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Europa braucht einen neuen Gesell­schafts­ver­trag

aus: Vorgänge 196 ( Heft 4/2011), S. 48-60

1. Politische Symbolik

Die politische Symbolik lässt an Klarheit kaum Wünsche offen: Als der ehemalige griechische Ministerpräsident Giorgos Papandreou ankündigte, er wolle über sein Sparprogramm eine Volksabstimmung durchführen, ging ein Aufschrei durch Europa. Mit mehr oder weniger offenen Drohungen wurde Papandreou von den politischen „Eliten” Europas unter Druck gesetzt, das Projekt zu stornieren. Die Kurse an der Wall Street fielen und der Dax gab zeitweise um 5 Prozent nach. Papandreou sah sich schließlich zum Rückzug gezwungen, was mit allgemeiner Erleichterung zur Kenntnis genommen wurde. Kommentiert wurde die Ankündigung der Volksabstimmung als Schachzug Papandreous, um sich Legitimation für die Sparpolitik zu beschaffen – aber eben als riskanter Schachzug. Nur wenige hielten dagegen und erklärten es für eine gute demokratische Praxis, bei existenziellen Entscheidungen für ein Land, die Bevölkerung abstimmen zu lassen.

Das nächste Symbol folgte unmittelbar: die gewählten Regierungen in Griechenland und Italien wurden durch „Experten“-Regierungen ersetzt, deren Legitimation höchst fragwürdig ist, die sich aber bereit erklärten, die wirtschaftspolitischen Vorgaben der EU technisch einwandfrei und zügig umzusetzen. Auch das demokratische Verfahren der repräsentativen Demokratie wird kurzerhand ausgesetzt. Die nationalen Parlamente dürfen nur noch akklamieren oder werden gar – wie in Griechenland -genötigt, sich auch für die Zukunft auf wirtschaftspolitische Austerität zu verpflichten.

Schließlich stellte sich Volker Kauder auf dem Parteitag der CDU vor die Delegierten und erklärte: „Jetzt auf einmal wird in Europa Deutsch gesprochen.” In dem Satz fehlte nur noch ein „wieder”. Die europäischen Nachbarn haben es aber so verstanden und reagierten entsprechend empört auf den Führungsanspruch aus Deutschland. Die Symbolik weist die Richtung: Die Demokratie in Europa wird ausgehebelt und Deutschland gibt das Kommando. Auf einer analytischeren Ebene lässt sich die These formulieren, dass sich Europa inmitten eines Modellwechsels befindet, den man beschreiben könnte als Übergang von der Standortkonkurrenz zur autoritären Wirtschaftsregierung. Diese These soll nun begründet werden.

II. Europa als Zollunion

Die Europäische Union hat sich seit ihrer Gründung von einer Zollunion mit einem starken Zug zur staatlichen Kontrolle der Wirtschaft über eine Freihandelszone zu einer Union der Kapitalverkehrsfreiheit entwickelt. In den Gründungsdokumenten der EWG, den Römischen Verträgen von 1957 wurde die Zollunion zur Grundlage der Gemeinschaft erklärt (Art. 9) und die Bedingungen normativ aufgefächert, wie Zölle abgebaut und gemeinsame Zölle entwickelt werden sollen. Im geltenden Lissabonner Vertrag bleibt die Zollunion Grundlage der Gemeinschaft, aber es erübrigt sich, präzise Kautelen zu normieren. Die Aufgabe wird schlicht der Kommission übertragen.

