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Solidarität in Euopa und der "Fall Griechen­land"

Ein Argument für einen ökologischen Marshallplan

aus: Vorgänge 196 ( Heft 4/2011), S.34-47

1. Einleitung

Jürgen Habermas schreibt in seinem Essay „Zur Verfassung Europas” (201 la, S. 97), dass ihm im Mai 2011 „die reale Möglichkeit eines Scheiterns des europäischen Projektes zu Bewusstsein” gekommen sei. Dieses Scheitern, so der Grundkonsens aller „guten Europäer”, gilt es zu verhindern. In einer Diskussion zwischen Callies, Enderlein, Fischer und Habermas (Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2011), schien der Vorschlag von Henrik Enderlein, gleichsam eine europapolitische „Flucht nach vorn” anzutreten, auf Zustimmung zu stoßen (ebd., S. 58). Ich schließe mich diesem Konsens zu einer offensiven Fortsetzung des Projektes „EU” an. Damit ist über die Fluchtrouten noch nichts gesagt. Fluchtwege werden derzeit viele angepriesen. Zumeist wird dabei zwischen Regelunion, Liquiditätsunion und Transferunion unterschieden. Während der Arbeit an der Endfassung dieses Artikels scheint das „Merkozy“-Duo die Weichen für eine sog. Fiskalunion gestellt zu haben. Nach Rettungsschirmen, diversen EZ-Interventionen und dem Schuldenschnitt für Griechenland sollen nun offenbar strukturelle Re-formen eingeleitet werden. Diese tragen aber derart deutlich die Handschrift aus deut-scher Haushaltskonsolidierung und französischem Zentralismus, als dass sich der Verdacht zerstreuen ließe, dass die beiden stärksten Nationalstaaten ihre partikularen Perspektiven den anderen Ländern der Eurozone nur übergestülpt haben. Zudem erkauft die avisierte Fiskalunion eine verstärkte finanzpolitische Integration der Eurozone und der EU womöglich mit einem Verlust an demokratischer Legitimation. Obschon die Details des fiskalpolitischen Governance-Systems noch unklar sind, scheint die Befürchtung von Habermas begründet, dass in der Verfolgung dieses Pfades „aus dem ersten demokratisch verrechtlichten supranationalen Gemeinwesen ein Arrangement zur Ausübung postdemokratisch-bürokratischer Herrschaft” werden könnte (2011 a, S. 81).

Diese Befürchtung kann sich leicht mit der Behauptung verbinden, der alternative Pfad in eine Transferunion im Sinne eines europäischen Finanzausgleichs, wie sie u, a. von Daniel Cohn-Bendit gefordert wird (böll thema 4/2011, S. 6), sei der bessere Fluchtweg. Eine Transferunion „would mean a System of transfers from fiscally wellendowed to fiscally constrained parts of the EU, to provide direct funding of public ser-vices” (Bastian et al. 2011). In einer Transferunion würden (etwa nach dem Modell des deutschen Länderfinanzausgleichs) Geberländer die Staatsbudgets von Empfängerländern dauerhaft unterstützten. Der Pfad in Richtung einer Transferunion wird häufig mit dem Prinzip der Solidarität begründet. Christian Callies (2011) erklärt, dass sich durch die Krise Griechenlands sein Verständnis von europäischer Solidarität erweitert habe. Die Übernahme des Schuldendienstes bejaht Calliess, aber er lehnt eine Transferunion ab: „Die EU ist bis heute kein Bundesstaat, sondern ein föderaler Verband von Mitgliedsstaaten. Deshalb kann die Solidarität nicht so weit gehen wie der Länderfinanzausgleich. Es muss und wird auch künftig eine Grenze der gegenseitigen finanziellen Verantwortung geben, die deutlich niedriger liegt.” Habermas geht an diesem Punkt deutlich weiter, wenn er auf Art. 106 GG verweist. „Die Europäische Union kann sich erst zu einem demokratisch verrechtlichten supranationalen Gemeinwesen entwickeln, wenn sie die politischen Steuerungskompetenzen erhält, die nötig sind, um wenigstens innerhalb des Etiro-Raums für eine Konvergenz der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsländer zu sorgen. Die Union muss gewährleisten, was das Grundgesetz der Bundesrepublik (in Art 106, Abs. 2) ,Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse‘ nennt” (2011b, S. 48). In dem Essay über die „Verfassung Europas” findet sich diese Forderung allerdings nur noch in abgeschwächter Form (2011 a, S. 80). Habermas argumentiert an dieser Stelle, dass sich die EU gegen die Finanzspekulation nur dann werde behaupten könne, wenn mittels entsprechender Steuerungskompetenzen mittelfristig eine „Konvergenz der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in den Mitgliedsstaaten” erreicht werde.[1] Auch diese Formulierung weist in Richtung Transferunion.

Die nachfolgenden Ausführungen richten sich gegen den Weg in eine Transferunion. Mein Argument gegen eine Transferunion beruht auf der Diagnose, dass sich in Griechenland Tendenzen zu einer rent seeking economy verstärkt haben, und auf der Wertung, dass Transferzahlungen in eine solche Wirtschaft ökonomisch unsinnig und auch europapolitisch kontraproduktiv sind. Die Analyse des „Falls Griechenland” beansprucht, aus der Perspektive eines EU-Bürgers im Sinne Habermas‘ (2011a) formuliert zu sein, der gerne bereit ist, sich über seine möglichen nationalen Befangenheiten auf-klären zu lassen. Im Anschluss an eine Reflexion auf den Begriff der Solidarität (II) möchte ich den „Fall Griechenland” analysieren (III). Der „Fall Griechenland” scheint ja die Bereitschaft zur transnationalen Solidarität auf eine harte Probe zu stellen, noch bevor sie sich etabliert hat. Der „Fall Griechenland” ist auch nicht nur der Anlass für die „Flucht nach vorn”, sondern kann, ja muss auch herangezogen werden, um die verschiedenen Fluchtwege miteinander zu vergleichen. Zuletzt erörtere ich Vorschläge, wie „gute Europäer” Griechenland wirksamer helfen könnten, und begründe die Forderung nach einem „ökologischen Marshallplan” (IV).

