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Der europa­po­li­ti­sche Januskopf der Sozial­de­mo­kratie

aus: Vorgänge 196 ( Heft 4/2011), S.78-85

Die Folgen der Wirtscharts- und Finanzkrise sind paradox, zumindest mit Blick auf Europa. Nachweislich hat durch die anhaltende Berichtsschwemme über die drohende Pleite von immer weiteren Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und die Gefahren, die davon auch für die einheimischen Sparer ausgehen, durch die Krisengipfelkonjunktur der Staats- und Regierungschefs sowie die Undurchschaubarkeit der gesamten Diskussion für den einfachen Durchschnittsbürger, das Misstrauen gegenüber der europäischen Integration zugenommen. Am Nutzen des Einigungsprojektes zweifelt selbst die Bevölkerung der Krisenstaaten, da sie sich durch ein drastisches, von außen aufoktroyiertes Sanierungsprogramm kujoniert sieht.

Gleichzeitig aber ist das Interesse an Europa markant gewachsen. [1] Der Staatenverbund ist seiner politischen Schattenexistenz entwachsen, er ist in der öffentlichen Debatte wichtig geworden – und im wettbewerbsdemokratischen Parteienstaat ist wichtig gleichbedeutend mit umstritten. Vielleicht wird das nirgendwo deutlicher als in Deutschland. Jahrzehntelang waren hierzulande europäische Fragen insgesamt und grundsätzlich wenig kontrovers. Die Europapolitik eignete sich nicht zur Mobilisierung, sie spielte daher in Wahlkämpfen allenfalls eine nachrangige Rolle, Weichen stellende europäische Vertragswerke passierten den Bundestag regelmäßig mit breiter, Lager übergreifender Zustimmung.

Die Schimäre des Inter­na­ti­o­na­lismus

Das ist nun spürbar anders geworden, wie nicht zuletzt der jüngste Bundesparteitag der SPD und die dort gezeigte, teilweise irrationale, jedenfalls gänzlich unkritische Begeisterung, mit der die Delegierten Helmut Schmidts Europa-Rede zu Beginn der Zusammenkunft quittierten, indizieren. Die Europapolitik nahm auf dem sozialdemokratischen Delegiertentreffen – und vielleicht noch stärker in der Berichterstattung über den Parteikonvent – eine prominente Rolle ein. Unverkennbar war der Versuch der Sozial demokraten, sich als Europapartei zu profilieren. Mit der Idee des Internationalismus verfügt die sozialdemokratische Parteienfamilie zudem über eine Traditionslinie, die ihre Rolle als natürliche Sachwalterin europäischer Gemeinschaftsinteressen historisch zu verbürgen und die Solidarität mit in Not geratenen EU-Mitgliedsstaaten nahe zu legen scheint.

Indes: Wirklich transnational gesinnt war die Sozialdemokratie nur in Zeiten der Machtlosigkeit, dezidiert internationalistisch erst recht war ihr Reden und vor allem Tun bloß dann, wenn sie von der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt wurde und in Fundamentalopposition zum bestehenden System stand. Diese Regel zeigte sich nicht bloß im Vorfeld des Ersten Weltkrieges, sie bestätigte sich auch in der jüngeren Vergangenheit – und zwar in Deutschland nicht anders als im europäischen Ausland. In den Regierungsjahren, resümiert Christian Krell seine Analyse über die Europapolitik der britischen, französischen und deutschen Sozialdemokratie in den 1980er und 1990er Jahren, „zeigt sich bei allen drei Parteien eine stärker instrumentell geprägte Perzeption der EG/EU, als dies über weite Strecken der Oppositionsphasen der Fall war.“[2] Nun könnte ketzerisch formuliert werden, dass die Zeit gegenwärtig für mutige pro-europäische Visionen und ganzheitliche sozialdemokratische Forderungskataloge zur Vertiefung der europäischen Integration insofern wieder günstig sei. Schließlich sind Sozialdemokraten im Dezember des Jahres 2011 nur in drei von 27 EU-Mitgliedsstaaten an der Regierung beteiligt.

