Publikationen / vorgänge / vorgänge 196: Was will Europa?

Die Kriese als Chance nutzen

aus: Vorgänge 196 ( Heft 4/2011), S. 71-77

Totgesagte leben länger. Der Euro war tot, bevor er eingeführt wurde. Er galt als kränkelnde Frühgeburt und sprengte doch alle Erwartungen. Der 10. Jahrestag des Beginns der Währungsunion konnte freudig begangen werden, weil wirtschaftliche und monetäre Entwicklungen positiv waren: Wirtschaftswachstum und Beschäftigung, Inflationsrate und Wechselkursstabilität sowie die internationale Rolle des Euro unterstrichen die positiven Aspekte der Einführung einer gemeinsamen Währung.

Die Erfolgsbilanz von 10 Jahre Euro am 1. Januar 2009 war eindrucksvoll. Nach wie vor sind der Binnen- und Außenwert des Euro stabil. Die Bilanz 10 Jahre Einführung Euro-Bargeld am 1. Januar 2012 ist dennoch traurig, weil trotz aller Erfolge der Euro-Währung das Vertrauen in die Zukunft der Europäischen Integration abhanden gekommen ist. Geld mit seinen wichtigen Funktionen als Zahlungsmittel, Wertaufbewahrungsmittel, Wertmaßstab und Recheneinheit ist auf Vertrauen angewiesen, auf das Vertrauen der Märkte genauso wie auf das aller Bürgerinnen. Das fehlende Vertrauen ist kein Defizit der Konstruktion Euro-Raum. Mit dem Beginn der 2. Stufe war es bereits den nationalen Notenbanken verboten, für Not leidende Regierungen Geld zu drucken, wie das unter Reichspräsident Brüning in Deutschland noch möglich war. Ausgerechnet diejenigen Staaten. wie Großbritannien und die USA, die in der Krise genau die Fehler der Vergangenheit wiederholen, werden von den Finanzmärkten mit exorbitant niedrigen Zinsen für ihre Staatsanleihen belohnt, die eines Tages von den Bürgerinnen bezahlt werden müssen.

Viele Staaten haben über ihre Verhältnisse gelebt und ihre Staatsschulden in eine Größenordnung getrieben, die sie in Schwierigkeiten bringen. Der Euro- Raum ist bei Weitem nicht auf dem Verschuldensniveau von Japan, den USA und Großbritannien. Das Casino-Spiel der Finanzmarktakteure und Rating-Agenturen macht wieder einmal deutlich: es geht nicht um solide Volkswirtschaften und Staatsfinanzen, sondern um Gewinne, die erpresst werden können. Die Fakten belegen: Japan und die USA haben deutlich höhere Schulden als die Euro-Zone (87.7 Prozent Euro-Zone, USA 98.3, Japan 236.1 Prozent). Die Euro-Staaten bauen ihre Defizite schneller ab als die USA (60 Prozent zu 11.2 Prozent). Die Problemstaaten der Euro-Zone sparen stärker als die USA und bauen die Arbeitslosigkeit stärker ab als die USA. Den USA, Japan und Großbritannien vertrauen die Finanzmärkte, weil die Notenpresse sie jederzeit bedienen kann. Der Euro-Raum mit seiner wichtigen Disziplinierung ist für sie kein sicherer Hafen für spekulative Gewinne.

Die Euro-Krise ist keine Krise des Euro, sondern eine tief greifende Krise des Vertrauens in die politische Klasse und in die Zukunft der europäischen Integration. Es ist sicherlich richtig, dass die Krise in Griechenland Deutschland weniger berührt hätte, wenn Griechenland nicht Mitglied der Eurozone geworden wäre. Aber gerade Deutschland steht diese Kritik schlecht an, weil Deutschland an Griechenlands EU-Beitritt mit Milliarden-Aufträgen und Finanzgeschäften verdient hat und die Bundesregierung eine schnelle kostengünstige Beilegung der Griechenland-Krise mit Rücksicht auf Landtagswahlen verunmöglicht hat.

