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Editoral

aus: Vorgänge 196 ( Heft 4/2011), S.1

Die Krise ist mittlerweile zu einem Dauerzustand der Europäischen Union ausgewachsen. Das Unvermögen, eine gemeinsame Strategie zu deren Eindämmung zu finden, verweist auf das Gebrechen einer Währungs-Union, der es an einer finanz-, wirtschafts und sozialpolitischen Entsprechung fehlt. In der Medizin ist „Krisis” der Moment einer Krankheit, der über Besserung oder Rückfall entscheidet. Und was zur Bewältigung der Schuldenkrise beraten wird, führt in der Konsequenz entweder zu einem höheren Maß an Integration oder eine Renationalisierung der Union. Während Letzteres von Großbritannien angestrebt wird und, nicht nur dort, der Stimmung der Bevölkerungen zu entsprechen scheint, fehlt es Ersterem an einem attraktiven Leitbild, an einer Zielvorstellung und vor allem an Protagonisten, die sich dafür in die Bresche schmeißen. Die Verve, mit der einst die Vereinigten Staaten von Europa als Konsequenz einer kriegerischen Vergangenheit verfochten wurden, ist verflogen, die Freiheiten, die sich mit dem vereinten Kontinent eröffneten, sind längst auf der Habenseite abgebucht. Mit ihrem wortlosen Pragmatismus der Alternativlosigkeit gibt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel den Ton der weiteren Entwicklung vor. Doch wohin wird sie führen? Soll es, wie es sich nach dem jüngsten Gipfel andeutet, ein Europa zweier Geschwindigkeiten geben? Wie müsste ein Finanzregime ausgestaltet werden, das die Schuldenpolitik der Staaten effektiv kontrolliert und zugleich die Haushaltshoheit der Parlamente achtet? Welche politische Dynamik würde die Einführung einer Transferunion in Gang setzen und welche national(istisch)en Rückwirkungen wären zu erwarten? Welche Konsequenzen hätte eine solche Vertiefung auf die Erweiterung der EU? Genug Fragen, um dem Werdegang Europas diese Ausgabe der vorgänge zu widmen.

Anne Faber geht davon aus, dass die bisher beschlossenen reaktiven Kriseninterventionsmechanismen für eine langfristige Stabilisierung des Euro nicht ausreichen. Soll ein Auseinanderbrechen verhindert werden, sind, über die Fiskalunion hinaus, Schritte zu einer demokratischen Wirtschaftsregierung notwendig. Dies könnte zu neuen Formen einer abgestuften Integration führen.

Für Fritz W. Scharpf ist die Schuldenkrise Ausdruck makroökonomischer Ungleich-gewichte zwischen den Staaten, die sich normalerweise durch Risikozinsen und Wechselkurskorrekturen nivelliert hätten, jedoch im starren Korsett der Währungs-Union allenfalls durch Senkung der Lohnstückkosten und Staatsausgaben ausgeglichen werden können. Doch dadurch wird sich die Krise eher vertiefen.

Daniela Schwarzer konstatiert, dass der wachsenden Krisenanfälligkeit der Mitgliedsstaaten keine Handlungsfähigkeit auf EU-Ebene gegenübersteht. Das bisherige System der Output-legitimierten intergouvernementalen Kooperation stößt an seine Grenzen. Das Demokratiedefizit lässt sich nur durch eine intensive Auseinandersetzung über neue (Entscheidungs-)Strukturen und faire Lastenverteilung angehen.

Konrad Ott sieht in den Transferzahlungen an Griechenland ein falsches Solidaritätsverständnis am Werke, da das Geld das rent-seeking-Problem, das den maroden griechischen Staat in die Krise geführt hat, noch verstärkt. Gefragt seien vielmehr gezielte investive Interventionen, die der wirtschaftlichen Strukturschwäche abhelfen.

