bewegung …, die sich seit dem 2. Jahrhundert v. Chr, gebildet hatte”. Gemeint ist die „Begegnung” zwischen dem stoischen sozialen Naturrecht und dem römischen Recht. Von der aus dieser „Berührung” entstandenen Rechtskultur „geht der Weg über das christliche Mittelalter in die Rechtsentfaltung der Aufklärungszeit bis hin zur Erklärung der Menschenrechte und bis zu unserem deutschen Grundgesetz”. Mit dieser schönen Formulierung gelingt es dem Redner, alle Konflikte der Rechtsgeschichte und die ihnen zuzuordnenden Bürgerkriege einfach beiseite zu lassen. Benedikt kommt es auch hier auf jenen ausschlaggebenden Satz an: das Recht gründe in der schöpferischen Vernunft Gottes. Es wäre verfehlt, darin einfach eine erbauliche Überhöhung zu sehen. Vielmehr ist zu fragen; welcher Gott ist gemeint? Und wer ist der befugte Interpret seines Gesetzes?

Auch der Apostel Paulus hatte, in seiner Areopagrede (Acta 17), im Gespräch mit den Athener Philosophen auf das stoische Gottesbild angespielt („in ihm leben wir und weben wir und sind wir“) und die Philosophen so zunächst für sich eingenommen. Als sie ihn dann näher befragten und mit der Zumutung konfrontiert wurden, an einen Gott zu glauben, der den Verbrechertod am Kreuz gestorben und danach auferstanden sei, machten sie sich lustig über Paulus und schickten ihn davon.

Es scheint, Benedikt möchte diese Konfrontation so lange wie möglich vermeiden, indem er argumentationsstrategisch die Einheit von philosophisch bedachtem Gottes-begriff und „Gott der Offenbarung” aufrechterhält. Die christlichen Theologen – so behauptet er – hätten sich „gegen das vom Götterglauben geforderte religiöse Recht auf die Seite der Philosophie gestellt, Vernunft und Natur in ihrem Zueinander als die für alle gültige Rechtsquelle anerkannt”. – Für alle? Kaum hatte die politische Entwicklung im römischen Kaiserreich dazu geführt, dass die christliche Kirche anerkannt und schließlich sogar privilegiert wurde, setzte, angefeuert von den christlichen Theologen, die Zerstörung der heidnischen Tempel und die Verfolgung der nicht-christlichen Philosophen ein – gerade auch solcher, deren Vernunft-Begriff eine philosophische Rede über das Göttliche einschloss. Darauf kam es in dem Augenblick nicht mehr an, in dem das Konfessionelle sich in seinem faktischen Partikularismus mit den Mitteln der staatlichen Gewalt bewaffnen konnte. Dass diesen Heiden das göttliche Gesetz – der Respekt für die „Goldene Regel” –„ins Herz geschrieben“ war (Röm 2,14 f), zählte im Augenblick der geschichtlichen Überlegenheit – trotz der schönen, anerkennenden Worte des Paulus, die Benedikt zitiert – nicht mehr. Fortan wurde in der Kirche die leichteste Abweichung vom machtpolitisch abgesicherten Dogma zum Anlass der Androhung von Exkommunikation. Und das bedeutete damals Gefahr für Leib und Leben, und erst recht: ewige Verdammnis.

Durch den Hinweis auf solche Niederungen der Geschichte nicht beirrbar, fokussiert Benedikt das von ihm gezeichnete Geschichtsbild auf die „dreifache Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms.” Diese Konstellation bilde „die innere Identität Europas”. Wie stark diese Kräfte schon in der Antike und dann in der weiteren abendländischen Geschichte gegeneinander „gearbeitet” haben, wie sehr die „vernünftigen” Philosophen schon bei der Entstehung des Christentums dessen – seinerzeit für philosophische Ohren jede Vernunft sprengenden – Wahrheitsanspruch kritisiert haben – das alles wird beschönigend in eine Synthese christlich-philosophischer Vernunft ein-geebnet. Wenn sich die Kirche heute dazu versteht, zur Verteidigung der Errungenschaften dieser Konstellation aufzurufen, so ist das sicherlich als Fortschritt zu begrüßen, aber die Differenzierungen des historisch-wissenschaftlichen Verstandes sollten vielleicht doch nicht außer Betracht bleiben.