Darüber hinaus: die Daten und Fakten lassen den Euro-Raum besser aussehen, als die Finanzmärkte und Rating-Agenturen sagen. Die Fundamentaldaten der Euro-Zone waren niemals ein Grund für rationale Bewertungen durch die Finanzmärkte. Trotz der soliden wirtschaftlichen Fundamentaldaten rutschte der Außenwert des Euro auf den ach so rationalen Finanzmärkten kurz nach seiner Einführung auf unter 90 Cent, nur um auf das fast Doppelte zu klettern. Doch so verrückt wie zuvor zwischen US Dollar und D-Mark, deren Wechselkurs zwischen 1:1,36 und 1:4,21 schwankte, ging es seit Einführung des Euro nicht zu. Die Stabilität in den Währungsrelationen der europäischen Wirtschaft und damit auch der Beschäftigung genützt. Von 15 Millionen neuen Arbeitsplätzen dank des Euro spricht die EZB.

Eine Währungs­u­nion ohne politische Integraton

Mit dem Vertrag von Maastricht einigten sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf eine Wirtschafts- und Währungsunion. Eine einheitliche europäische Währung war das Ziel. Auf das nationale Geld als Ausdruck nationaler Souveränität wurde verzichtet, weil auf Dauer ein gemeinsamer Markt ohne gemeinsame Währung nicht denkbar war, weil Markt- und Preisverwerfungen durch Währungsspekulationen gegen europäische Währungen unmöglich gemacht und der europäische Handel gesteigert werden sollten. Gleichzeitig sollten hierdurch und durch den Wegfall der Transaktionsund Hedging-Kosten für die europäische Wirtschaft und Beschäftigung Vorteile generiert werden. Ein gemeinsamer Souvernänitätsverzicht sollte zusätzlichen Souveränitätsgewinn gegenüber den anderen Währungen und Schutz gegen Finanzmarktspekulationen bringen. Diese Erwartungen konnten teilweise eingelöst werden. Zehn Jahre Europäische Währungsunion brachten eine Preisstabilität, die seitens der Deutschen Bundesbank in ihrer Geschichte nicht vorgewiesen werden konnte. Wirtschaftswachstum und Beschäftigung befanden sich im Aufwärtstrend und der Euro wurde zur zweit-wichtigsten Reservewährung der Welt.

Dieser positiven Bilanz standen und stehen zwei Schieflagen der Währungsunion gegenüber, welche die Europäische Integration belasteten: es gab keine Balance zwi-schen politischer Union und Währungsunion. Viele wollten damals eine politische Union und als Folge die Einführung der einheitlichen Währung. Viele wollten aber diese Politische Union nicht. Diese Auseinandersetzung bestimmte schon seit Churchills berühmter Züricher Rede 1946 den Fortgang oder die Stagnation des europäischen Integrationsprozesses. Optimistische Einschätzungen gingen davon aus, dass der Hebel Währungsunion zu einer Vertiefung des europäischen Einigungsprozesses beitragen würde. Die Währung sollte schließlich ein Symbol für Europa sein, zur ldentität der Menschen und der Wirtschaft in Europa beitragen.

Die Währungsunion war niemals ein rein monetäres Projekt, kühnste politische Ambitionen verbanden sich mit der Euro-Einführung. Selbst die Schaffung einer Union mit Gewaltenteilung und prägnanten Grundsätzen der Zusammenarbeit, mit Gesetzgebung und internationaler Rolle waren nicht ausgeschlossen. Der Weg hin zu einer Europäischen Verfassung schien geebnet. Auch wenn die technokratische Sprache des Vertrages von Maastricht wesentlich weniger begeisterte als die Erklärung der Menschenrechte und deswegen das europäische Zugehörigkeitsgefühl ausgeblieben ist, so war die Währungsunion doch der Beginn einer neuen europäischen Verwobenheit: über das Geld, die Banknoten und Münzen, aber auch über die Schaffung der ersten supranationalen föderalen Institution Europas, die Europäische Zentralbank(EZB). Diese war vertraglich gezwungen, im europäischen Geist zu denken und zu handeln und eine einheitliche Politik zu entwerfen und umzusetzen — für alle. Und schließlich ist die Schaffung der europäischen Identität weiterhin vonnöten. Auch wenn die europäische Öffentlichkeit fehlt, so bleibt sie ein narrativer Prozess.