An einen möglicherweise bevorstehenden Pendelrückschlag aber, der in den kommenden Jahren wieder vermehrt Sozialdemokraten in Regierungsämter tragen und binnen zwei Jahren mit Deutschland und Frankreich auch in europäischen Leitstaaten die Exekutive politisch umfärben könnte, sollten dennoch allenfalls sehr moderate Erwartungen gerichtet werden. Jedenfalls belegt eine vergleichende Betrachtung der Europapolitiken sozialdemokratischer Parteien, dass sie – durch internationalistische Ideale aus der Frühzeit der Arbeiterbewegung unberührt – in den letzten drei Jahrzehnten Souveränitätsübertragungen an die europäische Ebene verlässlich abgelehnt haben, dass sie stattdessen europapolitisch Befürworter des Subsidiaritätsprinzipsnnd also Proponenten der Regelungskompetenz möglichst kleiner Einheiten waren – und insofern folgerichtig nicht selten auch mit der Forderung hervortraten, einzelne Politikbereiche wieder zu renationalisieren, d. h, in den Einflussbereich der Nationalstaaten zurück zu übertragen.

In der historischen Rückschau zeigen sich weitere Charakteristika sozialdemokratischer Europapolitik, welche die aktuell zur Schau gestellte Europaeuphorie relativieren: Mit Stellungnahmen zugunsten der EU wurden von sozialdemokratischen Parteien häufig europafremde Zwecke verfolgt, sei es, dass eine wählerwirksame Abgrenzung vom politischen Gegner aus der Oppositionsrolle heraus gesucht oder die europäische Integration als nützlicher Rahmen zur besseren Verfolgung nationaler Interessen instrumentalisiert wurde. Letzteres war dann zumeist bei sozialdemokratischen Parteien in Regierungsverantwortung der Fall. Einmal abgesehen davon, dass die europäische Bühne nicht selten schlicht als Rahmen für öffentlichkeitswirksame Auftritte diente – und unabhängig auch von der Tatsache, dass Europapolitiker bzw. Mandatare des Europaparlamentes in ihren nationalen sozialdemokratischen Parteien nur in den seltensten Fällen Gewicht, Relevanz, Machtressourcen besaßen. Jedenfalls: Dass „sozialdemokratische Parteien aufgrund ihrer programmatischen und organisatorischen Tradition besonders geeignet sind, in ähnlicher Weise eine integrationsbefördernde Rolle im europäischen Einigungsprozess einzunehmen“, wird durch Krells schon zitierte Studie „deutlich in Frage gestellt“.[3] Stattdessen erweisen sich sozialdemokratische Parteien europapolitisch als weitgehend austauschbar mit den anderen etablierten Parteien ihrer Länder, scheinen die größten Differenzen nicht von der Zugehörigkeit zu einer Parteifamilie oder einem politischen Lager auszugehen, sondern von den Eigenarten der staatlichen Institutionenordnung, den prägenden Zügen der nationalen politischen Kultur und zentralen Aspekten des Parteienwettbewerbs.

Im Übrigen ist es selbst mit den Gemeinsamkeiten zwischen den sozialdemokratischen Parteien nicht so weit her. Je näher man hinschaut, umso weiter reichend sind die Differenzen selbst dort, wo sich die Sozialdemokratien auf ein gemeinsames Wertefundament berufen. Die Vorstellungen, die sie etwa mit dem Schlagwort „Internationalismus” verbinden, variieren deutlich voneinander, einheitliche Politikpräferenzen schon gar ergeben sich aus der Berufung auf eine internationalistische Perspektive nicht. So muss die gegebene Form der europäischen Einigung aus internationalistischer Perspektive keinesfalls begrüßt werden, was bei der britischen Labour Party besonders signifikant ist, deren Repräsentanten die integrationskritische Haltung der Partei zu Beginn der 1980er Jahre gerade mit dem Verweis auf ihren Internationalismus begründeten.