II. Solidarität

Die Idee erweiterter europäischer Solidarität findet sich bei Habermas seit Langem (Habermas 2001, S. 85-103). Es handelt sich konzeptionell um eine „Bürgersolidarität unter Fremden” (2011a, S. 49). Solche Solidarität bedeute, so Habermas, dass „beispielsweise Schweden und Portugiesen bereit sind, füreinander einzustehen“ (2001, S. 101, kursiv im Original). Die supranationale Ausdehnung staatsbürgerlicher Solidarität wird von Habermas als ein möglicher Lernprozess gedacht, der sich nur im Medium einer europäischen Öffentlichkeit vollziehen kann, innerhalb derer Bürger unterschiedlicher Nationalstaaten in einer Doppelrolle aus Unions- und Staatsbürgern über ihre gemeinsamen Angelegenheiten debattieren. Solche gemeinsamen Angelegenheiten sind ihnen durch den bisherigen EU-Integrationsprozess (hierzu Schorkopf 2010) und durch die gegenwärtige Krise gleichsam zugewachsen. Fraglich ist nun allerdings, wie diese eher in Aussicht gestellte als etablierte Solidarität auf die Wahrnehmung von sozialen und ökonomischen Ungleichheiten in unterschiedlichen Wirtschaftskulturen Europas bezogen werden sollte. In den Nationalstaaten der EU bestehen ja vielfältige volkswirtschaftliche Entwicklungspfade, divergierende Steuer-, Transfer- und Rentensysteme, landesinterne soziale Disparitäten zwischen Schichten und zwischen Regionen (bspw. Nord- und Süditalien), Schwerpunkte der wirtschaftlichen Aktivität, Wertschöpfungsund Distributionssysteme, Umweltbedingungen, Begünstigungen durch EU-Förderkulissen vornehmlich für die Landwirtschaft und vieles mehr. Diese vielfältigen Faktoren erschweren die Herausbildung eines gemeinsam geteilten Verständnisses da-für, was das EU-weite „Füreinander Einstehen” bedeuten könnte. Habermas überträgt nun Idee und Konzept der Solidarität auf die Beziehung zwischen Deutschen und Griechen: „Eine erweiterte, wen auch abstraktere, also vergleichsweise weniger belastungsfähige Bürgersolidarität (müsste) die Angehörigen der jeweils anderen europäischen Völker einschließen – aus deutscher Sicht beispielsweise die Griechen, wenn diese international erzwungenen und sozial unausgewogenen Sparprogrammen unterworfen werden” (2011a, S. 76). Wenn man diese knappe und implizit wertende Beschreibung der Situation teilt, liegt der Appell an Solidarität freilich nahe. Das „wenn” im Zitat kann nun als „falls”, als „sobald” oder als ein verkapptes ,jetzt wo“ gelesen werden. Ich nehme zunächst nur den konditionalen Sinn an und wende mich dem Begriff der Solidarität zu, bevor ich mein eigenes Narrativ vorlege.

Im Marxismus war der Begriff der Solidarität auf das Konzept des Klassenkampfes – bezogen. Innerhalb dieses Konzeptes waren die Rollen klar verteilt; es bedurfte keiner langen Debatte, mit welcher Seite man im Falle bspw, eines Streiks solidarisch zu sein hatte. Die Solidarität der Proletarier gründete nicht in Moral, sondern in einer objektiv gleichen Klassenlage. Wer sich der Solidarität verweigerte, galt als Feigling oder Verräter. Diese Art der Solidarität kann hier nicht gemeint sein. Die erweiterte staatsbürgerliche Solidarität kann auch nicht mehr in vorpolitischen Gemeinsamkeiten (Sprache, Geschichte, Kultur) gründen, sondern sich allein im Horizont eines normativen Grundkonsenses, der sich auf nationaler Ebene bislang als Verfassungspatriotismus manifestiert, und in demokratischen Formen politischer Inklusion und Deliberation heraus-bilden [2]. Aussichten auf einen möglichen „Formwandel” (Habermas) der Solidarität motivieren zu begrifflicher Reflexion. Den Formwandel von Solidarität kann nur beurteilen, wer über einen (wie immer vorläufigen) Begriff von Solidarität verfügt.

Begrifflich ist Solidarität nicht mit Zivilcourage, Nothilfe, Spenden usw., nicht mit Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit und nicht mit supererogatorischen Handlungen gleichzusetzen, wenngleich Solidarität sich in der Nachbarschaft dieser Begriffe zu befinden scheint. Solidarität ist ein genuin moralischer Begriff, da wir jemandem, der sich gegenüber anderen solidarisch verhalten soll, berechtigterweise Vorwürfe machen dürfen, ja müssen, wenn er sich unsolidarisch verhält. Das Attribut „unsolidarisch” impliziert einen moralischen Vorwurf. Greift man die obige Formulierung von Habermas auf, so ist die Bereitschaft, füreinander einzustehen, reziprok zu verstehen. Solidarität scheint von Hause aus ein interaktionistischer Begriff zu sein: Person A soll mit Person B in einer bestimmten Situation S aus bestimmten Gründen G solidarisch sein. Solidarität beruht auf Gegenseitigkeit: Wenn A Anspruch auf die Solidarität von B hat, so gilt im umgekehrten Fall Gleiches. Im Prinzip ist man miteinander solidarisch, wenngleich in bestimmten Situationen aus diesem reziproken Miteinander ein asymmetrisches Füreinander wird. Solidarität ist demnach prima facie eine Unternehmung auf Wechselseitigkeit, die aber in bestimmten Situationen zu asymmetrischen Beiträgen und Leistungen führt. Man kann Solidarität also vorläufig verstehen als die wechselseitige Bereitschaft, auf der Grundlage bewährter Reziprozität Opfer zu bringen (vgl. Habermas 2011 a, S. 77).