Eigentlich gab es weder Denkverbote noch Vertrauensdefizite. Und die Euro-Einführung war ein europäisches Projekt, das kühn gedacht und effizient und fehlerlos durchgeführt wurde. Larry Summers, der damalige amerikanische Finanzminister hielt es noch zwei Wochen vor dem Europäischen Gipfel im Mai 1998 für unvorstellbar, dass die Europäische Union ein derartiges Projekt zustande bringen könnte. Dabei interessierte bereits die Väter des Völkerbunds die europäische Briefmarke, das europäische Geld als Mittel des Zusammenwachsens der Völker.

Die Währungsunion erforderte Mut und geschichtlichen Sinn, Sachverstand und Verhandlungsgeschick — und glückliche Umstände wie die deutsche Einheit, den Zusammenbruch der kommunistischen Regime in den osteuropäischen Staaten und den dadurch initiierten Aufbruch zu einem neuen Europa. Begeisterung und Kritik, Zustimmung und Ablehnung begleiteten die Umsetzung des Reformwerks — seitens der Politik und Wissenschaft, aber auch der Bevölkerung, vor allem in Deutschland. Ohne eine Befragung der deutschen Bevölkerung wurde mit dem Abschied von der D-Mark ein Teil der nationalen Identität aufgegeben. Millionen Michel-Tränen wurden für eine verlorene Liebe geweint und so mancher Franzose fragte sich: man liebt doch eine Frau, wie kann man Geld lieben. Nun: Deutschland ist ein anderer Staat aufgrund seiner Erfahrungen der Inflationen, der Kriegsverursachung und des Völkermordes. Deswegen konnten Deutsche nicht stolz sein auf ihre Geschichte, ihre Kultur. Die D-Mark war die erste positive Errungenschaft nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und erlaubte den Deutschen, sich mit Nachbarn zu versöhnen und sich in eine internationale europäische Staatengemeinschaft einzubinden. Emotional bedingt gab es also viel Widerstand gegen die Euro-Einführung in Deutschland bis hin zum Bundesverfassungsgericht. Die Glaubensgemeinschaft von Stammtischen, Volkswirten, Experten und Medien bescherte hochriskante Abstimmungsszenarien. Die – trotz der Euro-Informationskampagnen – fatale Abwesenheit einer europäischen Öffentlichkeit (Habermas) ließ bei der Euro- Einführung viele Deutsche mit der europäischen Integration fremdeln. Auch die jüngste Eurobarometer-Umfrage 2011 zeigt, dass nur 50 Prozent der Bevölkerung in der Europäischen Union der Meinung sind, dass die EU-Mitgliedschaft für ihr Land nützlich ist.

Die politische Wirklichkeit nach der Einführung des Euro kannte viele Probleme. Die Europäische Union hatte sich verhoben: der Erweiterung fehlte die Gleichzeitigkeit der Vertiefung der europäischen Integration, die Reform von Entscheidungsprozessen und der Institutionen. Auch wenn der Lissabon-Vertrag demokratiepolitisch Fortschritte brachte, so beherrschen doch nationalstaatliches Denken und die Organisation des höchstmöglichen Nutzens für den jeweiligen Mitgliedstaat die europäische Integrationsdebatte. Der Reparaturbetrieb der immer häufiger tagenden europäischen Gipfel von Staats- und Regierungschefs schadet den demokratiepolitischen Fortschritten des Vertrages von Lissabon, beschädigt zudem immer wieder aufs Neue die Währungsunion und die Rolle und Statur Europas.