Andreas Fisahn erkennt in der Krise das Scheitern des bisherigen Wettbewerbsmodells der Europäischen Union, das einseitig auf wirtschaftliche Freiheiten und die Minimierung von Steuern und Sozialausgaben ausgerichtet war. Er fordert einen neuen Gesellschaftsvertrag, in dem die Finanzmärkte auf eine wirtschaftsdienende Funktion reduziert werden.

Arne Heise weist nach, dass fast alle europäischen Staaten, unabhängig von ihrer sozialstaatlichen Ausprägung, in ihrer Sozialpolitik ökonomischen und fiskalischen Prioritäten folgen, und bezweifelt, dass sich die dabei erhofften Konsolidierungen erreichen lassen. Die Hoffnung, dass sich in der Bewältigung der Finanzkrise das Europäische Sozialmodell als Integrationsmodus erweist, hat sich vorerst zerschlagen.

Christa Randzio-Plath sieht die Gefahr, dass die politische Legitimation, die sich die Europäische Union durch ihre wirtschaftlichen Erfolge und Wohlfahrtsgewinne erarbeitet hat, durch die Krise aufs Spiel gesetzt wird, und plädiert für eine verstärkte politische Integration.
Ivan Krastev und Mark Leopard nehmen Abschied von einem europäischen Fortschrittsbegriff, in dessen Zentrum die EU und die NATO stehen. Vielmehr sei von einem Ordnungsgefüge auszugehen, dessen Pole durch eine integrationsorientierte EU, durch ein sich wirtschaftlich konsolidierendes Russland und eine post-kemalitische Türkei sowie einem dazwischen lagernden Band instabiler post-sozialistischer Staaten markiert werden. Statt einer Politik der Machtbalance sei ein die wechselseitigen Abhängigkeiten berücksichtigender Staatsaufbau gefordert.

Florian Hartleb analysiert die rechtspopulistischen Tendenzen, die in unterschiedlichem Ausmaß die Politik einiger Staaten der EU beeinflussen, und plädiert dafür, nicht jede euroskeptische Regung unter diese Tendenzen zu subsumieren, sondern als Kritik an einer vornehmlich von Eliten betriebenen europäischen Politik, der es an demokratischer Legitimation mangelt, zu begreifen.
Alexandra Lindenthai attestiert der Europäischen Union, in der Umweltpolitik nicht nur im internationalen Kontext, sondern auch gegenüber den Mitgliedstaaten eine progressive Rolle zu spielen.

Im Essay hinterfragt Markus Holzfinger das Habermassche Konzept einer demokratischen Weltordnung. Trotz aller Fortschritte deliberativer Partizipation und Entscheidungsfindung liegt das harte Geschäft der (auch militärischen) Rechtsdurchsetzung beieinem Verbundsystem von Nationalstaaten, deren Handlungsmotive sich nicht nur aus Wertorientierungen, sondern auch aus Interessen speisen.
Klaus-Michael Kodalle ist erstaunt über den Zuspruch, den die Rede Papst Benedikts XVI. vor dem Deutschen Bundestag von den Parlamentariern erhalten hat, operiert sie doch mit einem Wahrheitsverständnis und einem Vernunftbegriff, die in ihrer Gottesverwiesenheit und Naturrechtlichkeit all dem widersprechen, was demokratische Rechtsetzung und Willensbildung auszeichnet.

Joachim Perels sieht in dem Buch „Kriegsverbrecher vor Gericht” von Fritz Bauer eine Richtung weisende Auseinandersetzung mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Ich wünsche Ihnen zu dieser Ausgabe der vorgänge wie immer eine anregende Lektüre.

Noch eine Ankündigung in eigener Sache: Auch die vorgänge können sich von der allgemeinen Kostenentwicklung nicht abkoppeln, ab der kommenden Ausgabe (112012) wird sich der Preis des Einzelheftes auf 18 Euro und der des Abonnements auf 59 Euro (ermäßigt 39 Euro) erhöhen.

Ihr

Dieter Rulff

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