Der Zollunion von 1957 war die „Gemeinschaft für Kohle und Stahl” (EGKS), die Montanunion, vorangegangen, was dem Gesamtgebilde einen anderen Charakter verlieh als die heute vertraglich geltende Konkurrenzordnung. Mit der Montanunion wurde zwischen Deutschland und Frankreich schon 1951 eine Zollunion für Kohle und Stahl vereinbart, gleichzeitig wurde die Kohle und Stahlindustrie einer gemeinsamen Kontrolle unterworfen. Das war für die junge Bundesrepublik die Chance, die im so genannten Ruhrstatut geregelten Beschränkungen und damit verbunden Ängste vor Demontage zu beseitigen, während Frankreich sich versprach, Zugang zu den umfangreichen Kohle-und Stahlvorkommen in der BRD zu erhalten. Einig war man sich außerdem, dass eine gemeinsame Kontrolle und Verfügung über die Ressourcen die kriegswichtigen Industrien und gleichzeitig – vorsichtig formuliert – „kriegsinteressierten” Industrien erstens eine zukünftige autoritäre Wendung in Deutschland und zweitens zukünftige kriegerische Konfrontationen zwischen beiden Staaten verhindern könne.

Auf deutscher Seite trieb Adenauer mit der Montanunion die Westintegration der BRD voran, während Ludwig Erhard zunächst Vorbehalte gegen die EGKS hatte, weil er ein „Missverhältnis zwischen dem französischen Preisniveau und dem amtlichen französischen Wechselkurs” sah, das „zweifellos ein Störungselement“[1] darstellen würde. Schon Erhard befürchtete einen Verlust nationaler Souveränität, wenn die Sektoren der nationalen Wirtschaftspolitik vergemeinschaftet würden. Die Zielformulierungen des Vertrages von 1951 unterscheiden sich von der heute propagierten „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaft der Welt” deutlich. Ziel war die „geordnete Versorgung des gemeinsamen Marktes”, allen Verbrauchern des gemeinsamen Marktes gleichen Zugang zu den Produkten zu ermöglichen sowie auf „eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter hinzuwirken” (Art. 3 EGKS-Vertrag). Der Vertrag sah eine Preiskontrolle und entsprechende Interventionen durch die „hohe Behörde” vor und normierte – anders als der Lissabonner Vertrag – eine eigenständige Kompetenz, Abgaben zu erheben (Art. 49 EGKS-Verlrag).

Die Römischen Verträge legten den Grundstein für eine Freihandelsunion über die Zollunion hinaus, indem sich erstmals das Verbot mengenmäßiger Einfuhrbeschränkungen sowie aller Maßnahmen gleicher Wirkung im Text des Vertrages findet, was aber sofort wieder relativiert wurde. Die vorhandenen Beschränkungen sollten Schritt für Schritt beseitigt werden – letztlich unter dem Vorbehalt: soweit die „wirtschaftliche Gesamtlage und die Lage des betreffenden Wirtschaftszweiges dies zulassen” (Art. 35 EWG-Vertrag).

II. Stand­ort­kon­kur­renz

Diese Klausel mit dem Verbot „mengenmäßiger Beschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung” schlummerte bis Ende der 1970er Jahre weitgehend unbeachtet vor sich hin, wurde dann allerdings Mitte der 1970er Jahre noch vor der „Einheitlichen Europäischen Akte”, mit der 1987 politisch der Binnenmarkt beschlossen wurde, vom EuGH aus dem Dornröschenschlaf gerissen. Der EuGH betätigte sich euphemistisch gesprochen als „Motor der Integration”, kritisch lässt sich von einem Startschuss in die neoliberale Konkurrenzordnung sprechen, der von dem Gericht gegeben wurde. In der so genannten Dassonville-Entscheidung[2] subsumierte das Gericht weitgehend alle nationalen Produktregelungen, welchen Zweck sie auch immer verfolgten, der „Maßnahme gleicher Wirkung”, die ebenso wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung nach den Verträgen verboten sei. Das war natürlich zu weit nach vorn galoppiert und in späteren Entscheidungen[3] musste das Gericht zurückrudern und bestimmte Regulierungsgründe wie etwa die menschliche Gesundheit für zulässig erklären.[4] Das Signal war aber angekommen: Der EuGH nahm sich das Recht heraus, direkt aus dem Primärrecht wirtschaftspolitische Pflichten für die Staaten abzuleiten und zwar Deregulierungspflichten mit Blick auf die Warenverkehrsfreiheit. Das ist ein schönes Beispiel für nicht intendierte Folgen rechtlicher Regelungen und die zeitliche Verzögerung, mit der diese auftreten können. Denn selbstverständlich hatte 1957 kein Mensch daran gedacht, dass das Verbot „mengenmäßiger Beschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkungen” einst dazu herhalten müsste, das Reinheitsgebot für deutsches Bier als europarechtswidrig zu kippen.[5] Umgekehrt: Der Auftakt zum Marsch in die Wettbewerbsordnung war von einem keineswegs dazu legitimierten Organ gesetzt, wurde aber allzu gern aufgegriffen. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1987 und dem Maastricht-Vertrag von 1992 machte sich die Union auf in den einheitlichen Binnenmarkt und in die Währungsunion.