Verschenkt wurden alle Chancen einer wirtschaftspolitischen Koordinierung. Schließlich kann eine am gemeinsamen europäischen Interesse ausgerichtete gemeinschaftliche makroökonomische Koordinierung durchaus Ergebnisse liefern, die einer supranationalen Entscheidungsstruktur vergleichbar sind. Dazu bedarf es aber des politischen Willens. Sehr deutlich engagierte sich in der zweiten Stufe der Währungsunion (1.1.1994) das Europäische Parlament mit seinem Unterausschuss Währung für eine wirtschafts- und beschäftigungspolitische Koordinierung und eine entsprechende interinstitutionelle Vereinbarung zur Demokratisierung der Entscheidungsfindung. Der Rat der Wirtschafts- und Finanzminister lehnte jede Maßnahme ab, die über zwischenstaatliche Zusammenarbeit hinausging und verbat sich Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament. Viele der damaligen Vorschläge tauchen aktuell wieder auf – von der Kompetenz der Statistikbehörde Eurostat bis hin zur Prüfung der jeweiligen nationalen Haushalte. Alle Vorschläge lagen damals auf dem Verhandlungstisch. Aber keine Regierung war bereit, sich tatsächlich in ihre Budget-Karten gucken zu lassen. Damit lief eine Koordinierung im Bereich der Wirtschafts- und Fiskalpolitik in die Leere. Das galt und gilt auch für die Steuerpolitik. Der unfaire Steuerwettbewerb, eigentlich unvereinbar mit dem Gemeinschaftsgeist der Verträge, fand und findet statt.

Die Europäische Zentralbank ist mächtig, sie braucht aber ein Gegenüber. Die Forderung nach einer europäischen Wirtschaftsregierung als Partner der föderal verfassten Europäischen Zentralbank scheiterte bislang in den politischen Debatten regelmäßig, sie schien mit der Einführung des Euro in immer weitere Ferne gerückt. Dabei hatte der Lissabon-Prozess 2000 richtigerweise einen komplexen Ansatz für ein nachhaltiges investitionsgestütztes und beschäftigungsförderndes Wachstum gewählt, das sich auf die Humanressource Mensch und seine Innovationskraft stützte. Es bot einen Ausweg aus einer Krise, die geprägt war durch geringe Produktivität, Massenarbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzung unverantwortbar vieler Armer in der der damals reichsten Region der Welt. Wieder einmal wurde eine ehrgeizige Vereinbarung getroffen. Sie wurde einfachnicht umgesetzt. Der Halbzeitbericht (Wim Kok) bescheinigte allen Mitgliedstaaten den Mangel an „ ownership”. Und viel anders scheint es mit der vergleichbar schwächeren Strategie „Europa 2020” auch nicht zu werden.

Fassungslos kommentierten immer wieder Europaabgeordnete die äußerst schwachen und wirkungslosen oder fragwürdigen Beschlüsse der EU-Gipfel. Die Zunahme ihrer Häufigkeit korreliert mit ihrer Bedeutungslosigkeit und Handlungsschwäche. Es scheint fast so, als sei mit der Einführung der einheitlichen Währung der Integrationswille der EU-Mitgliedstaaten erschöpft. Noch nicht einmal die Krise 2008 schockierte so stark, dass protektionistische Verhaltensweisen der EU-Mitgliedstaaten ausgeschlossen waren. Nur mühsam gelangen gemeinschaftliche Konjunkturprogramme. Die schwache EU-Kommission konnten den Staats- und Regierungschefs kein Paroli bieten.

Eine Wirtschafts­re­gie­rung für Europa

Bereits nach Vorlage des wegweisenden Vorschlags von Jacques Delors 1993 (Weiß-buch: Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung) wurde eine Wirtschaftsregierung für Europa gefordert, vor allem vom Europäischen Parlament und der damaligen SPE-Fraktion. Ihre Anbindung an die Europäische Kommission war umstritten. Jede weitere Diskussion wurde dann vom Tisch gefegt mit der Argumentation, dass die Unabhängigkeit der EZB durch eine Wirtschaftsregierung gefährdet wäre. Heute wissen alle, dass eine Europäische Zentralbank kein Waisenkind sein darf, sondern ein Gegen-über in Form einer europäischen Wirtschaftsregierung bedarf, selbst der damalige EZBPräsident Trichet forderte 2011 einen europäischen Finanzminister.

Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Augen dafür geöffnet, dass der europäische Traum bald ausgeträumt sein wird, wenn sie sich nicht schnell für eine europäische Wirtschaftsregierung entscheiden. Europa hat sich für ein soziales Gesellschaftsmodell entschieden, das im Gegensatz zum amerikanischen Gesellschaftsmodell auf den Abbau von Ungleichheit setzt. Der amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin beschwört zu Recht, dass Europa im Gegensatz zu den USA auf Gemeinschaftsbeziehungen, Lebensqualität für alle, nachhaltige Entwicklung, Menschenrechte und Zusammenhalt setzt und deswegen auch im Zeitalter der Globalisierung besser überleben kann als andere Weltregionen. Das sollte den europäischen Regierenden in ihrem Kleinmut zu denken geben. Es geht in der aktuellen Krise nicht um den Euro und die Schulden der EU-Staaten, sondern um Firmen, Banken und Privatleute, die Schulden gemacht haben und die Regierungen zum Sanieren der Schulden gezwungen haben. Die Asien-Krise in den 90er Jahren war schon eine Systemkrise des Finanzsektors. Europa sah diese Gefahren nicht, sondern verließ sich auf das angelsächsische Modell. Im Zeichen einer neoliberalen Wirtschaftsordnung wurden die Finanz-märkte liberalisiert und privatisiert. Das Kapital ist ein scheues Reh, lehrte die Deutsche Bundesbank, es an der Flucht aus Europa zu hindern war das Ziel der Finanzaktionspläne der Europäischen Union. Das war gut für die Finanzmärkte, aber schlecht für die Wirtschaft und die Beschäftigung in der Europäischen Union.

Die Europäische Union entschied sich für nominale Konvergenzkriterien, nicht für die reale Konvergenz, als sie sich auf die Währungsunion vorbereitete. Aber Geldpolitik kann die makroökonomischen Ungleichgewichte nicht kompensieren. Deswegen wäre es angebracht gewesen, durch makroökonomische Politikkoordinierung Ungleichgewichte auszugleichen. Dies versucht nun das so genannte Sixpack, die auf dem letzten Euro-Gipfel beschlossenen „10 Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftspolitischen Steuerung im Euro-Währungsgebiet”. Doch eine europäische Wirtschaftsregierung ist damit nicht institutionalisiert und eine demokratische Kontrolle ist nicht beabsichtigt. Ihnen fehlt die Balance zwischen wirtschaftspolitischen und finanzpolitischen Entscheidungen. Sie institutionalisieren weder eine europäische Wirtschaftsregierung noch die notwendige demokratische Kontrolle.

Erfolgsmodell Europäische Integration

Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat auch das System der Europäischen Union belastet. Die Erfolge der europäischen Integration wie Freiheit, Frieden und mehr Wohlstand für alle sind unbestreitbar. Die Dynamik der wirtschaftlichen Integration verbunden mit verbesserten Lebensbedingungen für die Bevölkerung führten trotz aller Schwierigkeiten zu einer zunehmenden Zustimmung zum europäischen Integrationsprojekt, das auf diese Weise die Legitimation bekam, die ihm wegen seines demokratischen Defizits fehlte. Mit der wirtschaftlichen Stagnation und der Massenarbeitslosigkeit verlor Europa diese Zustimmung. Nun wird evident, dass sich weder die politischen noch die wirtschaftlichen Eliten zu Europa bekennen und über die Wahlen hinaus denkend mehr Integrationsfortschritte anmahnen. Die samtenen Revolutionen bescherten Europas demokratischer, rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Tradition eine neue Blüte. Die Erweiterung der EU, die ihnen folgte, überdeckte allerdings die Entscheidungs- und Handlungsschwächen des „alten Europa”. Es war ein strategischer Fehler, Europa nur größer werden und die internen Probleme ungelöst zu lassen. Die Europa-Abkommen waren ein ungeliebtes, wenngleich teilweise nützliches Element der nachbarschaftlichen Annäherung. Sie bereiteten aber weder das alte noch das neue Europa auf die Herausforderungen vor. So wurde die Chance verpasst, in Europa ein Zusammengehörigkeitsgefühl aller Menschen wachsen und ein europäisches Volk entstehen zu lassen.

