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Die EU zwischen Integra­ti­ons­zwängen

aus: Vorgänge 196 (Heft 4/2011), S.25-33

Die Europäische Union hat sich in der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009/2010 zunächst als robust und entwicklungsfähig erwiesen. Doch spätestens unter dem Druck der weit-gehend marktgetriebenen Verschuldungskrise im Jahr 2011 wurde deutlich, dass auch die Mitgliedstaaten der Eurozone nur begrenzt bereit sind, diese stärker zu integrieren. Davon zeugen zunehmend die intergouvernementalen Handlungsformen und eine mangelnde Bereitschaft, Risiken etwa im Bereich der öffentlichen Haushalte oder des Finanzsektors grenzüberschreitend zu teilen.

Gegen diese Beharrungstendenzen stehen nicht mehr nur ein deutlich gewachsener Druck der Märkte und auch internationaler Organisation wie des IWF, die politische Einigung zumindest im gemeinsamen Währungsraum auf eine neue Stufe zu heben. Zudem hat sich eine Debatte über die Zukunft der Eurozone entwickelt, im Zuge derer nicht nur Wissenschaftler und Medienkommentatoren, sondern auch Oppositionspolitiker und sogar Regierungsvertreter weitreichende Integrationsschritte in Richtung einer politischen Union[1] fordern. Die Diskussion darüber ist so alt, wie die Auseinandersetzung über die Architektur der Europäischen Währungsunion, die bereits in den 1970er Jahren mit dem so genannten Werner Plan begann. Mit dem Vertrag von Maastricht, der 1991 unterzeichnet wurde, optierten die damals 15 Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft mangels Einigungsfähigkeit über eine stärkere politische Integration für eine asymmetrische Konstruktion der Währungsunion. Der vergemeinschafteten Geldpolitik der unabhängigen Europäischen Zentralbank (EZB) stand keine auch nur annähernd vergleichbare Integration im Bereich der Haushalts- und Wirtschaftspolitik gegenüber. Auf einen Souveränitätstransfer in diesen für die Nationalstaaten so sensiblen Bereichen wurde verzichtet. Stattdessen wurde eine regelgeleitete Koordinierung der nationalen Haushalts- und Wirtschaftspolitiken vereinbart, obwohl bekannt war, wie leicht Ansteckungseffekte durch unkoordiniertes Handeln und unverantwortliche Politik auftreten können.

Die gewählte Konstruktion der Währungsunion erwies sich insbesondere deshalb als problematisch, weil sie sich auf eine Sanktionierung unverantwortlicher Politik durch die Finanzmärkte verließ, was sich etwa am Haftungsausschluss für die Verschuldung anderer Mitgliedstaaten[2] manifestierte. Mit diesem sollte verdeutlicht werden, dass es die Möglichkeit des Staatsbankrotts einzelner Mitgliedstaaten im Euroraum gibt, um die Regierungen zur Eigenverantwortung anzuhalten und den Marktteilnehmern Anreize für vorsichtiges Investitionsverhalten zu geben.

Doch genau dies funktionierte nicht. Auch Staaten wie Griechenland, Portugal, Italien, Spanien und Irland konnten sich zu geringen Zinsen Geld leihen, obwohl ihr Schuldenstand, die geringe Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften bzw. Blasenbildungen im Banken- oder Immobiliensektor problematisch waren.

Insti­tu­ti­o­nelle Integra­ti­ons­dy­na­miken im Zuge der Krise

Nachdem die Strukturen der politischen Zusammenarbeit in der Währungsunion auch während des Verfassungskonvents 2002/2003 ergebnislos behandelt wurden, sind seit Ausbruch der Krise verschiedene Reformen verabschiedet und weitere auf den Weg gebracht worden. Der erste sichtbare Schritt war die Schaffung des europäischen Finanzaufsichtssystems[3] im Jahr 2009, das seine Arbeit am 1. Januar 2011 aufnahm. Eine unzureichende Finanzmarktregulierung und -aufsicht auf europäischer Ebene war als eine der Ursachen identifiziert worden, warum die EU so stark von der Finanzkrise erschüttert wurde. Die bestehenden nationalen Aufsichtsstrukturen hatten weder Instabilitäten in den Märkten erkannt, noch waren sie geeignet, mit grenzüberschreitend integrierten Finanzmarktakteuren umzugehen. Der Eurozonengipfel vom Oktober 2008 initiierte da-her ein Gesetzgebungsverfahren zur Schaffung europäischer Finanzmarktaufsichtsstrukturen. Die Europäische Bankenaufsicht, die Europäische Aufsicht für das Versicherungswesen und die Europäische Wertpapieraufsicht haben seit Anfang 2011 die Aufgabe, die Zusammenarbeit der nationalen Aufseher zu verbessern und ein einheitliches Handeln im Finanzbinnenmarkt sicherzustellen. Hinzu kommt der Europäische Ausschuss für Systemrisiken,[4] der die Stabilität des gesamten Finanzsystems überwachen, frühzeitig auf Risiken hinweisen und Maßnahmen zu ihrer Beseitigung empfehlen soll.