II.

Nach diesen die große Synthese der abendländischen kulturellen Identität beschwören-den Passagen der Rede wende ich mich nun jenen Ausführungen zu, die der kritischen Gegenwartsdiagnose gewidmet sind.

Benedikt hält es für angebracht, den Gesetzgeber vor einem Rechtspositivismus zu warnen, der der Würde des Menschen nicht angemessen ist. Genereller: der Papst nennt eine Weltanschauung, die allein eine naturwissenschaftliche, technizistische, instrumentelle Rationalität gelten lässt, positivistisch. Der Gesetzgeber verfehle seine Aufgabe, wenn er nur einer instrumentellen Ratio folge und das Vernehmen der Vernunft vernachlässige.

Philosophisch grundlegend (wenn auch immer neu bedacht) sei die These, „dass zwischen Sein und Sollen ein unüberbrückbarer Graben” bestehe. Aus Sein könne kein Sollen folgen. – Als Grund der verbreiteten Akzeptanz dieser von vielen Theoretikern geteilten Überzeugung macht Benedikt das „allgemein angenommene positivistische Verständnis von Natur und Vernunft” aus. Mit dem in der Rede des Öfteren wiederkehrenden Wort positivistisch prangert Benedikt also die exklusive Geltung funktionaler Betrachtungsweisen nach dem Modell der Naturwissenschaft an. „Was nicht verifizier-bar oder falsifizierbar ist, gehört danach nicht in den Bereich der Vernunft im strengen Sinn.” Dem gegenüber möchte Benedikt die Natur so denken, dass aus ihr „ethischeWeisung” auch für die Rechtsgestaltung hervorgeht. Sonst bliebe die Berufung auf ein Ethos ja schlechthin „subjektivistisch”.

Zeitdiagnostisch wird konstatiert, dass „in unserem öffentlichen Bewusstsein” weit-hin der positivistische Vernunftbegriff vorherrscht. Dies habe „eine dramatische Situation” heraufgeführt, „die alle angeht und über die eine öffentliche Diskussion notwendig ist”. Benedikts Einräumung: Das positivistische Konzept von Natur und Vernunft, die positivistische Weltsicht als Ganzes sei durchaus „ein großartiger Teil menschlichen Erkennens und menschlichen Könnens, auf die wir keinesfalls verzichten dürfen”. Aber es könne eben das Ganze des Menschseins „in seiner Weite” nicht erschließen. „Wo die positivistische Vernunft sich allein als die genügende Kultur ansieht und alle anderen kulturellen Realitäten in den Status der Subkultur verbannt, da verkleinert sie den Menschen, ja, sie bedroht seine Menschlichkeit.”

Etwas befremdlich ist das Bild für die sich exklusiv gebende positivistische Vernunft: sie gleiche den „Betonbauten ohne Fenster, in denen wir uns Klima und Licht selber geben, beides nicht mehr aus der weiten Welt Gottes beziehen wollen”. Statt über den physikalischen Unterschied der Lichtquellen oder die ,Romantik‘ des Bildes nachzusinnen, erinnere ich daran, dass Benedikts Kirche solche Gotteshaus-Betonsilos für Tausende Gläubige selber zu errichten pflegt; ein plakatives Beispiel: die riesige unter-irdische Kirche im Marienwallfahrtsort Lourdes.

III.
 

Man kann diese Exkurse auf sich beruhen lassen. Interessanter sind Benedikts Antworten auf die Frage „Wie kann die Vernunft wieder ihre Größe finden, ohne ins Irrationale abzugleiten? Wie kann die Natur wieder in ihrer wahren Tiefe, in ihrem Anspruch und mit ihrer Weisung erscheinen?” Benedikts Antwort: „die Erde selbst” trage ihre Würde in sich und „ihrer Weisung” müssen wir folgen. „Wir müssen auf die Sprache der Natur hören und entsprechend antworten.”