Britische Bremser­rolle

Überhaupt zeigt sich mit Blick auf die Labour Party, wie schwierig eine europäische Handlungseinheit auch von sozialdemokratischen Regierungen herzustellen wäre. Die britischen Wähler sind ausgesprochen europaskeptisch, die Gründe für ihre Abwehrhaltung gegen Europa reichen von der Ablehnung der Brüsseler Bürokratie und Arroganz bis hin zu gegensätzlichen Auffassungen zwischen England und Europa über die eigene Lage in der globalisierten Welt. Die Briten sind sich vielfach selbst genug, sie haben über den Wandel der Zeitläufe ein insulares Selbstbewusstsein konserviert, das keine Marginalisierungsängste kennt, die denen der politischen Eliten Kontinentaleuropas vergleichbar wären, denen eine europäische Gemeinsamkeit die Verteidigung der gewohnten globalen Bedeutung auch in Zukunft zu garantieren verspricht[4] Zwar gilt die Labour Party in Großbritannien selbst als europafreundlich, dieser Eindruck ist aber ganz wesentlich dem politisch-kulturellen Umfeld geschuldet, einer weit überwiegend europakritischen Bevölkerung und dezidiert EU-aversen Tones. Wenn sich Labour-Politiker für die europäische Integration aussprechen, dann ist diese Fürsprache stets mit starken nationalen Beiklängen verbunden. So wie im Programm für die Unterhauswahlen im Jahr 2010, wo es hieß: „Wir glauben, dass Großbritannien in der Welt stärker ist, wenn die Europäische Union stark ist, und dass Großbritannien Erfolg hat, wenn es in Europa führt“[5].

Daher – und obwohl namentlich Tony Blair zu seiner Zeit als der „europafreundlichste britische Premierminister seit Jahrzehnten“[6] galt – ist die britische Labour Party bis heute in vielfacher Hinsicht eine Ausreißerin aus der europafreundlichen Durch-schnittslinie der Sozialdemokratien. Während aktuelle Umfragen zu dem Ergebnis kommen, dass die französische PS und die deutsche SPD der EU eine hohe Bedeutung zuschreiben und verlässlich pro-europäisch sind, ist Labour die sozialdemokratische Partei, die zum einen in der EU am stärksten eine reine Wirtschaftsinstitution sieht, und zum anderen die einzige Sozialdemokratie, die eine Verhandlung der Sozialrechte auf europäischer Ebene ausdrücklich ablehnt.[7] Gegen eine fortschreitende Vertiefung der europäischen Integration sind auch Labours beinahe schon traditionelle Plädoyers für eine Erweiterung der EU nach dem Motto „Weiter, aber nicht tiefer” gerichtet .[8] Es verwundert insofern nicht, wenn im Herbst 2011 über die gegenwärtige Europapolitik Labours geurteilt wurde, in den vergangenen zwölf Monaten sei von der Partei über die Zukunft Europas und der Eurozone wenig bis nichts zu hören gewesen – und zu europarelevanten Fragen, wie dem ungesunden Verhältnis von (aufgeblasener) Finanzindustrie und (verkümmertem) Industriesektor in der britischen Wirtschaft, habe Labour nur unklare Phrasen zu bieten.[9]