Der wichtigste Beitrag der neuen Strukturen ist die stärkere Verzahnung der nationalen Aufsichtsstrukturen. Direkte Durchgriffsrechte haben sie nicht. Kritiker hinterfragen überdies, ob so ein einheitliches Regelwerk für den europäischen Finanzsektor und konsistente Aufsichtsstrukturen geschaffen werden können. Eine Weiterentwicklung des Aufsichtssystems ist durch eine vom Europäischen Parlament in die Gesetzestexte ein-gebrachte Überprüfungsklausel grundsätzlich angelegt. Die Europäische Kommission überprüft demnach regelmäßig, ob die Behörden direkte Aufsichtsbefugnisse über Finanzinstitute oder Infrastrukturen mit europaweiter Bedeutung haben sollten. Stärkere Aufsichts- und Durchgriffsrechte dürften jedoch weiterhin auf nationalen Widerstand stoßen, insbesondere, wenn sie haushaltspolitische Auswirkungen haben. In Reaktion auf die Verschuldungskrise, die die Eurozone ab Anfang 2010 erschütterte, wurden weitere Integrationsschritte vollzogen. Im Mai 2010 wurden zunächst temporäre Hilfsmechanismen geschaffen, die im Jahr 2012 durch den permanenten Europäischen Stabili-tätsmechanismus (ESM) abgelöst werden sollen. Die Möglichkeit, Mitgliedstaaten Liquiditätshilfen zu geben, hebt die finanzielle Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten auf eine neue Ebene und erforderte eine Änderung des EU-Vertrags, um Konflikten mit der so genannten „No-Bail-Out“-Klausel vorzubeugen. Darüber hinaus wurde eine Re-form der Governance-Strukturen auf Sekundärrechtsebene beschlossen: Das „Sixpack” genannte Gesetzespaket5 stärkt die Überwachung der Haushalts- und Wirtschaftspolitiken und fordert Anpassungen der nationalen Haushaltsmechanismen. Überdies wurde beschlossen, dass künftig mindestens zwei Mal im Jahr ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Eurozone stattfinden soll und dies unter permanentem Vorsitz eines Eurozonen-Präsidenten.

Weitere Schritte sind bereits in Arbeit: Im Frühjahr 2012 soll nach dem Beschluss des Europäischen Rats vom 8./9. Dezember 2011 der so genannte „Fiskal-Pakt” besiegelt werden, der auf Grundlage eines zwischenstaatlichen Vertrags die Kontrolle über nationale Haushaltspolitiken noch einmal verstärkt. Im November 2011 hat die Europäische Kommission das nächste Gesetzgebungsverfahren auf den Weg gebracht, um die haushalts- und wirtschaftspolitischen Disziplinierungsmechanismen weiter zu verstärken. Sie hat überdies ein Grünbuch zur Einführung von Eurobonds vorgelegt und damit die Diskussion um Potenziale, Gefahren und Voraussetzungen einer Finanzierungsunion gefördert.

Die Beispiele zeigen, dass im Zuge der Krise die Überwachung und die Eingriffsmöglichkeiten auf europäischer Ebene gestärkt wurden und die politische Koordinierung auf höchster politischer Ebene institutionalisiert wurde. Gleichzeitig gelten diese Schritte aus Sicht der meisten Beobachter als nicht ausreichend. Sie sehen die Notwendigkeit, neue politische Steuerungskompetenzen und Instrumente auf Eurozonen-Ebene zu schaffen, die indes weiter reichende Vertragsänderungen erfordern würden.