Solche Worte muten zunächst an wie antimodernistisches Geraune. Aber Benedikts Schlüsselbegriff macht die Sache sofort klarer: „Ökologie des Menschen”. Das Wort ist ein Kampfbegriff gegen wissenschaftlich-technische Manipulationen am Menschen. Der Mensch „ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur hört, sie achtet und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat.” „Wahre menschliche Freiheit” vollziehe sich in diesem Respekt vor der Natur. Benedikt gibt erneut zu „bedenken, ob die objektive Vernunft, die sich in der Natur zeigt, nicht eine schöpferische Vernunft, einen Creator Spiritus vor-aussetzt”. Die eigentliche weltgeschichtliche Herausforderung, die in der Konstellation „Würde der Erde” und „Ökologie des Menschen” sich einem nachdenklichen Kirchen-mann aufdrängen müsste, ja ihm den Schlaf rauben könnte: die alle uns vertrauten Vorstellungen sprengende absehbare Überbevölkerung der Erde mit ihren zu befürchtenden katastrophalen Folgen findet bei Benedikt keinerlei Erwähnung. Auch die absehbar zu-nehmende Gefährdung des Friedens, die aus dieser Dynamik des Kampfes um Überlebensressourcen hervorgehen wird, wäre dann unweigerlich in den Fokus der Aufinerksamkeit gerückt.

Benedikt aber schließt stattdessen sofort wieder mit einer gewagten Behauptung an, die frei ist von jeder historischen Reflexion auf realgeschichtliche Prozesse: „Von der Überzeugung eines Schöpfergottes her ist die Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht, die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem einzelnen Menschen und das Wissen um die Verantwortung der Menschen für ihr Handeln entwickelt worden.” Zutreffend wäre es zu formulieren: Nachdem in einem mühsamen Säkularisierungsprozess – ständig auch gegen die Voten der römischen Kirche und ihre die Freiheitsrechte blockierende Haltung – die Menschenrechte etabliert worden sind, haben Theologie und Kirche diese Entwicklung interpretierend eingefangen und auf Schöpfergott und Schöpfungsordnung zurückbezogen. Über lange Zeit war im 20. Jahrhundert übrigens gerade der Begriff der „Schöpfungsordnung” eine Art Stop-Signal gegen gesellschaftlich-politische Entwicklungen hin zu mehr Gleichberechtigung der Frau, Abbau von Diskriminierungen homo-sexueller Menschen u. ä. (Was der Papst im Parlament mit manchen metaphysischen Wortungetümen tatsächlich wohl gemeint hat, war das, wofür er in Freiburg und anderswo, in den kirchlichen Kontexten, die klareren Worte fand: die „Ernsthaftigkeit des Glaubens” müsse sich auch in der Ethik widerspiegeln, bei Empfängnisverhütung, Embryonenforschung oder der Sterbehilfe.)

IV.

Benedikts positiv besetzte Schlüsselbegriffe Natur, Vernehmende Vernunft, das Hören des Herzens geben Anlass zu einem kurzen Blick in die Geschichte des Denkens. Dieser kleine Exkurs soll die kritische Würdigung der Grundlagen-Reflexionen des Papstes unterstützen.

Erinnert sei hier an die großen Philosophen der klassischen deutschen Philosophie von Kant bis Hegel. Auch sie haben mit der Differenz von Verstand und Vernunft unterschiedliche Dimensionen der Rationalität charakterisiert. Während der Verstand sich auf die Operationen des streng logischen Denkens und das empirisch überprüfbare Wissen über Sachverhalte erstreckt, eröffnet die Vernunft jene Deutungshorizonte, die es uns ermöglichen, das vom Verstand strukturierte empirisch Gegebene der Wirklichkeit auf sinnhafte Strukturen zu beziehen: Die Vernunft ist ein Allgemeines oder bezeichnet eine Allgemeinheit, die höherstufig und komplexer ist als der Verstand, die jedoch zu keinem Zeitpunkt von den sich um Vernunft bemühenden Subjekten end-gültig, ab-schließend, einvernehmlich versprachlicht werden kann. Stets bleibt die Ahnung eines Mehr, von etwas Überschießendem, eben: von uneingelösten Potentialen. Und von der anthropologischen Seite spielt die menschliche Irrtumsanfälligkeit hinein, die nicht außer Kraft zu setzen ist. In der christlichen Kirche hat man das sogar dogmatisiert, indem man – missverständlich – von der „Erbsünde” sprach. Immanuel Kant formulierte das Äquivalent dazu auf der anthropologischen Ebene: der Mensch unterliege unweigerlicheinem Hang zum radikal Bösen. Berühmt seine Formulierung, der Mensch sei aus sc krummem Holz geschnitzt, dass aus ihm nichts Gerades werden könne.