Der Binnenmarkt wird konzipiert als Wettbewerbsordnung, in der zunächst die Unternehmen der Mitgliedstaaten konkurrieren sollen, was, so die Theorie, am Ende zu einer Wohlstandsmehrung für alle führen soll. Der Lissabonner Vertrag hält sich mit diesem Prinzip als Grundsatz der Wirtschaftspolitik auch gar nicht zurück.[6] Diese solle – so Art. 120 AEUV – „im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, wodurch ein effizienter Einsatz der Ressourcen gefördert wird,” stehen,‘ Der Wettbewerb braucht nicht nur einen Abbau der Zollschranken und Ein fuhrbeschränkungen, sondern muss dem Prinzip der Nichtdiskriminierung folgen, d. h. muss so genannten Wettbewerbsverzerrungen den Kampf ansagen. Die EU musste für den wettbewerbsfähigsten Raum der Welt eine Ordnung ohne „Wettbewerbsverzerrungen” schaffen. Und eine solche Ordnung stellt sich keineswegs von selbst her. Sie braucht Regeln unmittelbar für den Wettbewerb wie das Verbot mengenmäßiger Beschränkungen oder ein europäisches Kartellrecht. Sie braucht schließlich Regeln, um mittelbar gleiche Bedingungen zu schaffen beispielsweise umweltrechtliche Regeln, über die auch vergleichbare Kosten für die Unternehmen hergestellt werden.

Auch eine Wettbewerbsordnung braucht Rahmenbedingungen. Konkurriert werden soll um die ökonomische Effizienz, was vergleichbare Startbedingungen und Parcoursvoraussetzt. Deshalb hat sich die Europäische Union daran gemacht, Rechtsvorschriften im Bereich des Kapital- und Warenverkehrs zu harmonisieren, für alle Mitgliedstaaten einen annähernd gleichen Rechtsrahmen für den „freien” Waren- und Kapitalverkehr zu schaffen. Das fängt an mit Mindeststandards im Umweltrecht und endet längst nicht bei den Qualitätsanforderungen an die Waren zur Herstellung von Kompatibilität. Kurz: Zum Zwecke der Herstellung eines europäischen Binnenmarktes werden die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten über das Europarecht harmonisiert.

Es gibt zwei wichtige Ausnahmen von der Harmonisierung: Steuern und Soziales. Im Bereich des Steuerrechts kann die EU nur einstimmige Entscheidungen und diese nur über indirekte Steuern treffen (Art. 113 AEUV). Das Problem der Einstimmigkeit wird gegenwärtig in der Diskussion um die Transaktionssteuer sichtbar, die allein am Veto Großbritanniens scheitern dürfte. Die wichtigen Kapitalsteuern, die z. Z. wegen der niedrigen Sätze in Irland und den östlichen EU Ländern in der Diskussion sind, fallen nicht in die‘ Rechtsetzungskompetenz der EU; die angestrebte Vereinheitlichung kann nur über eine Vertragsänderung oder neben den Verträgen hergestellt werden. Der Rettungsschirm für Irland wurde u. a. mit der Auflage verbunden, die Steuern zu erhöhen. Dabei hat Irland folgerichtig gehandelt, d. h. die Konstruktion der EU-Verträge ernst genommen oder ausgenutzt. In den EU Verträgen ist nicht nur die Konkurrenz zwischen den Unternehmen, sondern auch zwischen den Staaten als Standortkonkurrenz normiert – vor allem als Konkurrenz um niedrige Steuern, Löhne und Sozialabgaben.