In der Abwägung zwischen nationalen Souveränitätsbedenken und europäischer Krisenprävention und Problemlösungsfähigkeit privilegieren der Regierungen Lösungen, die der volkswirtschaftlichen Realität in der Eurozone keine volle Rechnung tragen. Der formale nationale Souveränitätsverlust wird mehr betont als die durch stärkere politische Integration erst möglich werdende Rückgewinnung von politischer Handlungsund Steuerungskompetenz im integrierten Währungsraum und Finanzmarkt.

Integra­ti­ons­bremser und renati­o­na­li­sierte Diskurse

Formal hat die Integration bereits eine so große Tiefe erreicht, dass jeder weitere Schritt sensible nationale Souveränitätsrechte und insbesondere die Haushaltshoheit der Parlamente zu berühren droht. Die bisherigen Reformen machen genau vor diesen Grenzen halt. Auch wenn in der deutschen Diskussion bereits weitreichende Vorschläge formuliert wurden, nimmt die Bundesregierung derzeit keine Motorenfunktion in Richtung einer politischen Union ein. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen.

Das als Integrationsbremse verstandene Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabonner Vertrag enthält hohe Hürden für die derzeit diskutierten weiter gehenden Integrationsschritte, da diese sensible Kernbereichen nationaler Souveränität betreffen.

So zieht das Gericht klare Grenzen etwa im Bereich der Haushalts- und der Sozialpolitik. Für substanzielle Integrationsschritte in diesen Feldern ist aus Sicht Karlsruhes eine parlamentarische Ratifizierung eines neuen EU-Vertrags nicht mehr ausreichend. Für die Durchführung von Referenden müsste in Deutschland indes erst das Grundgesetz geändert werden.

Darüber hinaus könnte eine Reform der EU-Organe notwendig werden, um das Demokratieprinzip so durchzusetzen, dass im Rahmen der EU Wahlgleichheit gegeben wäre [5]. Dies würde bedeuten, dass eine Vertiefung der Währungsunion eine umfassende Reform des EU-Institutionengefiiges notwendig machen könnte, so etwa bezüglich der Zusammensetzung und Rolle des Europäischen Parlaments.

Die Perspektive einer derartigen Ausweitung einer möglichen Reformagenda für die EU begrenzt den politischen Handlungswillen der Regierungen, insbesondere auch der deutschen, eindeutig und dies aus mindestens zwei Gründen.

Erstens wird die Fähigkeit zur Kompromissfindung unter den EU-27-Staaten als zu-nehmend schwierig eingeschätzt. Früher basierten Integrations- und Konstitutionalisierungsschritte darauf, dass unterschiedliche Interessen der Regierungen zu „Reformpaketen” geschnürt wurden, was angesichts der Tiefe des Integrationsstands und der Interessensheterogenität Inder Gemeinschaft schwieriger geworden ist. Heute gelingt es immer weniger, unterschiedliche integrationspolitische Vorstellungen miteinander zu vereinbaren, um Fortschritte in einzelnen Politikfeldern zu erzielen. Dies zeigte besonders deutlich die Haltung des britischen Premiers David Cameron beim EU-Gipfel am 8. Dezember 2011, der sich grundsätzlich gegen eine Veränderung des EU-Vertrags sperrte, obwohl die angestrebten Vertragsänderungen lediglich die Eurozonenstaaten betroffen hätten, zu denen Großbritannien nicht gehört. Zudem erfordern weiter reichende Vertragsrevisionen die Aushandlung eines Vertragsentwurfs im Konventsverfahren. Dies macht zum einen die „Reformagenda” aus Sicht der Regierungen noch weniger kontrollierbar. Zum anderen könnte sich eine Kompromissfindung noch weiter erschweren, denn in einem Konvent wären integrationsbefürwortende ebenso wie integrationsskeptische Positionen zu vereinbaren, während Paketlösungen durch die Art der Deliberation und Verhandlungsführung schwieriger zu erreichen wären.