Akte der Solidarität verlangen ipso facto daher etwas ab (Zeit, Geld, vielleicht ein Risiko für Leib und Leben). Dies bedeutet, dass es keine Solidarität zum „Nulltarif‘ geben kann. Der Sprechakt „Ich bin mit B solidarisch, aber ihr dürft nicht erwarten, dass ich etwas für B tue”, ist pragmatisch inkonsistent. Aus diesem Grund muss jedoch bei Solidaritätsappellen (ähnlich wie bei Forderungen nach distributiver Gerechtigkeit) immer mit der Möglichkeit des strategischen Einsatzes der Moralsprache gerechnet wer-den: Forderungen nach Solidarität können zu dem Zweck erhoben werden, sich Formen von Hilfe, Beistand, materielle Unterstützung, monetäre Zuwendung etc. zu beschaffen. Aufgrund dessen ist Nüchternheit gegenüber Solidaritätsappellen moralisch statthaft.[3]

Sätze, in denen jemand Solidaritätsappelle zurückweist, sind zudem ebenso sinnvoll wie Sätze, in denen Verantwortungszumutungen zurückgewiesen werden. Solidaritätsforderungen mit Gründen abzuweisen ist kein Ausdruck mangelnder Solidarität. Wenn A Zweifel daran hat, ob B Solidarität verdient, ist A nicht unsolidarisch gegenüber B. Akte der Solidarität setzen voraus, dass B einen berechtigten Anspruch auf solche Akte hat. Da Forderungen nach Solidarität gerade in (ökonomischen, sozialen, politischen) Konflikten akut werden, führt an der Beantwortung der Frage kein Weg vorbei, welche Gründe dafür oder dagegen sprechen, durch Akte der Solidarität für eine Seite Partei zu ergreifen. Dies wiederum impliziert, dass es durchaus Fehlsolidarisierungen durch -diagnosen geben kann. In diesem Sinne setzt begründete Solidarität eine Situationsund Konfliktanalyse voraus. Hinzu kommt das moral-hazard-Problem. Es ist möglich, dass A Risiken eingeht, weil er darauf vertraut, dass die Appelle an Solidarität oder Hilfsbereitschaft anderer schon fruchten werden.

Solidarität wird in bestimmten Situationstypen „fällig”. Eine solche Situation kann vorliegen, wenn Persönen, Familien, Firmen, Staaten etc, in finanzielle Notlagen geraten, wenn also Insolvenzen, Notverkäufe, Offenbarungseide, Pfändungen, Räumungsklagen etc, akut drohen. Gesten des Bedauerns sind in diesen Fällen keine hinlängliche Solidarität. Um solidarisch zu sein, genügt es nicht zu sagen, dass mir jemand leidtut. Solidarität bedeutet in solchen Fällen, jemanden durch Bürgschaften, günstige Kredite, Schenkungen oder Transferzahlungen finanziell wirksam „unter die Arme zu greifen”.Solidarität in Fällen finanzieller Notlagen ist nun nicht einfach gelagert; denn es er-scheint kontraintuitiv, jedem Pleitier aus Gründen der Solidarität aus der Patsche helfen zu sollen. Unser common-sense-Verständnis von staatsbürgerlicher Solidarität geht nicht soweit, dass wir für die finanziellen Notlagen unserer Mitbürger einstehen sollen. Wir erwarten nicht, dass A mit seinen Ersparnissen für die „geplatzten” Konsumkredite von B einsteht. Es wäre schrecklich nett, wenn A dies täte, aber Solidaritätsappelle wirkten in solchen Fällen eher deplatziert. Auch liegt keine strikt definierte Reziprozität vor, da das Risiko, in eine finanzielle Notlage zu geraten, teilweise verhaltensabhängig und faktisch ungleich verteilt ist. Kurzum: Aus wirtschaftlichen Notlagen helfen wir Familienangehörigen und, vielleicht, guten Freunden heraus, nicht aber beliebigen Mitbürgern.

Wichtig für die unerlässliche Situationsanalyse ist natürlich die Frage nach den Ursachen der Notlage. Intuitiv macht es einen Unterschied, ob jemand von einer dritten Partei in die Notlage gebracht wird, ob die Notlage durch Pech oder kontingente Naturereignisse verursacht oder ob sie die Konsequenz von ökonomischen Fehlentscheidungen ist, die jemand sich selbst zurechnen lassen muss. Lebensweltlich helfen wir bspw. einer Familie, deren Haus abgebrannt ist, aber nicht einer Familie, die ihr Haus im Casino verspielt hat. Diese idealtypischen Unterscheidungen machen auch dann Sinn, wenn reale Fälle zwischen diesen Polen liegen werden. Je nachdem, wie man die Entstehung der Notlage rückblickend beschreibt, generiert man moralische Unterschiede, da diese Beschreibungen narrative Elemente enthalten und zumeist in einem dichten evaluativen Vokabular verfasst sind. Solidaritätsappelle zugunsten von B sind zumeist dadurch charakterisiert, dass sie auf einem Narrativ beruhen, das andere Personen maßgeblich und schuldhaft für die Notlage von B verantwortlich macht. Diese genealogischen Narrative müssen unter Wahrheitsansprüchen diskursrational annehmbar sein. Wer Solidarität verweigert, ist ein anderes, präsumtiv überzeugenderes Narrativ schuldig.

Worin bestünde nun, nach Art und Ausmaß, die richtige Solidarität mit Griechenland? Da hier keine langfristige und bewährte Reziprozität in staatsfinanziellen Notlagen, sondern ein Präzedenzfall vorliegt, ist unklar, ob und, wenn ja, welche Art und welches Ausmaß an Solidarität andere Länder der EU Griechenland schuldig sind. Diese Grundfrage ist durch die europapolitische Entwicklung der vergangenen Monate keineswegs obsolet geworden; an ihrer Beantwortung bemisst sich vielmehr die Beurteilung der Maßnahmen, die ergriffen wurden, um den Staatsbankrott Griechenlands abzuwenden, und die Forderung nach einer zukünftigen Transferunion.

III. Ein Narrativ zum „Fall Griechen­land“

Wer Griechenland kritisiert, steht im Verdacht, nationalpopulistischen Vorurteilen zu erliegen. Ich setze voraus, dass von allen diskutierten Optionen die Übernahme des Schuldendienstes mit dem nunmehr vereinbarten Schuldenschnitt das kleinere Übel im Vergleich zu einem Staatsbankrott ist, aber meine Argumentation ist von dieser Annahme weitgehend unabhängig. Abwegig ist es jedenfalls, die Finanzhilfen, auf die sich die EU 2011 geeinigt hat, als Ausdruck eines „Neoliberalismus” zu bezeichnen. Im Sinne des echten Neoliberalismus wären ein Staatsbankrott und ein Austritt Griechenlands aus der Eurozone gewesen, also das, was Hans-Werner Sinn fordert und was aus Sicht der guten Europäer vermieden werden soll und bislang vermieden wurde. Calliess (2011) meint, dass neben Klugheitsüberlegungen und der iJberzeugung, die EU als politisches Projekt fortsetzen zu wollen, bereits Solidarität im Spiel ist, wenn die EU-Staaten zeitweilig den Schuldendienst Griechenlands übernehmen und dabei von der entscheidenden Bedingung abweichen, die bei der Bildung der Eurozone festgelegt wurde, nämlich von der no-bail-out-Bedingung, die die Verantwortung für den Schuldendienst bei den nationalen Haushalten beließ. Finanzielle Rettungsschirme sind für bereits „Notmaßnahmen begrenzter Solidarität” (Calliess). Folgt man dem, so wurde Solidarität in erheblichem Ausmaß geübt.4 Bis in den Dezember 2011 war zu beobachten, wie die europäischen Regierungschefs sukzessive eine „rote Linie” nach der anderen überschritten, um den Staatsbankrott Griechenland mitsamt seinen möglichen Folgen auch für die griechischen Banken und für die Sparguthaben griechischer Bürger-innen zu verhindern. Der Formwandel der EZB ist wohl das deutlichste Beispiel hierfür. Der Schuldenschnitt in Höhe von 50 Prozent war für die Banken zuletzt das kleinere Übel und verschafft Griechenland langfristige Perspektiven zur Sanierung.