Die Kompetenzvorschriften im AEUV zur Sozialgesetzgebung sind etwas komplizierter als die kurze Kompetenzvorschrift im Bereich des Steuerrechts. Auch hier wird mit Einstimmigkeitsregein gearbeitet, werden die Kompetenzen explizit eng gefasst und Schutzklauseln etwa für kleine und mittlere Unternehmen normiert. Kurz: Es gibt zwar Kompetenzen der EU im Bereich der Sozialgesetzgebung, aber sehr eingeschränkte, so dass diese als zweites wichtiges Feld der Standortkonkurrenz zwischen den Mitgliedstaaten definiert wird. Der Druck auf die Sozialsysteme lässt sich mit Händen greifen.

Der Wettbewerb des EU-Binnenmarktes findet keineswegs nur zwischen den Unter-nehmen statt, sondern auch zwischen den Nationalstaaten als Konkurrenz um Unternehmensansiedlungen. Die Kohl-Regierung hat dies in den 1990er Jahren geradezu zum Regierungsprogramm erhoben: Good Governance ist gute Standortpolitik. Das war nicht konservative Ideologie, sondern folgt zwingend aus den strukturellen Vorgaben der europäischen Verträge. Die Nationalstaaten werden zu Standorten: Politik reduziert sich auf die Bereitstellung günstiger Standortfaktoren – der Staat wird zum Wettbewerbsstaat.[8] Wenn aber weite Bereiche des i. w. S. Wirtschaftsrechts harmonisiert sind, kann der Wettbewerb, die Standortkonkurrenz nur in den nicht harmonisierten Bereichen stattfinden, d. h. im Steuerrecht und Sozialrecht. Standortwettbewerb im Steuer-recht lässt aber nur eine Entscheidung offen: Die Unternehmenssteuern senken! Oder allgemeiner gesprochen: die Belastungen für die Unternehmen. Genau diese Politik verfolgt die Bundesrepublik seit mehreren Jahrzehnten.

Eine Standortkonkurrenz um niedrige Steuern und sonstige Abgaben muss im Ergebnis dazu führen, dass die Haushalte auf der Einnahmeseite wegbrechen und sich die Staaten folglich verschulden. Die Abgabenquote sank im Euroraum nach Angaben von Eurostat von 41,2 Prozent im Jahre 2000 auf 39,7 Prozent im Jahre 2008, ähnlich sehen die Zahlen für Deutschland aus, die Quote fiel im gleichen Zeitraum von 41,9 Prozent auf 39,3 Prozent. Der Spitzensteuersatz für Einkommen- und Körperschaftssteuer sank zwischen 2000 und 2008 im Euroraum von 48,4 Prozent auf 42,4 Prozent. Die höchsten Rückgänge bei der Einkommen- und Körperschaftssteuer sind zwischen 2000 und 2008 in Bulgarien (von 32,5 Prozent auf 10,0 Prozent), Deutschland (von 51,6 Prozent auf 29,8 Proeznt), Zypern (von 29,0 Prozent auf 10,0 Prozent) und Griechenland (von 40,0 Prozent auf 24,0 Prozent) zu verzeichnen .9 Dabei verzichtet nicht etwa nur Griechenland inoffiziell darauf Steuern einzutreiben. Der Bundesrechnungshof bemerkte zur Quote der Steuerprüfungen in der BRD: „Die Prüfungsquote schwankt im Ländervergleich. Für das Jahr 2004 liegt die Prüfungsquote zwischen rd. 3,5 Prozent in Sachsen-Anhalt und rd. 1,3 Prozent in Bayern bzw, rd. 1,35 Prozent in Hessen. Noch im Jahr 1994 reichte die Schwankungsbreite von 8,5 Prozent in Brandenburg bis 0,6 Prozent in Hessen. Inzwischen hat man sich im niedrigen Bereich eingependelt.“[10] Die Prüfquote sinkt, um sich vermeintliche oder wirkliche Standortvorteile zu verschaffen.