Europa­di­stanz der Arbeiter­schaft

Die Differenzen zwischen den sozialdemokratischen Parteien in Deutschland, Frank-reich und Großbritannien sind aufschlussreich. Sie weisen darauf hin, dass die Unter-schiede in den Auffassungen über Europa und seine Bedeutung nicht nur mit Bezug auf die Oppositions- oder Regierungsphasen bestehen. Auch die Sozialstruktur der nationalen Parteien drückt sich in den greifbaren Variationen der europapolitischen Positionen und Prioritäten aus. Denn mit den verschiedenen sozialen Gruppen, die in einer Partei besonders prägend oder für diese besonders wichtig sind, verschieben sich zwangsläufig auch die Wahrnehmungen von Europa. Während für gut ausgebildete Hochverdiener der europäische Wettbewerbsraum grundsätzlich und auch für das eigene Leben positiv konnotiert und angenommen wird und die von einem national übergreifendem Wirtschaftszusammenhang geforderten Flexibilitäten im Privaten schon längst gelebt werden, sieht dies aus der Perspektive der gesellschaftlichen Souterrains ganz anders aus. Denn hier befindet man sich oft am unteren Ende des ökonomischen Kreislaufs, fühlt sich subjektiv den Wettern der wirtschaftlichen Krisen schutzlos ausgesetzt. Und so sehr auch die sozialdemokratischen Politikrhetoriken bezüglich einer Erweiterung und Ergänzung der europäischen Einigung um eine soziale und politische Union diese Ängste zu adressieren versuchen – die Europäische Union steht gerade in Arbeiter- und Arbeitslosenkreisen, bei den niedrig Gebildeten und sozial schlechter Abgesicherten immer noch im Verdacht, ein neoliberales Projekt zu sein, welches auf Flexibilisierung und Liberalisierung der Arbeits-, Finanz- und Steuerpolitik abzielt und das mit schöner Regelmäßigkeit das eigene Auskommen der Konkurrenz durch immer mehr andere „Europäer” aussetzt.[10]

Die Schicht- und Statusunterschiede in den Wahrnehmungen Europas spiegeln sich auch in den unterschiedlichen Europa-Positionen der sozialdemokratischen Parteien wider. Je stärker sich eine nationale Sozialdemokratie noch in einer Traditionslinie mit der Arbeiterbewegung und als deren Organ betrachtet, je mehr sie in ihrer Mitglieder- und Wählerstruktur (noch) von Arbeitern und niedrig Gebildeten geprägt ist, umso stärker rücken die Schutzaspekte in den Vordergrund, mit denen besonders sozial schwache Gruppen im europäischen Einigungsprozess begleitet und abgesichert werden sollen. Und umso stärker bleiben auch europaskeptische Töne sichtbar, die sich gegen eine fortschreitende Integration wenden.

Die vergleichsweise starke Verflechtung mit ihrer Traditionsklientel dürfte insofern einer der wesentlichen Gründe für die diagnostizierte Distanz der britischen Sozialdemokratie zum europäischen Staatenverbund sein. Jedenfalls ist diesseits aller auch für die Labour Party konstatierten Bedeutungsgewinne der mittleren bis gehobenen Bildungs-, Berufs- und Einkommensgruppen in der Parteimitgliedschaft der Einfluss der Gewerkschaften auf die Politikformulierung durchweg höher als in den Schwesterparteien Deutschlands und Frankreichs. Auch ist der Anteil der Arbeiter unter den Labour-Mitgliedern mit 15 Prozent unverändert höher als in der deutschen SPD mit knapp zehn und schon gar in der französischen PS mit nur fünf Prozent. Zumal für die britische Sozialdemokratie eine deutliche Diskrepanz zwischen mittigen Mitgliedern und einer viel traditionelleren, formal geringer gebildeten, arbeiterlastigeren und statusärmeren Wählerschaft kennzeichnend ist.

Auf der anderen Seite bleiben Parteien mit in Politikorientierung, Mitgliedersozialstruktur und Wählerschaft deutlich „mittigeren” Charakteristika offener und affirmativer gegenüber dem Themenkomplex Europa. Dies aber nicht aus dem Traditionsargument des Demokratischen Sozialismus heraus, dass nur internationale Zusammenschlüsse der Unterdrückten Druck auf das ebenfalls international organisierte Kapital auszuüben vermögen, sondern aus der Lebenssituation und Daseinserfahrung ihrer Mit-glieder und Anhänger begründet: Die französische PS beispielsweise ist nie eine Partei der Arbeiter im Wortsinne gewesen, sie ist es allerdings heute weniger denn je, da sich in ihr überwiegend leitende Angestellte und die Angehörigen des öffentlichen Dienstes sammeln. Zu den gerade einmal fünf Prozent Arbeiter in der Mitgliedschaft kommen nur etwa zehn weitere Prozent einfache Angestellte hinzu.[11] Eine Partei der „Neue[n] Mittelschichten mit Tendenz zum Elitismus” – so charakterisierte die Politikwissenschaftlerin Ina Stephan auf prägnante Weise die PS.[12]