Dieser Irrtumsanfälligkeit wird kein politisches System besser gerecht als die mit sc vielen Brechungen des Entscheidungsprozesses operierende rechtsstaatlich verfasste Demokratie. In der Parlamentsrede allerdings wird deutlich, dass Benedikt kein Verständnis dafür aufzubringen vermag, dass der politische Prozess auch in ethisch relevanten Entscheidungsfragen auf Kompromisse angewiesen ist und dass sich in den Meinungsbildungsprozessen des Parlaments auch die fundamentale Tatsache spiegelt, dass die Grenze zwischen Rationalität und Irrationalität nicht immer gut erkennbar und scharf zu ziehen ist. Ein Mann der Kirche, der die „grundlegenden anthropologischer Fragen” ins Zentrum zu rücken beabsichtigt, muss über die konstitutionelle Korruptionsanfälligkeit des Menschen nicht belehrt werden. Aber er sollte zur Kenntnis nehmen, dass nur die Form des demokratischen Ringens um ethisch vertretbare Lösungen jenem anthropQlogischen Befund entspricht. Gerade die Parlamentsdebatte zur PIDGesetzgebung zeugte von einer respektvollen Ernsthaftigkeit des Ringens um da~ ethisch Richtige, der Benedikt – die Bedeutung des Gewissens so stark betonend– seine Hochachtung nicht versagen dürfte. Dass ihm dies vor dem Hohen Haus nicht in den Sinn kam, liegt natürlich daran, dass der Heilige Stuhl mit seinem „Naturrecht” vor und jenseits aller demokratischen Willensbildung ohnehin mit absoluter Gewissheit wgiß, was ethisch geboten und was verwerflich ist.

Den Wunsch des Königs Salomon, Gott möge ihm ein „hörendes Herz” verleihen, damit er unterscheiden könne zwischen Gut und Böse, hat Benedikt seinen Hörern eindringlich nahegebracht. (Auf einer anderen Sprechebene heißt dasselbe bei ihm: die Vernunft solle sich der „Weisung der Natur” bzw. der „Sprache des Seins” öffnen.) Beim Stichwort hörendes Herz ist der große Mathematiker, Physiker und homo religiosus Blaise Pascal aufzurufen, denn er hat dazu den berühmtesten Schlüssel-Satz formuliert, den Benedikt selbstverständlich kennt: „Das Herz hat seine Gründe, von denen der Verstand keine Ahnung hat” (Le coeur a ses raisons que la raison ne connait pas). „Herz” ist hier keineswegs ein sentimentaler Begriff, sondern er steht für die Berufung auf etwas zugleich höchst Subjektives und es steht für eine Instanz, die mit Gründen auf allgemeine Horizonte des Verstehens verweist, die keineswegs von der empirischen Mehrheit geteilt sein müssen. Herz und Gewissen zeigen an, dass es noch uneingelöste Vernunftpotentiale gibt, die je nach Fragestellung womöglich der Umsetzung in positives Recht harren. Erschließt sich im Herzen auch ein orientierender Vernunftbezug, so zeigt dieser Begriff aber zugleich eine höchst subjektive Seite an.

Jener große katholische Denker Pascal, der so nachdrücklich den Begriff des Herzens in den Mittelpunkt gestellt und die Spannung zur wissenschaftlich objektivieren-den Rationalität hervorgehoben hatte (an der er doch selbst an vorderster Front gearbeitet hat), gehörte seinerzeit einer katholischen Gruppierung – den Jansenisten – an, die schließlich vom Heiligen Stuhl als häretisch verurteilt wurde. Um zu dokumentieren, wie verwerflich das Denken dieser streng asketischen, an den Lehren des Hl. Augustinus ausgerichteten Gruppierung war (zu der sich große Logiker wie Nicole und Arnauld und Dichter wie Racine bekannten!), holte man sogar noch die Leichen der Verstorbenen aus den Gräbern, um sie zu schänden und so zu dokumentieren, dass nach Meinung Roms auf ihrer so ernsthaften Frömmigkeit kein Segen ruhte.