III. Destruk­tiv­kraft der Finanz­märkte

Die in den Verträgen der Warenverkehrsfreiheit gleichgeordnete Dienstleistungsfreiheit und Kapitalverkehrsfreiheit wurde erst im neuen Jahrtausend voll „entfaltet”. Der Vor-schlag des Kommissars Bolkestein für eine Dienstleistungsrichtlinie [11] schaffte erstmals so etwas wie eine europäische Protestöffentlichkeit gegen diese Richtlinie. Mit ihr wurde für die Dienstleistungen ein europaweiter Binnenmarkt geschaffen, indem einheitliche Rahmenbedingungen für alle Dienstleistungen in ganz Europa erlassen, und damit ein Wettbewerb vor allem zwischen den Arbeitsvermittlern geschaffen wurde, die in der Lage sein sollen, Arbeitnehmer aus jedem Mitgliedsland in jedem anderen Mitgliedsland einsetzen zu können. Der EuGH tat das Seinige, um auch im Dienstleistungsbereich „unverzerrten Wettbewerb” durchzusetzen. Er hat Ende 2007 zwei Bömbchen explodieren lassen, indem er in den Fällen Viking[12] und Laval[13] das Streikrecht mehr oder weniger zu Gunsten der Europäischen Wirtschaftsfreiheiten ausgehebelt hat. Das muss zu einem innereuropäischen Lohnwettbewerb führen, der die Länder mit höheren Löhnen wie Skandinavien und selbst Deutschland im Vergleich zu z. B. Rumänien unter Lohndruck setzt, d, h. Lohndumping provoziert. Das Resultat lässt sich an den Lohnentwicklungen der letzten Jahre in Deutschland ablesen.

Die europäische Harmonisierung erfolgte nur in einem Bereich ausschließlich als Deregulierung – nämlich im Bereich des Kapitalverkehrs, d. h. im Bereich der Finanz-märkte. Hier normieren die Verträge ein Liberalisierungsgebot und auch im Verhältnis zu Drittstaaten ein Re-Regulierungsverbot (Art. 63 f AEUV). Entsprechend wurde agiert: Kapitalverkehrskontrollen der Mitgliedstaaten wurden in der Form von Einfuhrgenehmigungen vom EuGH verboten[14] und von den Mitgliedstaaten in den 1990er Jahren in den unterschiedlichsten Formen abgeschafft.[15] Die rot-grüne Bundesregierung setzte in Deutschland, veranlasst durch eine Änderung der OGAW-Richtlinie [16] der EU, im Jahre 2004 mit dem Investmentmodernisierungsgesetz“ das I-Tüpfelchen bei der Deregulierung der deutschen Finanzmärkte und beklagte sich anschließend über den Einfall der Heuschrecken.

Die Freisetzung der Finanzmärkte war nicht nur ein europäisches Phänomen, sondern auch Teil der Politik der WTO und der G 20. Nach dem großen Finanzmarktcrash im Jahre 2007/ 08 verabschiedeten die Regierungschefs der G20 Staaten eine Erklärung, die angesichts der vorangegangenen Liberalisierungsorgien wie der Gang nach Canossa anmutete. Spiegel-Online titelte im April 2009 zum G20-Treffen: „Die Liste der Ziele, die sich die Regierungschefs der G20-Staaten in London gesteckt hatten, war lang: eine internationale Aufsichtsbehörde für die Akteure auf den Finanzmärkten, ein TÜV für Derivate und andere undurchsichtige Finanzprodukte, Kampf gegen die Steuerparadiese.“[18] Von diesen Ankündigungen wurde nicht viel umgesetzt, der Gang nach Canossa blieb Symbolpolitik. Die Regulierungsbemühungen der EU bleiben dem Marktfetisch verhaftet, d. h. die Richtung der Rechtssetzung unterstellt, dass transparente und offene Märkte, rationale Ergebnisse produzieren und ein Gleichgewicht finden. Folglich unter-bleiben staatliche Eingriffe weitgehend,[19] Unübersehbares Indiz für die unzureichende Regulierung der Finanzmärkte sind die Stresstests der neuen Bankenaufsicht der EU, der EBA. Die Testergebnisse des Juni 2011 muss die EBA schon ein knappes halbes Jahr später offiziell für unzureichend erklären, um im November 2011 einen nun echten Krisen-Stresstest durchzufiihren.[20]