Zudem dürfte die Ratifizierung eines neuen Vertrags zumindest in einigen der Mitgliedstaaten, in denen Referenden durchgeführt werden, sehr schwierig werden, insbesondere dann, wenn ambitioniertere Integrationsvorhaben nicht durch eine tief greifende und aktiv geführte europapolitische Diskussion begleitet werden. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg trug die Bevölkerung die von den Regierungen gefundenen Integrationskompromisse stets mit, denn sie versprach sich zum einen materiellen Mehrwert und war angesichts der Kriegserfahrung ideell überzeugt. Im Zuge der Finanz-, Wirtscharts- und Verschuldungskrise ist die Begründungsnotwendigkeit angesichts einer kritischeren öffentlichen Meinung[6] bei sinkendem politischen Führungswillen eklatant gestiegen. Nicht nur die Voraussetzungen für Kompromisse, auch die für Akzeptanz weiter reichender Integrationsschritte haben sich also verschlechtert.

Die Grenzen der Output-Le­gi­ti­ma­tion

Nach dem Scheitern des Vertrags über eine Verfassung für Europa in den Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden im Mai und Juni 2005 wurde in der EU die Idee forciert, europäische Zusammenarbeit vor allem über den Output zu legitimieren. Konkrete politische Ergebnisse sollten bei der Bevölkerung Unterstützung der EU und ihrer Politiken gewinnen. Sehr deutlich manifestierte sich das Verlangen, kurzfristig Legitimation durch Handlungsbereitschaft und konkrete Ergebnisse zu generieren, in den Ergebnissen des unter britischer Ratspräsidentschaft im Oktober 2005 durchgeführten Europäischen Rats in Hampton Court. Während die Staats- und Regierungschefs einerseits im Sommer 2005 eine so genannte „Denkpause” eingeläutet hatten, während derer Schlussfolgerungen aus der Ablehnung des Verfassungsvertrags gezogen werden sollten, gab die Gipfelerklärung eine konkrete Policy-Agenda für die EU
in den Bereichen Energie und Klima vor.

Die Interpretation, dass den Referenden auch Probleme auf der Input-Seite zu Grund liegen könnten, also wahrgenommene demokratische Legitimations- und Mitbestimmungsprobleme zu bearbeiten sind, fanden weder in der öffentlichen europapolitischen Diskussion noch im Handeln der Regierungen einen sichtbaren Niederschlag. So unter-band etwa die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2007 öffentlichen Grundsatzdebatten, so in Bezug auf die „Berliner Erklärung”, die zum 50. Jubiläum der Römischen Verträge Ziele und Gründe der Integration in der erweiterten EU festschrieb. Durch nicht öffentliche Verhandlungen ermöglichte dies zwar die Rettung der Kernreformen des Verfassungsvertrags in Form des Lissabonner Vertrags[7], was weitestgehend als europapolitischer Erfolg gewertet wurde. Doch eine Aufarbeitung der Gründe der Ablehnung, die um so problematischer war, als der Verfassungsvertrag der erste Vertrag war, der in einem so genannten Konventsverfahren mit breiter politischer und gesellschaftlicher Beteiligung ausgehandelt wurde, fand nicht statt.

Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy, frisch ins Amt gewählt, schleuste im Dezember 2007 den Lissabon-Vertrag, der die wesentlichen Änderungen des Verfassungsvertrags enthielt, durch das französische Parlament. Eine europapolitische Grundsatzdiskussion, die das „Nein” zum Verfassungsvertrag aufgriff und dem Lissabon-Vertrag eine breitere gesellschaftliche Zustimmung hätte verschaffen können, blieb auch in Frankreich aus. Als Ratsvorsitzender rief Sarkozy im zweiten Halbjahr 2008 das „Europa der Projekte” aus und privilegierte ganz im Sinne des Konzepts der Output-Legitimation einen Politikansatz, der auf das Vorgehen beim Hampton Court Gipfel
aufsetzte.

Es wird allerdings immer schwieriger, über den Output Legitimation für die EU zu erzeugen. Das liegt zum einen am wirtschaftlichen und sozialen Umfeld, das seit der Verschuldungs- und Bankenkrise in einigen Mitgliedstaaten von niedrigen Wachstums-raten, schmerzhaftem Strukturwandel und hoher Arbeitslosigkeit geprägt ist. Die Zunahme materieller und sozialer Unsicherheiten rechnet die Bevölkerung auch der EU negativ an – auch wenn diese keine formale Zuständigkeiten hat. Zum anderen ist genau diese fehlende Kompetenzzuweisung Teil des Problems. Denn die bestehenden Entscheidungsstrukturen privilegieren nationale Maßnahmen vor europäischen Lösungen,die für die Eurozone als Ganzes sinnvoll wären. Es gibt keine Rückgewinnung von Handlungskompetenz auf EU-Ebene, die im Zuge der Währungsintegration faktisch aufgegeben wurde. Wohlfahrtsverluste sind damit programmiert.