Der Maastricht-Vertrag war für das kleine Europa der 15 EU-Mitgliedstaaten gestrickt worden, er vernachlässigte notwendige institutionelle Veränderungen, schaffte Ausnahmeklauseln für Großbritannien und Dänemark, ließ aber Ihr Wort und ihre Stimme in den Institutionen weiterhin gleichberechtigt zu. Ein institutionelles Problem, das sich heute zum einen in der Schaffung der Euro-Group und in den Überlegungen widerspiegelt, einen Euro-Ausschuss im Europäischen Parlament zu schaffen, dem nur Abgeordnete aus Euro- Staaten angehören sollen. Die Währungsunion ist immer eine politische Herausforderung gewesen, keine monetäre Frage: entweder entwickelt sich aus dem „Markt” eine Staatlichkeit oder Europa schafft sich und das demokratische System ab. Die Währungsunion spiegelt die Erkenntnis wider, dass der Nationalstaat auf globalen Märkten seine eigentliche Aufgabe, die Existenzsicherung des Volkes, nicht mehrleisten kann. Für die Akzeptanz der Währungsunion war bei ihrer Einführung das gemeinschaftliche Handeln in der Wirtschafts- und Fiskalpolitik entscheidend. Es war damals nicht vorstellbar, dass die EU-Staaten, selbst die Euro-Staaten, mit der Einfiihrung des Euro eifersüchtiger denn je auf ihre nationalen Interessen und Vorrechte achteten, dass sie das Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgebot durch die nationale Lupe betrachten würden und mögliche Koordinierungsverhandlungen zum Teppichhandel verkommen ließen. Die bereits während der 2. Stufe der Währungsunion möglichen Budgetprüfungen gerieten zur Farce. Niemand wollte sich in die Karten gucken lassen.

Die Vereinigten Staaten von Europa

Die Überwindung des Nationalstaats und seiner unsäglichen Verbrechen, die Schaffung einer FriedenSordnung, die Vision einer besseren und gerechteren Welt standen bei der Gründung der Europäischen Union. Auch wenn die Vision an dem schnöden Funktionalismus der EU-Integration scheiterte, so waren doch die EGKS und die EWG mehr als ein Zweckverband. Mehr Kontrolle des Wettbewerbs insbesondere der kriegsstützenden Industrien und mehr supranationale Institutionalisierung von Entscheidungen war ein Modell ohne jegliches historisches Vorbild und sprach für eine Neuregelung der Beziehungen zwischen den Völkern. Das gilt auch für den Schutz der öffentlichen Güter und Dienstleistungen und anderer Errungenschaften des Sozialstaates. Hier unterschied sich die europäische Realität und Vision deutlich vom amerikanischen Traum des Reicherwerdens um jeden Preis. An diesem europäischen Sozialstaatsmodell ist trotz aller neoliberalen Reformen festgehalten worden. Es prägt auch heute zurecht die europäischen Zukunftsüberlegungen. Europa ist gewachsen und hat Anerkennung und Legitimation gewonnen durch seine wirtschaftliche Integration, den Wohlstand, den Binnenmarkt, aber auch durch seine respektablen Einsätze für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Die Europäische Union ist zum Vorbild, zur Blaupause regionaler Integration in einer globalisierten Welt geworden. Zugleich hat die Ungleichheit zwischen Staaten, Regionen und kleinräumigen Gebilden in einer Weise zugenommen, die unerträglich geworden ist und den sozialen Frieden gefährdet. Europa hat auch den Kleinmut der Nationalstaaten geerbt, der den tschechischen Schriftsteller Milan Kundera warnen ließ, dass überall die flackernden Gespenster der Vergangenheit wieder auftauchen können.Es ist die Torheit und Unfähigkeit der Regierenden, die Europas Niedergang beschleunigen. Leichtsinnig setzten europäische Regierungen, gleich welcher Couleur, auf die grenzenlosen Selbstheilungskräfte der Märkte. Dabei hatten sie doch Wettbewerbs- und Marktordnungen beschlossen, die alle vom Marktzugang ausschlossen, die Regeln verletzen, dabei haben sie doch die Macht, den Primat der Politik gegen die Finanzmärkte durchzusetzen und z. B. Finanztransaktionssteuern zu erheben.

Europa hat eine Chance. Noch sind die Grundsätze und Werte europäischer Demokratie, ist die Europäische Menschenrechtskonvention nicht vergessen. Europa muss sich mit dem großartigen Europäer Stephane Hessel empören und die Glut schüren für ein demokratisches Europa, für ein sozial gerechteres Europa. So wie bisher kann es nicht weitergehen.

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