V.

Dass die Politik sich um Gerechtigkeit bemühen und so Voraussetzungen für den Frieden schaffen muss, ist eine triviale Feststellung. Allemal hätte dies der religiös nicht gerade musikalische (und auf dem kirchlichen Index der verbotenen Bücher geführte) Philosoph Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert auch sagen können. Der freilich meinte eindeutig den innerstaatlichen Rechtsfrieden. Welchen Frieden meint Benedikt?
Der Papst behauptet, Erfolg dürfe kein Maßstab für den Politiker sein. Aber wenn dieser sich um Gerechtigkeit und Frieden nach bestem Wissen und Gewissen bemüht, warum sollte ihm da, wie Benedikt behauptet, der Erfolg gleichgültig sein? Der Erfolg kann nicht der Grund für die Arbeit des Politikers sein, wie der Papst zurecht anmerkt, aber wo kämen wir hin, wenn der Erfolg nicht auch ein Maßstab zur Beurteilung der Arbeit eines Politikers wäre? Gern hätte man von Benedikt auch eine Geschichte gehört, die erläutert, wie es sein kann, dass der Erfolg „den Weg auftut für die Verfälschung des Rechts, für die Zerstörung der Gerechtigkeit”.

Wohl bezieht sich Benedikt immer wieder auf die Macht des Politikers, doch gelegentlich weitet er den Blickwinkel und thematisiert die durch die Expansion wissenschaftlicher Innovationen hervorgetriebene Macht des Menschen über sich selbst. Dem Menschen sei eine Macht zugefallen, „die bisher nicht vorstellbar war”. Der Mensch konnte bisher in der Welt vieles zerstören – nun kann er „die Welt zerstören”. Dieser Gedanke indessen bleibt in der Rede am Rande. Vielmehr ausschlaggebend ist der zweite Gesichtspunkt: der Mensch „kann sich selbst manipulieren”. „Er kann sozusagen Menschen machen und Menschen vom Menschsein ausschließen.” An dieser Stelle führt Benedikt die Unterscheidung von Recht und Scheinrecht ein. Und weist hin auf Salomons Bitte nach der Gewährung eines hörenden Herzens. Benedikt sieht in Deutschland die Integrität des Rechts gefährdet– sonst machten seine mahnenden Worte keinen Sinn. Nun weiß jeder Bürger, lernt jedes Erstsemester in Rechts- und Politikwissenschaft, dass die Mehrheit im demokratischen Rechtsstaat nicht beliebig über die Würde des Menschen verfügen kann. Grenzen von Mehrheitsentscheidungen sind im Grundgesetz festgelegt und werden durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf subtile Weise dogmatisch ausgelegt. Immer wieder neu kontrolliert das Verfassungsgericht unter diesem Gesichtspunkt Entscheidungen des Gesetzgebers. Was also möchte Benedikt noch mehr? Wo sieht er die Defizite?