Die entscheidende Frage lautet somit, ob all diese Maßnahmen begrenzter Solidarität gemäß der ldee einer erweiterten, aber abgeschwächten Solidarität hinreichen oder ob Griechenland aus Solidaritätsgründen längerfristig Anspruch auf mehr Unterstützung,d. h. auf Leistungen im Rahmen einer Transferunion hat. Die Beantwortung dieser Frage ist abhängig von der retrospektiven Beurteilung der Wirtschafts- und Haushaltspolitik Griechenlands. Und da geht es nicht um kleinere „Schummeleien”, über die sich mit einem graecophilen Schmunzeln hinwegsehen lässt. Es ist eher eine Geschichte darüber, wie „leichtes” Geld zu politischer und moralischer Korruption führt.

Vielfach wird die Situation Griechenlands so dargestellt, dass das Land seit 2009 urplötzlich in „Teufelskreise” hineingeraten sei. Dies ist falsch. Die Teufelskreise nahmen ihren Anfang mit dem Beitritt Griechenlands zur EWG bzw. EU. In Griechenland wurde nach der Aufnahme in die EWG im Jahre 1981 die Subventionen und Transferzahlungen aus den EU-Förderkulissen mit günstigen Anleihen von westeuropäischen Banken kombiniert und zum Aufbau des öffentlichen Dienstes genutzt (Lanchester 2011, Makridakis 2011). Die Krise des Jahres 2010 hat sich also lange angebahnt.

Die Einführung des Euros als einer „staatenlosen” Währung war mit Risiken behaftet, denen die EU-Politik durch Konvergenzkriterien und dem Stabilitäts- und Währungspakt sowie einem Haftungsausschluss entgegen wirken wollte. Das Kernproblem einer staatenlosen Währung liegt in den nationalen Parlamenten und deren Haushaltshoheit. Enderlein (2011) hat zu Recht daran erinnert, dass die Einführung des Euro ein politisches Projekt war, das auf einem Kompromiss zwischen zwei in sich schlüssigen Konzepten beruhte. Dieser Kompromiss bestand darin, den Euro ohne einen institutionellen Rahmen einzuführen, „der einen homogenen Wirtschaftsraum aufbaut” (Enderlein). Dieser „Sündenfall” (Enderlein) ist den Griechen nicht anzulasten, aber es ergaben sich nach der Einführung des Euro zunächst viele Möglichkeiten, von einer staatenlosen Währung und ihren Ungleichgewichten auf nationaler Ebene zu profitieren,d.h, das Fehlen des Rahmens auszunutzen und den Anfang der 1980er Jahre eingeschlagenen Politikpfad fortzusetzen.

Die Kriterien Preisstabilität, Zinssätze, Haushaltsdefizit, Schuldenstand, Wechselkursstabilität dienten später der Beurteilung der Stabilitätsreife einzelner Beitrittskandidaten zur Eurozone (Arnswald 2011). Unbestritten ist, dass die ökonomischen Fundamentaldaten die Aufnahme Griechenlands in die Eurozone nicht gerechtfertigt hatten, und dass die statistischen Daten, die Griechenland der EU übermittelt hatte, „frisiert” waren. Da die übrigen Euroländer den Beitritt Griechenland aus politischen Gründen befürworteten, wurde keine allzu scharfe Prüfung der Daten vorgenommen. Viele erwarteten, dass sich die Wirtschaftsentwicklung Griechenlands durch die Mitgliedschaft im Euro-Raum allmählich verbessern werde. Die gemeinsame Währung selbst, so die Hoffnung, werde für ökonomische Konvergenz sorgen.
Griechenland musste in der Spätzeit der Drachme hohe Zinsen auf Staatsanleihen zahlen (teilweise mehr als 13 Prozent). Die Bonität des Euro war für Griechenland kurzfristig vorteilhaft, da das Land zinsgünstige Kredite aufnehmen konnte. Die Banken in den Ländern mit hohen Sparquoten boten diese zinsgünstigen Kredite an, aber letztlich bleiben Kreditnehmer verantwortlich für ihr Tun. Von einer Regierung und einem Parlament der Eurozone wäre zu erwarten gewesen, dass es die langfristigen Folgen der Kreditaufnahme kalkuliert. Ohne derartige Erwartungen macht die Forderung nach stärkerer EU-Integration (oder EU-Erweiterung) von vornherein wenig Sinn. Man kann das Verhalten Griechenlands plausibel als „nachvertraglichen Opportunismus” verstehen (Arnswald 2010). Dies besagt, dass von mehreren Vertragsparteien eine Partei zentralen Bestimmungen des gemeinsamen Vertrages zuwiderhandelt – in diesem Fall den Erfolgsbedingungen des gemeinsamen Projektes namens „Euro”.