Diesen Menschen ist Europa aber kaum je zur Bedrohung, ist die EU nicht als Rationalisierungsagent und Flexibilitätsapostel gefährlich geworden. Für sie bedeuteten die Erweiterung des Wirtschaftsraumes, die Zollunion und das Schengen-Abkommen alle-samt Zuwächse an Möglichkeiten, sei es zum Reisen, zum Studieren in anderen Ländern oder eben mit Blick auf die Freiheit zur Auswahl der möglichen Arbeitgeber. Und so verwundert es nicht, dass gerade die PS mit oft prononciert europafreundlichen Positionen auftritt.

Auch die SPD lässt an ihrer Unterstützung für die europäische Integration nicht zuletzt aus sozialstrukturellen Gründen keine Zweifel aufkommen, denn auch für die deutschen Genossen haben die Wurzeln in der Arbeiterbewegung nurmehr eine folkloristische Funktion zur Besinnung bei Parteiabenden und geselligen Veteranentreffen. Als Schutzpatron der einfachen Leute, Geringqualifizierten und Facharbeiter vor den Unwägbarkeiten der ökonomischen Krisen und Entwicklungen außerhalb des eigenen Horizonts jedenfalls tritt die SPD kaum noch auf- es gibt mittlerweile auch einfach viel zuwenige Parteimitglieder, welche Einblicke in die Lebenswirklichkeiten, Nöte und Sozialmoralen im gesellschaftlichen Unten besitzen und die dort grassierenden, individuell oft völlig rationalen Ängste nachvollziehen können.

Eine neue Erzählung für Europas Sozial­de­mo­kra­tie?

Gleichzeitig aber war es in den letzten zwei Jahrzehnten unverändert so, dass sich die Erfolgsrezepte sozialdemokratischer Wahlerfolge nicht grundlegend gewandelt haben. Alle großen sozialdemokratischen Wahlsiege der letzten Jahrzehnte gründeten auf einer elektoralen Verbindung der sozialen Mitte mit den Unterschichten. Nur durch eine pro-grammatische, stilistische und rhetorische Verknüpfung der Ansprache dieser beiden Bereiche der’Gesellschaft konnte die Sozialdemokratie mehrheitsfähig werden. Tony Blairs New Labour 1997, die „Innovation und Gerechtigkeit” Schröders und Lafontaines, die Wahlsiege Zapateros in Spanien – dies wurde erreicht durch eine Versicherung, ökonomische Prosperität schaffen zu können, sie zum Wohle des Einzelnen zu nutzen und durch Absicherung und Verteilung zu flankieren. Auch im Hinblick auf die Europapolitik in der Krise liegt ein politisches Erfolgsrezept für die Sozialdemokratie sicherlich in der Verknüpfung der Ängste und Hoffnungen dieser beiden sozialen Pfeiler der europäischen Gesellschaften, d. h. Sozialdemokraten müssen die Ängste in den sozialen Souterrains ebenso wie die Hoffnungen und Erwartungen in der gesellschaftlichen Mitte ansprechen.