Konse­quenzen wachsender Legiti­ma­ti­ons­pro­bleme

Die beschriebenen Probleme finden ihren Ausdruck in mehreren Tendenzen. In der öffentlichen Meinung sinkt die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft des eigenen Landes. Im Kontext einer generellen Vertrauenserosion von politischen Institutionen und Politikern erodiert auch das Vertrauen in EU-Institutionen. In der politischen Auseinandersetzung lässt derweil die Bereitschaft nationaler Politiker nach, transnationale Verschränkungen der Probleme anzuerkennen und passende Lösungsansätze zu entwickeln. Die Illusion des nationalen Alleingangs ist auf dem Vormarsch.

Hinzu kommt das Desinteresse der Mehrzahl der Entscheidungsträger, Entwicklungsperspektiven der EU ausdrücklich zu thematisieren und für Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union zu werben. Dies ist nicht neu. Schon früher wurden Integrationsschritte nicht ausreichend begründet, ihre Bedeutung nicht erklärt. So diskutierte man in Frankreich erst dann über die liberale Grundordnung des Binnenmarkts, die spätestens in Zusammenhang mit der 1986 unterzeichneten Einheitlichen Europäischen Akte hätte debattiert werden müssen, und über die 2004 vollzogene Osterweiterung, als das Referendum über den Verfassungsvertrag 2005 bevorstand.

Die so genannte Input-Legitimität der EU, also die durch Verfahren und öffentliche Auseinandersetzung erzeugte Zustimmung, leidet derweil an den vieldiskutierten Demokratiedefiziten des EU-Systems. Dazu zählen bei Wahlen zum Europäischen Parlament die Ungleichheit der Stimmbürger in der EU und das Fehlen eines parteipolitischen Wettbewerbs auf EU-Ebene sowie der dazugehörigen transnationalen politischen Parteien und Strukturen.

Zudem fehlt ein europäischer Raum der gesellschaftlichen und politischen Kommunikation. Es ist anzunehmen, dass die Öffentlichkeit in Europa national und sprachlich fragmentiert bleiben wird. Ein Mindestziel ist daher für die EU als transnationales politisches Gemeinwesen die „gegenseitige Öffnung der nationalen Öffentlichkeiten füreinander“[8] zu erreichen. Dies würde nicht nur Interesse am politischen und gesellschaftlichen Geschehen in den EU-Partnerländern wecken und Kritik daran ermöglichen. Für die aktuellen Herausforderungen ist überdies entscheidend, dass grenzüberschreitende Debatten über die gemeinsame Zukunft ermöglicht werden.

Der Trend zum Inter­gou­ver­ne­men­ta­lismus

Im Spannungsfeld zwischen gemeinsamer Nutzenmaximierung und Souveränitätsvorbehalten befinden sich intergouvernementale Kooperationsformen auf dem Vormarsch. Dies zeigt sich unter anderem an der Aufwertung des Europäischen Rats durch seinen ständigen Vorsitzenden Herman Van Rompuy oder auch durch die herausgehobene Rolle der Staats- und Regierungschefs im Management der Finanzkrise. Sichtbarster Aus-druck dieser Entwicklung war die Proklamation der „Unionsmethode“[9] durch die deutsche Bundeskanzlerin, die einer zwischenstaatlichen Zusammenarbeit zumindest in manchen Bereichen den Vorzug vor einer vollen Einbindung der Gemeinschaftsinstitutionen gibt. Zwar wurde die Gemeinschaftsmethode durch die Ausweitung intergouvernementaler Kooperationsformen bislang nicht verdrängt, sondern ergänzt.[10] Doch wird intergouvernementale Kooperation nicht automatisch zur Vergemeinschaftung führen, wie etwa die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik zeigen. Derartige Integrationsschritte brauchen explizite politischen Entscheidungen, den entsprechenden politischen Führungswillen und eine breite öffentliche Diskussion.