IV. Rettungs­schirme

Die europäische Schuldenkrise wird im herrschenden Diskurs von der Finanzmarktkrise isoliert als eigenständige Krise behandelt, die zwar möglicherweise eine Stabilisierung der „Finanzindustrie” nötig macht, ihre Ursache aber nicht in den deregulierten Finanzmärkten hat und Ergebnis der Krisenintervention aus dem Jahre 2009 ist, sondern der schludrigen Finanzpolitik der „Krisenstaaten” zugerechnet wird. Tatsächlich machten die Schulden der Mitgliedstaaten mit den Rettungsschirmen für die Banken und den Konjunkturprogrammen des Jahres 2009 einen gewaltigen Sprung nach oben. Griechenland hatte im Jahre 2007 noch eine Gesamtverschuldung von 105 Prozent des BIP, was allerdings deutlich über den 60 Prozent, die nach den Maastricht Kriterien erlaubt sind, liegt. Nach OECD Angaben stieg die Quote 2009 allerdings auf 131,6 Prozent und kletterte über 147,3 Prozent auf 157,1 Prozent für das Jahr 2011.[21] Während Griechenland seine Gesamtschulden zwischen 2000 und 2007 um 3,3 Prozent reduzieren konnte, stiegen sie zwischen 2008-10 um 42,2 Prozent. Auch Deutschland konnte sich diesem Trend nicht entziehen. Lagen die Gesamtschulden 2008 mit 66,3 Prozent schon über der erlaubten Maastricht Grenze, kletterten sie bis 2010 auf 80 Prozent, wo sie nach Schätzungen der OECD auch in 2011/12 liegen werden.

Anfang 2010 begann das „griechische Drama”. Gegen Griechenland leitete die Kommission ein Verfahren wegen Verstoßes gegen die Maastricht Kriterien ein und „empfahl” dem Staat erstmalig ein hartes Sparprogramm. Im März wurde der (provisorische) ESFM[22] eingerichtet und mit 60 Mrd. Euro ausgestattet, um Griechenland kurzfristig zu helfen. Am 10. Mai 2010 beschloss der ECOFIN[23] den EFSF[24] einzurichten, um die überschuldeten Staaten mit Liquidität zu versorgen. Dieser verfügte zunächst über Finanzmittel von 440 Mrd. Euro, die von den EU Mitgliedstaaten garantiert werden, weiteren 60 Mrd. aus dem EU-Etat und weiteren 250 Mrd. Euro, die vom IWF bereitgestellt werden sollen.[25] Griechenland, Portugal und Irland refinanzierten ihre Schulden mit Geldern des EFSF. Im Juni 2011 wurde beschlossen den EFSF, der 2013 auslaufen sollte, in eine permanente Institution, die dann den Namen ESM[26] erhält, umzuwandeln. Im Juli 2011 wurde der EFSF finanziell aufgestockt, indem die Garantiesumme der Mitgliedstaaten von 440 Mrd. auf 780 Mrd. erhöht wurde [27]. Außerdem wurde vereinbart, ihn flexibler agieren zu lassen. Der Fonds soll berechtigt sein, am Sekundärmarkt Staatsanleihen aufzukaufen und präventiv Darlehen an Regierungen vergeben dürfen, um „die Märkte” zu stabilisieren[28] Schließlich soll das Volumen des Fonds „gehebelt” werden, indem er selbst Anleihen begibt.