Wie dies in den postmodernen und postindustriellen Gesellschaften zu leisten ist, darüber gibt es v. a. im Umfeld der britischen Labour Party intensive Diskussionen. Unter wechselnden Farbüberschriften – zunächst Blue Labour, später kam Purple Labour hinzu – wurden zuletzt Aspekte konservativer, sozialdemokratischer, sozialistischer wie kommunitaristischer Politik aufgegriffen und zu neuen Synthesen vermischt.[13] Zum einen geht es bei diesen Konstrukten um eine zeitgemäße Definition von Freiheit als zentraler Vokabel sozialdemokratischer Politikanstrengungen. Gerade der Freiheitsbegriff ist in seiner ökonomischen Bedeutung vom Neoliberalismus derart überstrapaziert worden, dass man ihn letzten Endes kaum mehr als sozialdemokratischen Kernbegriff verstehen konnte. Die Verbindung der Capability-Ansätze des Ökonomen und Philosophen Amartya Sen[14] mit dem positiven Freiheitsbegriff von Philip Pettit[15], der von Jose Luis Zapatero in Spanien aufgegriffen worden ist, besitzt für die Sozialdemokratien Europas Potential. Sen und Pettit definieren Freiheit (und Gerechtigkeit) nicht – wie die Neoliberalen – als Abwesenheit von Zwängen, sondern als die Möglichkeit, selbstbestimmt und in Würde, ohne Unterdrückung seine eigenen Lebensentwürfe verwirklichen zu können. Auch Tristram Hunt greift in seinem Beitrag zu Purple Labour genau diese positive Begriffsfüllung auf und fordert, sich nicht mehr drängen zu lassen, zwischen Freiheit und Gleichheit zu entscheiden.[16] Auf die sozialdemokratische Aufgabe gemünzt, die gesellschaftliche Mitte mit den sozial schwächeren Schichten zu verbinden, böte eine solche Freiheitsdefinition die Chance, ökonomische Prosperitätspolitiken mit einer Absicherungs- und Schutzpolitik für die ökonomisch und sozial Exponierten zu verbinden.

Aber auch wirtschaftspolitisch und mit Blick auf die dem Staat zugewiesene Rolle im Gemeinwesen sind die britischen Diskussionen inspirierend. Denn eine heute und in Zukunft erfolgreiche sozialdemokratische Wirtschafts- und Haushaltspolitik müsste — wiederum nach Hunt — in zwei Aspekten der veränderten Weltlage nach der Wirtschafts- und Finanzkrise entsprechen. Zunächst sei der Staat als direkte Interventionsund Schutzkraft in der gegenwärtigen Krise an seine Leistungsgrenze gestoßen, vielleicht gar bereits überdehnt worden. Eine glaubwürdige und überzeugende sozialdemokratische Politik müsse dem Rechnung tragen und andere Wege und Formen der Absicherung und Schutzmöglichkeiten, aber eben auch der Wirtschaftsförderung suchen. Der Blick in die eigene Bewegungshistorie mit ihrer Vielzahl an Assoziationen und Genossenschaften sei da für eine erneuerte Wirtschaftsordnung viel versprechend, auch um Marktungleichgewichte auszugleichen. Es gehe freilich nicht darum, jeglichen staatlichen Eingriff aufzugeben, sondern um eine Konzentration auf das Wiederentdecken der eigenen „Mission”, des individuellen Beitrages zur wünschenswerten Gesellschaft.[17] Bekenntnisse zur Subsidiarität, die Ermächtigung kleiner Einheiten und Hilfestellungen bei der Selbstorganisation könnten für Europa einen gangbaren Weg aus der gegenwärtigen Zustimmungs- und Vertrauenskrise weisen.

Als zweites aber, und darin stimmen die meisten der Diskutanten — unabhängig von ihrer Farbpräferenz für eine blaue oder violette Sozialdemokratie — überein, bleibt als Resümee der Wirtschaftskrise, dass für die nächsten Jahre — vielleicht Jahrzehnte — die Frage der Budgetpolitik der Dreh- und Angelpunkt einer glaubwürdigen Wirtschaftspolitik sein wird. Hier die Emotionen und Unsicherheiten aufzugreifen und ernst zu nehmen, als Sozialdemokratie ein neues Konzept des Staates als Lender of last resort, als Kreditgeber letzter Instanz jenseits von expansiver Finanzpolitik zu entwickeln, scheint unabdingbar zu sein.