Griechenland hatte 1981 Staatsschulden in Höhe ca. 30 Prozent seines BIP, 2010 hingegen lag die Schuldenquote bei 150 Prozent und sie wird sich im nächsten Jahr auf ca. 160 Prozent erhöhen (trotz der Sparmaßnahmen). In absoluten Zahlen stiegen die Schulden von 152 auf 376 Mrd. Euro. Das Leistungsbilanzdefizit lag in dieser Zeit zwischen 7 und 14 Prozent des griechischen BIP. Gleichzeitig stiegen die Reallöhne. Nach Angaben von Prof. Rohde (Greifswald) hatte Griechenland nach 2000 mit Abstand die höchste Lohnentwicklung der gesamten Eurozone. Nominal stieg das Durchschnittseinkommen zwischen 2000 und 2008 von durchschnittlich 14189 auf 21693 Euro, inflationsbereinigt immer noch um ca. 3500 Euro.[5]

Die meisten Ökonomen registrieren ein Auseinanderklaffen zwischen Arbeitsproduktivität bzw. der Konkurrenzposition bei Lohnstückkosten und Reallohnentwicklung. Besonders stark stiegen die Löhne nach 2000 in den staatlichen und halbstaatlichen Betrieben, die größtenteils stark defizitär sind. Dies sind etwa OTE (Telekommunikation), ELPE (Öl), OPAP (Glücksspiel), die Häfen sowie die Stromversorger. In diesen Betrieben ist die Belegschaft gewerkschaftlich gut organisiert und streikbereit, was bei den geplanten Privatisierungen die Investoren eher abschrecken dürfte. Die unterschiedlichen Löhne sind ein internes Gerechtigkeitsproblem für Griechenland und unter Effizienzgesichtspunkten ein falscher Anreiz, da unter dieser Bedingung jeder Arbeiter einen Anreiz hat, in defizitär arbeitende Betriebe zu wechseln.

Weiter ausgebaut wurde nach 2000 vor allem der öffentliche Sektor Griechenlands. Dieser Sektor ist haushaltstechnisch in allen Ländern prekär, da sich immer passable und honorige Gründe für Neueinstellungen vorbringen lassen (Bildung, Gesundheit, Polizei, Verwaltung der Verwaltung usw.), aber die dadurch eingegangenen Verpflichtungen für die Haushalte langfristig enorm sind. Es geht dabei nicht darum, was eine einzelne Beschäftige pro Monat verdient (das mögen in Griechenland kaum mehr als 1000 Euro sein), sondern um Summationseffekte. Griechenland beschäftigt bei einer Bevölkerung von ca. 11 Millionen gegenwärtig insgesamt ca. 768.000 Personen im Staatssektor, dies bedeutet 17 Prozent der arbeitenden Bevölkerung und ein Verhältnis von 5:1 zu den in der freien Wirtschaft Beschäftigten (in Deutschland liegt das Verhältnis bei 18:1). Die Lobby der öffentlichen Dienste ist stark, Kündigungen kaum möglich. Wir sehen über ein Jahrzehnt somit hohe konsumtive Ausgaben (öffentlicher Dienst, Renten) [6], die zu immer größeren Anteilen kreditfinanziert wurden. Griechenland hat sich insofern mehrere Jahrzehnte lang Konsumkredite gegönnt. Der Vertrauensvorschuss, den staatliche gegenüber privaten Kreditnehmern genießen, wurde aufgebraucht. Hin-zukommt noch die (üble) Spekulation mit Kreditausfallversicherungen, die man im Rahmen der nach wie vor überfälligen Regulierung der Finanzmärkte auf ihre Wirkungen hin untersuchen müsste.

Interessanterweise scheint der öffentliche Dienst Griechenlands nicht in der Lage zu sein, die Leistungen zu erbringen, die Bürger angesichts seines Umfanges von ihm er-warten dürfen, nämlich einen effektiven Gesetzesvollzug. Wenn man das Urteil der EU-Kommissarin für Asylpolitik teilt, so scheint Griechenland auch außerstande, seinen humanitären Verpflichtungen gegenüber Asylsuchenden nachzukommen: „In Griechenland ist die Situation ein Desaster” (Malmström 2001). Das Steuersystem scheint nicht in der Lage, die Steuern einzutreiben. Das fakelaki-System gehört offenbar zur Alltagskultur des Umgangs zwischen Bürgern und Behörden. Im internationalen Korruptionsindex liegt Griechenland auf Platz 47 und damit am unteren Rand der EU-Länder [7] Diese Konstellation senkt die Steuermoral. Diese ist extrem niedrig und der Protest gegen die Steuererhöhungen relativiert sich aufgrund der Zweifel, wie viel Geld tatsächlich beim Fiskus eingehen wird. „In den letzten dreißig Jahren wurde der marode Staatsapparat, der bis heute enorme Ressourcen auffrisst, zunehmend zum Hauptproblem der griechischen Misere, bis er das Land in die totale Lähmung trieb” (Markaris 2011). Niels Kadritzke, den ich für einen der besten Kenner der Situation halte, schreibt in einem „Brief aus Athen” (2011), der öffentliche Dienst habe „weniger mit Dienst an der Allgemeinheit zu tun als mit Klientelbeziehungen und mit dem Ziel, sich selbst ein Klientel zu verschaffen.” Damit nähern wir uns allmählich dem Kern des Problems.

Ich behaupte, dass sich in Griechenland nach dem Beitritt zur Eurozone die bestehenden Tendenzen zum rent seeking verstärkt haben. Wenn diese Hypothese sich bestätigt, so hätte der Vorschlag nach Transferzahlungen eine entscheidende Schwäche bzw. übersähe den Punkt, dass diese Transferzahlungen in eine rent seeking economy flössen. Dies verringert die Solidaritätsbereitschaft all derer, die rent seeking economies ökonomisch, rechtlich und letztlich auch moralisch für unattraktiv halten. Ein rent seeking behavior ist in Ökonomien mit hohem Transferaufkommen zwar mikroökonomisch rational (es wäre bspw. Dumm, eine Sinekure auszuschlagen, aus makroökonomischer
Sicht hat es fatale Konsequenzen.[8] Rent seeking wurde primär im Kontext der Entwiciclungsökonomik an Beispielen afrikanischer und asiatischer Staaten untersucht, was aber nicht ausschließt, dass auch EU-Länder die („menschlich-allzumenschlichen“) Tendenzen zum rent seeking wirtschaftpolitisch durch entsprechende Anreizsysteme befördern. Rent seeking findet nun vornehmlich im öffentlichen Sektor und im Kontext von Transfersystemen statt. Rent seeking economies schneiden nach ökonomischer Lehrmeinung makroökonomisch auf Dauer schlecht ab. In ihnen macht sich Patronagewirtschaft, Klientelismus und Nepotismus breit. Investive Tätigkeiten nehmen ab, es werden hohe Transaktions- und Kontrollkosten generiert, es bilden sich von außen schwer durch-schaubare Versorgungssysteme usw. Das Augenmerk der Akteure richtet sich auf die Frage, wie man am besten an Transfersysteme „andocken” kann.[9] Die Effekte von rent seeking auf das Sozialkapital werden unter dem Stichwort misallocation of talent diskutiert (Murphy et al. 1991).