Mit den Krediten verordnete die EU (über den EFSF) den Schuldnerstaaten ein brutales Austeritäts- und Sparprogramm. Angeordnet wurde die Senkung der Gehälter nicht nur der öffentlich Bediensteten, sondern Maßnahmen, um „Flexicurity” auf dem Arbeitsmarkt herzustellen, womit in guter Orwellscher Tradition versucht wird, den Abbau von Kündigungs- und sonstigen Schutzvorschriften für Arbeitnehmer mit dem Begriff Sicherheit zu verbinden. Verordnet wird allgemein eine Privatisierung öffentlicher Betriebe, konkreter eine Änderung, d, h, im Zweifel Privatisierung des Renten- und Gesundheitssystems und nach schlechtem deutschen Vorbild die Erhöhung des Rentenalters auf 67. Sozialleistungen sollen allgemein gekürzt werden; die Liste muss nicht explizit verlängert werden – die Richtung dürfte klar sein. Im Fall Irlands ist erstmalig eine Steuererhöhung als Mittel der Wahl in die Diskussion gebracht worden. Die irische Regierung hat darauf beschlossen, die Unternehmensteuer auf dem niedrigen Satz von 12,5 Prozent zu belassen, dafür aber die Mehrwertsteuer bis 2014 auf 24 Prozent anzuheben.[29]

Die „Strukturmaßnahmen” wurden den Schuldnerstaaten gleichsam im Wege der Verhandlungen abgetrotzt – Geld gibt es nur gegen die Verschärfung des neoliberalen Regimes. Insbesondere die deutsche Regierung unternahm bald Anstrengungen, diese spezifische Form der europäischen Wirtschaftsregierung auf eine dauerhafte rechtliche Grundlage zu stellen. Im ersten Schritt initiierte sie den „Pakt für den Euro”, den die Staats- und Regierungschefs der Euro-Länder im März 2011 beschlossen[30] und der von den übrigen EU-Regierungschefs einen Monat später übernommen wurde. Der Pakt für den Euro ist kein Rechtsakt der Europäischen Union, ist also nicht rechtlich bindend, sondern eine politische Absichtserklärung, die sich aber auf dem Weg der Umsetzung befindet. Ziel des Paktes ist, dass die Mitgliedstaaten zukünftig im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik gemeinsame Ziele vereinbaren und diese gleichsam runter-brechen auf „konkrete nationale Verpflichtungen”, die sie jedes Jahr eingehen und deren Umsetzung von der Kommission mittels jährlicher Berichte im so genannten. „Europäischen Semester” überwacht wird.

Im Vordergrund des Paktes steht die Reduktion der Haushaltsdefizite durch eine Verschärfung der so genannten Maastrichtkriterien, also des Stabilitätspaktes. Um die Staatsverschuldung zu reduzieren, sei „eine strukturelle Haushaltsanpassung von deutlich mehr als 0,5 Prozent des BIP pro Jahr erforderlich.” Um eine Senkung der Gesamtverschuldung, die inzwischen bei fast allen Euro-Ländern über 60 Prozent liegt, zu er-reichen, wird den Staaten eine Schuldenbremse vorgeschlagen. Vorbild ist natürlich die deutsche Schuldenbremse, die eine Neuverschuldung über 0,35 Prozent des BIP verbietet [31] Dazu soll es eine zentrale Europäische Koordinierung und Überwachung der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Mitgliedstaaten geben. Weiter geht es um ein zentral koordiniertes Benchmarking der Lohnkosten. Die Entwicklung der Löhne soll gebremst werden, wenn die Lohnstückkosten gegenüber den anderen Mitgliedstaaten zu hoch geraten. Umgekehrt meint der Pakt immer noch, die Produktivität durch Privatisierung, Marktöffnungen und Beschleunigung von Verwaltungsverfahren verbessern zu können. Die Beschäftigung soll durch „Flexicurity” und durch Steuersenkung gefördert werden.Die „Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen” soll durch die „langfristige Tragfähigkeit von Renten, Gesundheitsvorsorge und Sozialleistungen” verbessert werden – gemeint sind natürlich Kürzungen im gesamten Bereich der Sozialleistungen und die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters. Vergleichsweise neu ist folgender Vorschlag: „Über die vorgenannten Fragen hinaus wird der Koordinierung der Steuerpolitik Auf merksamkeit gewidmet.[32] Das geht ans Eingemachte der nationalen Souveränität.