Die relative Zunahme intergouvernementaler Kooperationsformen kann Spannungen erzeugen oder verschärfen. So leidet nicht nur die demokratische Kontrollmöglichkeit des Europäischen Parlaments und die Vermittler- und Motorenfunktion der Europäischen Kommission. Skeptisch bis verärgert sind vor allem kleine und mittelgroße Staaten, die die Dominanz der Großen anprangern, etwa in Bezug auf den Pakt für den Euro von März 2011 oder den deutsch-französische Kompromiss von Deauville von Oktober 2010 über die Reform der Euro-Zone. Dass der Präsident des Europäischen Rats sich grundsätzlich vorab mit Berlin und Paris abstimmt, ist mittlerweile kein Geheimnis mehr. Problematisch ist indes die Politik der vollendeten Tatsachen der beiden größten Mitgliedstaaten. Was in der Krise noch zähneknirschend akzeptiert werden mag, gefährdet mittelfristig die Akzeptanz der informellen Führung durch Frankreich und Deutschland. Letztere ist aus Sicht kleinerer und mittelgroßer Staaten nur dann annehmbar, wenn sie das Prinzip der Gleichheit der Staaten und der supranationalen Gegengewichte Kommission und Europäisches Parlament respektiert.

Die Skepsis wächst, insbesondere wenn sich die Regierungskooperation in einer dauerhaften Zusammenarbeit in Kleingruppen außerhalb des Gemeinschaftsgefüges vollzieht. Es gibt derzeit kaum Beispiele dafür, dass eine Avantgarde vertiefungswilliger Mitgliedstaaten voranschreitet und spürbare Impulse für eine stärkere Integration setzt. Keineswegs ausgeschlossen ist auch eine „ungeordnete Differenzierung” in Form eines unilateralen Rückzugs einzelner Staaten aus Teilpolitiken, selbst wenn sie dabei Regeln verletzen und Verpflichtungen missachten. Ein Beispiel hierfür ist der Rückbau des Schengen-Regelwerks im Jahr 2011.

Entwicklungsperspektiven

Je weiter die Reformen der Regierungsstrukturen der Eurozone voranschreiten, desto intensiver wird die Balance zwischen nationaler Souveränität und dem Stellenwert der supranationalen Ebene diskutiert. Dabei stehen Befürworter der Gemeinschaftsmethode, die sich eine starke Rolle für die Europäische Kommission und das Europäische Parlament wünschen, denjenigen gegenüber, die aufgrund nationaler Souveränitäts- und Legitimationsbedenken eine zwischenstaatliche Zusammenarbeit auf Regierungsebene be-
vorzugen.

Mit immer größerer Dringlichkeit werden grundlegende Fragen der Legitimität des sich entwickelnden Entscheidungssystems in der Eurozone aufgeworfen. Bislang dominiert der Ansatz, nationale Haushalts- und Wirtschaftspolitik auf EU-Ebene zu regeln und technokratisch zu überwachen. Dies dürfte Konflikte mit nationalen Parlamenten provozieren, sobald diese gezwungen werden, demokratisch legitimierte Entscheidungen zu revidieren.

Insgesamt ist durch die Krise deutlich geworden, dass die Mitgliedstaaten durch den Entzug wesentlicher Instrumente der makroökonomischen Politik im Zuge der Währungsintegration verwundbarer geworden sind, ohne dass auf europäischer Ebene entsprechende Handlungsfähigkeit hergestellt wurde. Dies wirft Legitimations- und Demokratiedefizite auf, die durch die aktuellen Reformen längst nicht bearbeitet werden.

Um diese Defizite zu beheben, ist eine öffentliche Debatte über Ziele, Interessen und Lastenteilung unter den Mitgliedern notwendig. Richtungsentscheidungen erfordern, dass Selbst-Blockaden und Tabuisierungen aufgehoben und dem wachsenden Begründungsdruck für Integrationspolitik genügt wird. Notwendig ist deshalb die öffentliche und kontroverse Auseinandersetzung, die allerdings nicht beliebig verlaufen sollte. Sie sollte drei Referenzpunkte haben. Der erste ist die Ausrichtung am europäischen Gemeinwohl. Die EU muss ihren Integrationskurs klar bestimmen und sich darüber neu verständigen, was sie zusammenhält und wofür sie eintreten will. Eng im Zusammenhang damit steht zweitens die notwendige Klärung der Frage, welchen Preis ein Auseinanderbrechen der Eurozone und der EU und welches Potenzial nationale Alleingänge in der globalisierten Weltwirtschaft noch hätten. Hierbei sind insbesondere die sich rasant ändernden Kräfteverhältnisse in ökonomischer, demographischer und sicherheitspolitischer Hinsicht zu berücksichtigen, die maßgeblich zu einer relativen Schwächung der EU im weltweiten Vergleich und ihrer normativen Durchsetzungsfähigkeit beitragen. Dies dürfte die Debatte um die notwendige innere und äußere Stärkung der EU alimentieren.