Die Anreize steigen, Renten auf betrügerische Weise zu erlangen, was wiederum die Kontrollkosten erhöht usw. Daher verwundert die Praktik nicht, dass viele Griechen offenbar erfolgreich versuchten, sich jahrelang die Renten Verstorbener auszahlen zu lassen, d. h. die Grenze zum illegalen rent seeking zu überschreiten. Es ist erstaunlich, dass diese Praktik lange Jahre niemandem in den mit reichlich Personal ausgestatteten Organisationen aufzufallen schien. Ins Bild passen auch die Manipulationen im griechischen Profifußball durch illegale Wettkartelle (Konstandaras 2011).

In ihrer (überaus instruktiven) makroökonomischen Modellierung schätzen Angelopoulos et al. (2010) die Größenordnung des legalen und illegalen rent grabbing auf 42.79 Prozent aller Transfers und auf 8.49 Prozent des griechischen Bruttoinlandsproduktes. Diese Modellierung bewegt sich allerdings am unteren Rand, da aufgrund prinzipieller Messprobleme nicht alle Formen des rent seeking erfasst werden können (Angelopoulos et al. 2010, S. 80. Am Ende ihrer Studie gelangen Angelopoulos et al. (2010, S. 26) zu folgendem Werturteil: „The main result is that rent seeking matters to, and hurts, the macro-economy in Greece.” Ein zentrales politisches Ergebnis ihrer Studie ist, dass die Wohlfahrtseffekte eines deutlichen Rückgangs von rent seeking erheblich wären (Angelopoulos et al. 2010, S. 25). Das Beste, was man demnach für Griechenland tun könnte, wäre somit eine Reduktion von Transfers bis zu Schwellen, unterhalb derer rent seeking eine unattraktive Verhaltensstrategie wird. Dauerhafte Transferzahlungen in Richtung Griechenland wären in dieser Perspektive ineffiziente Dauersubventionen einer Versorgungsökonomie, durch die die rent seeking-Tendenzen belohnt und noch weiter verstärkt würde. Eine rent seeking economy hat freilich keine Probleme mit der Absorption von Transferzahlungen in beliebiger Höhe. Sie funktioniert dann eben nicht mehr auf der unhaltbaren Basis von Krediten, sondern auf der stabileren Basis von Transfers – zumindest solange sich freundliche Geberländer finden lassen. Eine dauerhafte Angleichung der Lebensverhältnisse erreicht man auf diese Weise allerdings nur, wenn man die Transfers über die Zeit ständig erhöht, was politisch selbst den besten Europäern in den Geberländern kaum zu vermitteln sein dürfte. Gerade wenn man, wie Habermas, eine kontrovers debattierende EU-weite politische Öffentlichkeit wünscht, kann man sich gerade als „guter Europäer” eine solche Trans-ferkonstellation nicht wirklich wünschen. Solidarität mit Griechenland bestünde gerade darin, Transfers abzulehnen.[10]

IV. Was wäre wirkliche Hilfe für Griechen­land?

Die ökonomischen Ungleichgewichte sind nicht nur von den erfolgreichen, sondern gerade auch von den erfolglosen Ländern der Eurozone verursacht worden. Am Ende der Party steht ein vulgäres Wort: „Wir haben doch alle mitgefressen” (T. Pangelos). Aus politikwissenschaftlicher Perspektive ist es allerdings erklärungsbedürftig, warum in Griechenland über die auf Dauer nicht zukunftsfähige volkswirtschaftliche Grundstruktur kaum ernsthaft diskutiert wurde. Ob die vielen Proteste, Streiks und Demonstrationen Gründe zur Solidarität sind, erscheint mir zweifelhaft. Gewerkschaftsfahnen, Trillerpfeifen, Straßenschlachten, wütende Menschenmengen usw. mögen zwar „linke” Solidaritätsreflexe auslösen, aber man muss eher die claims kritisch prüfen, die auf die-sen Protestkundgebungen geltend gemacht werden. Während hierzulande eifrig vor dem Nationalpopulismus gewarnt wird, ist er, so mein Eindruck, in Griechenland präsent. Die Schlagzeilen der griechischen Tagespresse nach dem EU-Gipfel Ende Oktober 2011 klangen, als sei das Land soeben von feindlichen Mächten besetzt worden. Die griechischen Radikalen sprechen über das Diktat der EU ähnlich wie deutsche EU – Skeptiker.

Gegenaufklärerisch wirkt auch eine sich „links” gebärdende Rhetorik, die „postliberalen Rassismus” und einen „Neokolonialismus Kerneuropas” am Werke sehen (Oulios et al. 2011). Diejenigen Griechen, die darauf hoffen, dass die Krise gleichsam kathartisch „wie -eine riesige unsichtbare Hand wirkt, die alle Steine umwälzt, unter denen bisher der ganze Faulschlamm unserer Gesellschaft verborgen war” (Konstandaras 2011), scheinen bislang in der Minderheit zu sein. Kadritzke (2011) hat allerdings auf eine rhetorische Figur aufmerksam gemacht, mit der Griechen über ihre Lage sprechen. Zunächst wird wortreich auf Finanzspekulanten, Kyria Merkel, Ratingagenturen, korrupte Politiker usw. geschimpft und dann leitet die Rede kaka ta psemata“ (übersetzt etwa: „seien wir doch mal ehrlich”) eine selbstkritischere Beurteilung ein. Es wäre demnach eine falsche Solidarität mit Griechenland, wenn man die besagten Anschuldigungen übernimmt, ohne auf all das zu hören, was anschließend unter dem Vorzeichen des „kaka ta psemata” gesagt wird, nämlich Äußerungen von Selbstkritik und, vor allem, Reformwille.