Insofern müsste es für die sozialdemokratische Europapolitik der kommenden Zeit darum gehen, die Schutzfunktionen einer übernationalen Einheit — wie bisher ja schon — zu betonen, sie aber auch neue Wege gehen und die alte Interventionsfixierung hinter sich zu lassen. Denn drei Dinge müsste ein zukünftiges Europa für die Sozialdemokratie leisten können: Es müsste den Schwachen Schutz garantieren; es müsste eine Institution sein, die für eine prosperierende ökonomische Zukunft bürgt. Und es müsste in einer Art und Weise verfasst sein, die eine Überdehnung analog zur momentanen Schuldenkrise möglichst verhindert. Viel Arbeit im (umstrittenen) Detail für Europas Sozialdemokraten.

[1] Vgl. Ulrich, Bernd: Oh Gott, die EU wird spannend! in: Zeit, 08.12.2011.
[2] Krell, Christian: Sozialdemokratie und Europa. Die Europapolitik von SPD, Labour Party und Parti Socialiste, Wiesbaden 2009, S.399.
[3] Krell, Christian: Sozialdemokratie und Europa. Die Europapolitik von SPD, Labour Party und Parti Socialiste, Wiesbaden 2009, S.487.
[4] Vgl. Leithäuser, Johannes: Glücklich isoliert, in: FAS, 11.12.2011.
[5] Zit. in o. V., Tones und Labour präsentieren unterschiedliche Standpunkte zu EU, in: http://www. euractiv.com/de/prioritaten/tories-und-labour-praesentieren-unterschiedliche-standpunkte-zu-eunews-445005 [zuletzt eingesehen am 15.12.2011],
[6] Foa, Roberto: Ist ein Sieg der Labour Party auch ein Gewinn für Europa?, in: http;l/www.cafebabel.de/article/13699/ist-ein-sieg-der-labour-party-auch-ein-gewinn-fur-europa.html [zuletzt eingesehen am 15.12.2011]).
[7] Vgl. Schlote, Sara: Auf einer Linie? Vorstellungen der europäischen Sozialdemokratie zur Gestaltung Europas und der Globalisierung, in: FES IPA, Dezember 2011.
[8] Krönig, Jürgen: Großbritannien nach Labour, FES IPA, Mai 2010, S.7f.
[9] Vgl. Lawson, Neal/Spiegel, Karl-Heinz: Jahresbilanz für einen Hoffnungsträger, FES IPA, Septem- ‚ ber 2011, 5.4.
[10] Vgl. hierzu auch grundlegend Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas: ein Essay, Berlin 2011.
[11] Vgl. Udo Kempf, Das politische System Frankreichs, Wiesbaden 2007, S. 188; Ina Stephan, Die
Parti Socialiste, in: Sabine Ruß u. a. (Hrsg.): Parteien in Frankreich. Kontinuität und Wandel in der
V. Republik, Opladen 2000, 5.147 – 171, hier 5. 165.
[12] Stephan, Die Parti Socialiste, S. 165.
[13] Vgl. dazu die Bücher: Philip Blond, Red Tory. How Left and Right have broken Britain and how we can fix it, London 2010; Robert Philpot (Hrsg.): The purple book. A progressive Future for Labour, London 2011; Rowenna Davis, Tangled up in Blue. Blue Labour and the Struggle for Labour’s Soül, 2011.
[14] Vgl, hierzu Amartya Sen, Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München 2007, S. 94f.
[15] Vgl. Jose Luis Marti / Philip Pettit, A Political Philosophy in Public Life. Civic Republicanism in Zapatero’s Spain, Princeton 2010, S. 73.
[16] Vgl. Tristram Hunt, Reviving our sense of mission: designing a new political economy, in: Philpot, The purple book, S. 61 – 79.
[17] Vgl. ebenda.

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