Die Integrationsschritte, die aus der Krise erwachsen sind, vollzogen sich zum Teil wider den Willen vieler Regierungen und ohne ausreichende öffentliche Auseinandersetzung mit der zunehmend ratlosen Bevölkerung. Angesichts politischer und juristischer Integrationshürden und der eskalierenden Verschuldungskrise, die weitere Ad-Hoc-Maßnahmen provozieren wird, kommen den strukturellen Demokratisierungsproblemen im EU-Mehrebenensystem und der Frage der fairen Lastenteilung immer größere Bedeutung zu. Beide Herausforderungen sollten der dritte Referenzpunkt in der Auseinandersetzung über die künftige Gestalt der EU werden, vor deren Hintergrund dann auch die Begründung von kurzfristigen Rettungsmaßnahmen eine neue Qualität erhalten kann.

[1] Siehe hierzu auch Barbara Lippert/Daniela Schwarzer: Kurs auf die politische Union, SWP-Aktuell, November 2011, http:Uwww.swp-berlin,org/fileadmin/contents/products/aktue1U2011AS2_lpt_ swd
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[2] Die so genannte „No-Bail-Out“-Klausel in Art. 125 AEW.
[3] Einen guten Überblick gibt: Bundesministerium der Finanzen: Die Reform der europäischen Finanzaufsichsstrukturen. Die Errichtung eines Europäischen Finanzaufsichtssystems, in Monatsbericht digital, Dezember 2010, httpa/www.bundesfinanzministerium.de/nn_17844/sid_3ACB014BD2A B4C BD1D 1FDFC75641A538/DE/BMF_Startseite/Publikationen/Monatsbericht_des_BMF/ 2010/ 121inhalt/inhaltsverzeichnis.html?_nnn=true
3 Häufig wird der englische Begriff European Systemic Risk Board (ESRB) verwendet.
[4] European Commission: EU Economic governance „Six-Pack” enters into force, MEM0111(898,12 December 2011, httpa/europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=MEMO/11/898
[5] Vgl. Peter Becker/Andreas Maurer, Deutsche Integrationsbremsen. Folgen und Gefahren des Karlsruher Urteils für Deutschland und die EU, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Juli 2009 (SWP Aktuel141/09), S. 3, 7; Ingolf Pernice, Motor or Brake for European Policies? Germany’s New Role,in the EU after the Lisbon-Judgement of Its Federal Constitutional Court, Berlin: Walter-Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (WHI), 2011(WHI-Paper Nr. 3/2011).
[6] Vgl. Europäische Kommission, Eurobarometer 74. Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union, Brüssel, Februar 2011, besonders S. 49 zum relativen Vertrauensverlust der Bürger in die EU; zu Deutschland: Thomas Petersen, „Die öffentliche Meinung”, in` Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels (Hg.), Jahrbuch der europäischen Integration 2010, Baden-Baden 2011, 5. 317-324, der auf die eklatante Vernachlässigung der EU in der Berichterstattung der Medien hinweist, abgesehen von der Griechenland-Krise.
[7] Vgl. Wolfgang Wessels/Anne Faber, „Vom Verfassungskonvent zurück zur >Methode Monnet~? Die Entstehung der >Road map[8] Jürgen Habermas, „Das Europa der Staatsbürger”, in: Handelsblatt, 17.6.20 11, S. 12f.
[9] Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich der Eröffnung des akademischen Jahres des Europa-
Kollegs Brügge am 2. November 2010, www.bundesregierung.delContent/DE/Rede/2010111/
2010-11-02-merkel-bruegge.html> (Zugriff am 17.6.2011).
[10] Siehe auch Daniela Schwarzer, „The European Integration Process in 2010”, in: CIDOB, Intemational Yearbook 2011, International Edition, Barcelona 2011, S. 265ff.

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