Gegenwärtig wird in Griechenland das durchschnittliche Lohnniveau auf den Stand der späten 1990er Jahre zurückgesetzt. Das ist bitter, aber nicht menschenverachtend. Wenn Reallöhne innerhalb eines Jahrzehntes (2000-2010) stark steigen und dann innerhalb eines Jahres (2009/10) stark sinken, wird dies, wirtschaftspsychologisch betrachtet, natürlich anders „verspürt”, als wenn sie ein Jahrzehnt pro Jahr kontinuierlich um ca. 1 Prozent steigen. Die Scheinblüte der letzten zehn Jahre entpuppt sich als illusionärer Wohlstand; ihr Ende bedeutet einen herben Einbruch des griechischen BIP. Aber erfordert es die Solidarität, die geplatzten Wohlstandsillusionen durch Transfers zu befestigen? Nein. Sollte man jetzt eine Diskussion über die ethisch-politische Legitimität von Krediten beginnen, wie dies einige Linke fordern, für die die Übeltäter sowieso feststehen (Banken, Spekulanten, Reiche, die deutsche Kanzlerin)? Lieber nicht.

Vielleicht gibt es bessere „Fluchtwege nach vorn”, etwa eine kontrollierte Vorwärtsverteidigung, die zunächst die Risiken des Scheiterns minimiert. Sicherlich sollten die prosperierenden EU-Länder bereits aus Klugheitsgründen Griechenland so viel Unterstützung gewähren, wie nötig ist, damit die Griechen nicht zu der deprimierenden Überzeugung gelangen, in der Vergeblichkeitsfalle einer nie endenden Austeritätspolitik zu stecken. Es wäre wohl auch besser, die Griechen nicht zu raschen Privatisierungen zu nötigen; ähnlich wie in der Bankenkrise die Deutsche Bahn ihren Börsengang verschob. Die Investitionsvoraussetzungen waren 2009 so schlecht wie in keinem anderen Land der EU.[11]jeder Investor hat zu einem Kauf griechischer Betriebe bessere Alternativen. Er wird sich Produkte, Maschinerie, Lohnkosten, Bilanzen, Streiktage, Krankheitsstand, möglichen Absentismus etc, genau anschauen, bevor er sich zum Kauf entschließt. Er wäre dumm, wenn er nicht berücksichtigen würde, dass es sich praktisch um Notverkäufe handelt, die in Eile abgewickelt werden müssen. Die Angebote werden daher niedrig, der Verkaufsdruck wird hoch, die Erlöse also aus Sicht der Griechen enttäuschend sein. Genau dies kann dann zur Bestätigung der Auffassung herangezogen wer-den, dass das Volksvermögen durch „Statthalter” an ausländische Kapitalisten „verscherbelt” werde – und dies würde dem politischen Protest neue Nahrung geben. Privatisierung braucht daher mehr Zeit.

Austauschbeziehungen sind eine Alternative zu Transfers. Daher könnten Hilfen in den Bereichen angebracht sein, in denen Griechenland im EU-Vergleich extrem schlecht abschneidet, z.B. im Bereich von Forschung und Entwicklung.[12] Die Förderkulissen der EU könnten und sollten zur Unterstützung Griechenlands genutzt und Kofinanzierungsauflagen sollte ausgesetzt werden. Sinnvoll wären ein diversifiziertes Exportprofil sowie Maßnahmen, die junge und gut ausgebildete Griechen von der Emigration in den Norden der EU abhalten. Ein „Europa der Projekte” (Schorkopf 2010, S. 188) könnte attraktiver sein als eine Transferunion. Ein Europa der Projekte könnte, um einen anderen guten Europäer aufzugreifen, dionysischer und partizipativer (und damit auch für die Beteiligten intensiver und spannender) sein als das apollinische Modell anonymisierter Zahlungen, das auch einer „linken” Variante der luhmannschen Ökonomik entstammen könnte. Ein Europa der Projekte wäre funktional für die Emergenz einer EU-Öffentlichkeit und der Fähigkeit zu EU-weitem role taking, ohne welches aufrichtige Solidarisierung angesichts unterschiedlicher Herkunftskontexte schwer fällt.

Und freilich können wir aus anderen Gründen für eine Art „grünem Marshallplan” eintreten, der diese Projekte konzeptione einrahmen könnte. Solidarität impliziert Hilfsbereitschaft, aber Hilfsbereitschaft kann sich auch aus anderen moralischen Quellen speisen als einer reziprok verstandenen Solidarität. Der folgende Grund scheint mir diskutabel: In gewisser Weise haben die Griechen uns Unionsbürgern einen Gefallen getan, da wir aus den vielen Fehlern Griechenlands mit Blick auf eine vertiefte Integration Europas lernen könnten. Wir können Griechenland dankbar dafür sein, dass es unfreiwillig allen Europäern die Augen geöffnet haben könnte für die Problematik der Staatsverschuldung. In der zu Ende gehenden Wachstumsepoche (Ott 2011) haben alle Staaten einen „halbierten” Keynesianismus praktiziert, d. h. deficit spending ohne anschließende Schuldentilgung. Der Fall Griechenland führt auch den Ländern, die ihre Staatsverschuldung noch im Griff haben, eindringlich vor Augen, dass permanent steigende Schulden Staaten und Bürger langfristig anfällig, unfrei und erpressbar machen. Man soll die Fehler Griechenlands also nicht schönreden und mit dem Weichzeichner beschreiben, sondern aus ihnen für Europa lernen. Zweitens darf man an den historischen Marshallplan erinnern, nicht um historische Situationen miteinander zu vergleichen, sondern um die Form des Beistandes zu würdigen, dessen Deutschland nach 1945 teilhaftig wurde. Der Marshallplan war nichts, was die besiegten Deutschen aus Gründen der Solidarität hätten einfordern können. Wir Deutsche kamen, freilich im geostrategischen Kontext eines heraufziehenden Kalten Krieges, in den Genuss des Marshallplans „trotz alledem”. Die makroökonomischen Fehler Griechenlands fallen im Vergleich mit den (auch in Griechenland verübten) Gräueltaten der Deutschen nicht ins Gewicht. Das moralische Phänomen, auf das ich aufmerksam machen möchte, ist nun das der Abtragung einer Dankesschuld an einen anderen als an den, dem jemand Dank schuldig ist. In diesem Sinne könnte Hilfsbereitschaft gegenüber Griechenland, die sich als „grüner” Marshallplan manifestieren könnte, aus deutscher Sicht als Abtragung einer Dankesschuld begründet werden.

Die Details eines solchen „grünen Marshallplans” können hier nicht entfaltet werden, ließen sich aber aus einer Theorie „starker” Nachhaltigkeit (Ott, Döring 2008) in Verbindung mit Problemanalysen entwickeln. Eine Ökologisierung der griechischen Landwirtschaft und des Tourismus, Wiederaufforstung der Wälder, Naturschutz vor allem in Nordgriechenland und die Anpassung an den Klimawandel sollten jedenfalls darin enthalten sein.