An dieser Stelle schiebt Benedikt eine interessante historische Reminiszenz ein, von der man nicht weiß, ob sie unterschwellig Aufforderungscharakter hat. Origenes, ein Theologe des 3. Jahrhunderts, hatte sich gefragt, wie Christen in einem fremden nicht-christlichen Gemeinwesen sich verhalten sollten, wenn sie der Auffassung wären, dass die Gesetze dieses Gemeinwesens (im konkreten Beispiel: der Skythen) nicht mit den christlichen Normen vereinbar seien. Antwort: Der Christ würde „wohl sehr vernünftig handeln, wenn er im Namen des Gesetzes der Wahrheit, das bei den Skythen ja Gesetzwidrigkeit ist, zusammen mit Gleichgesinnten auch entgegen der bei jenen bestehenden Ordnung Vereinigungen bilden würde …”. Ausdrücklich erklärt der Papst, es gehe ihm bei diesem Beispiel um „den Widerstand der Christen gegen bestimmte weltliche Rechtsordnungen”. – Warum erzählt Benedikt diese Geschichte? Er verweist zunächsi auf den Widerstand gegen das Naziregime und gegen andere totalitäre Regime. Aber war die Überzeugungsgrundlage jener Männer und Frauen wirklich eine christliche? In vielen Einzelfällen: ja! In vielen Einzelfällen: nein! Schließlich haben die Kirchen sich schwergetan mit Priestern und Pfarrern, die, allein ihrem Gewissen folgend, die Haltung ihrer jeweiligen Kirchenautoritäten ignorierten und den Opfertod riskierten und erlitten. Die Amtskirchen hatten sich schließlich, vorsichtig gesprochen, opportunistisch gezeigt, wenn sie nicht gar phasenweise zur Zusammenarbeit mit dem Regime bereit waren. Die Selbsterhaltung der Institution war über weite Strecken den Kirchen wichtiger als die Solidarität mit den Verfolgten. Aber auf diesen Schlenker und die historisch diffuse Realitätsbe~chreibung kommt es Benedikt ja offensichtlich gar nicht an. Denn im Fokus steht der demokratische Politiker. Er soll sich fragen, was nun dem Gesetz der Wahrheit entspreche, was wahrhaft Recht sei.

Der Hörer/Leser sieht sich hier mit der wiederkehrenden Formel Gesetz der Wahrheit konfrontiert. Wahrheit ist normalerweise auf Sätze über Sachverhalte bezogen. Und es fällt schon schwer, das Sprachspiel wahres Gesetz versus falsches Gesetz nachzuvollziehen. Eher sind wir doch geneigt, von richtig und falsch in diesem Zusammenhang zu reden, und auch dies ist noch zu wolkig. Vorzüglich sprechen wir doch von einem guten oder einem schlechten Gesetz. Und ein gutes Gesetz ist dann ein solches, welches die mit ihm verbundenen Gestaltungsabsichten optimal verwirklicht (und nicht vom Gesetzgeber andauernd „nachgebessert” werden muss). Diese Optimierung in der Gesetzesformulierung ist freilich schwerlich das Gesetz der Wahrheit, das Benedikt in seiner Rede umkreist. Wahrheit ist offenkundig hier als eine metaphysische ,Größe‘ gemeint, der angeblich eine bestimmte Gesetzgebung zu entsprechen hat. Also muss in Erfahrung gebracht werden, was hier eigentlich Wahrheit heißt. Ist damit so etwas wie eine Grundnorm gemeint? Meint es einfach und klar: den Willen Gottes? Nur, dass es Benedikt angemessener erscheint, im säkular-pluralistischen Kontext eines Parlaments lieber „Wahrheit” an Stelle von „Gott” zu sagen?

Offenkundig sieht Benedikt die Verbindung von Wahrheit und Recht in einem Naturrecht aufgehoben, wie es in der katholischen Kirche vertreten wird. Er beklagt den Befund, dass im letzten halben Jahrhundert sich eine dramatische Veränderung der Situation zugetragen habe. „Der Gedanke des Naturrechts gilt heute als eine katholische Sonderlehre, über die außerhalb des katholischen Raums zu diskutieren nicht lohnen würde, so dass man sich schon beinahe schämt, das Wort überhaupt zu erwähnen.” Der Parlamentarier hörte es, aber er erfuhr über dieses eigentümliche Naturrecht wenig Greifbares, auch wenn der Natur-Begriff so dominant die Rede-Szene beherrschte. Allemal ahnte er (hoffentlich), dass hier ein massiver Angriff auf die normativen Grundlagen der Mehrheitsdemokratie und ihrer Rechtsfindungsprozesse vorgetragen wurde.
Nach allem dürfte Benedikts Rede in der zukünftigen Arbeit des deutschen Gesetzgebers schwerlich erkennbare Spuren hinterlassen. Und das ist, wie sich in dieser kritischen Auseinandersetzung gezeigt hat, wahrlich nicht zu bedauern.

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