Ein ökologisch orientierter Marshallplan für Griechenland ist natürlich kein Ersatz für eine vertiefte EU-Integration. Die Idee einer Regelunion als Alternative zur Transferunion gewinnt zuletzt doch wieder an Attraktivität. Die Länder der Eurozone und der EU sollen ihre kulturelle Vielfalt nicht aufgeben müssen. Sie müssten aber eine demokratisch möglichst direkt legitimierte Kontrolle ihrer Finanzpolitiken dulden und damit Einschränkungen ihrer Haushaltssouveränität an ein EU-weites verbindliches Regel-werk abtreten. Diese Abtretung von parlamentarischen Kernkompetenzen ist jedoch gegenüber den eigenen Staatsbürgerinnen nur begründbar, wenn die demokratische Substanz der Haushaltsrechte nicht geschmälert wird. Dies vor allem auch darum, weil die Output-Legitimation der Regeln keineswegs garantiert ist, die primär doch wieder von EU-Eliten beschlossen und umgesetzt werden. Input-Legitimation ist nicht durch Output-Legitimation substituierbar. Eine radikale, aber demokratische Route auf die m. E. unverzichtbare Input-Legitimation einer Regelunion hin wäre die Übertragung von Haushaltsrechten auf das Europäische Parlament.[13] Das Europäische Parlament muss also gestärkt werden.

Wir Deutschen könnten die relativen Konkurrenzpositionen der anderen Ökonomien auch dadurch verbessern, dass wir unsere eigene Konkurrenzposition etwas verschlechtern (und uns dafür etwas mehr Muße gönnen). Die stagnierenden Reallöhne haben in Verbindung mit einer produktivitätssteigernden Investitionstätigkeit während des vergangenen Jahrzehnts zu hohen Leistungsbilanzüberschüssen geführt. Der erfolgreiche

„Aufbau Ost” trägt mittlerweile zur Wirtschaftsleistung Deutschlands bei. Es wäre durchaus im Sinne einer Verringerung von EU-weiten Disparitäten, in Deutschland die gewerkschaftliche Forderung nach der 35-Stundenwoche bei vollem Lohnausgleich zu realisieren (und damit den Einstieg in die 4-Tage-Woche). Anstatt Transfers im Rahmen einer Wachstumsökonomie zu schultern, sollten wir Deutsche uns von der ldee „Griechenland”, wie sie uns der Neuhumanismus überliefert hat, inspirieren lassen, wie es sich gut leben lässt.

[1] Ich bin nicht sicher, ob das stimmt. Dass die Finanzspekulation bekämpft werden sollte, steht außer Frage, aber ich glaube, dass eine direkte gesetzliche Regulierung weitaus effektiver wäre.
[2] Bürgersolidarität ist bei Habermas neben der Konstitution einer Gemeinschaft von Rechtspersonen und einer demokratischen Ermächtigung von Institutionen die dritte Komponente eines politischen Systems. Diese Solidarität kann vom Kernbereich des politischen Systems nicht beliebig erzeugt und erneuert werden, sondern bildet sich für Habermas vor einem politisch-kulturellem Hintergrund im Medium öffentlicher Lernprozesse (2011 a, S. 57).
 [3] Viele, die sich in „linken” Milieus bewegen, dürften die Erfahrung kennen, dass Personen, die häu-
fig und laut nach Solidarität rufen, die reziproken Verhaltenserwartungen bitter enttäuschen.
[4] Deutschland wird bis 2013 in Tranchen insgesamt 22,4 Mrd. Euro als Bareinlage zu den Hilfspake-
ten beisteuern. Hierbei handelt es sich um reale Zahlungen, nicht um Bürgschaften. Dies erschwert
die interne Haushaltskonsolidierung angesichts der „Schuldenbremse” erheblich.
[5] Dies muss bedacht werden, wenn die jetzigen Lohneinbußen skandalisiert werden, d. h. es muss gefragt werden dürfen, auf das Niveau welchen Jahres die Löhne zurückfallen. Viele „linke” Kommentatoren der Krise verfallen an diesem Punkt einer misplaced concreteness, da sie ihren Diagnosen der Lohnentwicklung nur Momentanaufnahmen zugrunde legen.
[6] Stark defizitär ist auch das Rentensystem. Hinzu kamen hohe Militärausgaben und die Kosten für die Olympischen Spiele, also unproduktive Ausgaben.
[7] Als vor einigen Jahren die Waldbrände auf dem Peleponnes wüteten, stellte sich heraus, dass offen-sichtlich nicht einmal flächenscharfe Grundbücher vorhanden waren. Viele Eigentumsrechte scheinen schlecht definiert zu sei.
[8] Theoretisch wurde rent seeking u. a. von Krueger (1974) und Tullock (2003) analysiert.
[9] Das Problem des rent seeking stellt sich auch in Deutschland angesichts der Vorschläge zum massiven Ausbau eines Systems der öffentlichen Daseinsvorsorge.
[10] Könnte man sagen, die internen Verhältnisse von Empfängerländern seien für die Solidaritätsforderung nach Transferzahlungen irrelevant? Die Solidarität würde dann fordern, dass die Geberländer diese Transfers als Alimentierung leisten, ohne dass sie nach den Arten und Weisen ihrer Verteilung in den Empfängerländern fragen dürften, um die nationale Souveränität und die Wirtschaftskultur zu respektieren. Ich gestehe, dass dies mein Verständnis von Solidarität überfordert.
[11] Griechenland rangiert auf Platz 96 von 180 Nationen und damit, wie die FAZ süffisant anmerkt, „zwischen Papua-Neuguinea und der Dominikanischen Republik” (FAZ vom 22. Juni 2011, S. 3).
[12] So hält, um einen Indikator hierfür anzubieten, Deutschland 77, 82 Patente auf 1 Million Einwohner, Griechenland hingegen 0.50.
[13] Die Spannung zwischen Vertiefung und Erweiterung von EU und Eurozone muss offen diskutiert werden; sie betrifft primär die Staaten des Balkan, des Kaukasus und die Türkei. Eine Parallele von Erweiterung und Vertiefung zur Transferunion scheint kein gangbarer „Fluchtweg nach vorn”. Die-se Strategie dürfe keine Input-Legitimation in den Kernländern der EU finden.

Literatur

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