V. „Sixpack”

Die Kommission[33] hatte im September 2010 ein Gesetzespaket vorgeschlagen, das die Euro-Bürokraten in einem Anflug von schwarzem Humor als „Sixpack” bezeichneten, weil es aus sechs verschiedenen Gesetzesvorschlägen besteht, die im November vom Ecofin angenommen wurden. [34] Das „Sixpack” lässt sich in Teilen schon als Umsetzung des Paktes für den Euro verstehen. Mit dem „Sixpack” soll die gesetzliche Grundlage für einen „gemeinsamen haushaltspolitischen Rahmen der Mitgliedsstaaten” geschaffen werden, der die Mitgliedstaaten auf eine so genannte „vorsichtige Haushaltspolitik” verpflichtet. Die angestrebte neue „vorsichtige Haushaltspolitik” verschärft den Stabilitätspakt noch einmal deutlich, so soll erreicht werden, dass „die EU-Mitgliedstaaten in guten Zeiten eine vorsichtige Finanzpolitik betreiben, um die für schlechte Zeiten not-wendigen Polster zu bilden. Um der bisherigen Selbstzufriedenheit in Zeiten günstiger Konjunktur ein Ende zu setzen”, soll die Neuverschuldungsgrenze unter die berühmten 3 Prozent fallen können. Das jährliche Ausgabenwachstum soll nicht größer sein als die vorsichtige Schätzung des BIP-Wachstums, bei großem Schuldenstand soll es sogar deutlich darunter liegen. Ziel ist also ein ausgeglichener Haushalt im Sinne der Schuldenbremse des Grundgesetzes. Stolz verkündet die Kommission, dass sie Verwarnungen aussprechen wird, wenn die Mitgliedstaaten von der „vorsichtigen Haushaltspolitik” abweichen. Das heißt die Kommission überwacht die Wirtschafts- und Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten, lässt sich Zielvorgaben und Berichte vorlegen und spricht „Empfehlungen” aus wenn sie meint, die Mitgliedstaaten verfolgen eine „falsche Politik”.

Gleichzeitig soll der Sanktionsmechanismus bei Verstößen gegen die Haushaltsdisziplin verschärft werden, was öffentlich als Automatismus der Sanktionen des Stabilitäts- und Wachstumspakts verhandelt wird. Zunächst wird der Sanktionsmechanismus erweitert. Bisher konnten Sanktionen nur verhängt werden, wenn das Ziel, unter der Neuverschuldung von 3 Prozent des BIP zu bleiben, verfehlt wurde, nun soll es auch Sanktionen geben können, wenn die Gesamtverschuldung über 60 Prozent des BIP liegt. Sanktionen sollen auch schon greifen, wenn von der vorsichtigen Haushaltspolitik ab-gewichen wird: Der Mitgliedstaat muss dann 0,2 Prozent seines BIP als verzinsliche Einlage bei der Kommission hinterlegen.

Gefeiert und vom Europäischen Parlament verschärft wurde eine Automatisierung der Sanktionen. Das europäische Recht sah bisher vor, dass bei Verstößen gegen die Maastricht-Kriterien nach Zwischenschritten als Sanktion gegen die Mitgliedstaaten Geldstrafen in empfindlicher Höhe verhängt werden können, was schon immer als Schildbürgerstreich gewertet werden musste. Bisher mussten die Sanktionen aber im Rat, d. h. von den Vertretern der Regierungen mit Mehrheit beschlossen werden. Die hatten bisher kein besonders großes Interesse daran, weil sie nicht ausschließen konnten, demnächst selbst die 3-Prozent-Marke zu reißen. Es blieb beim so genannten „blau-en Brief` der Kommission. Die Automatisierung sieht nun vor, dass der Sanktionsmechanismus automatisch abläuft, wenn er von der Kommission initiiert wurde und im Rat nicht mit qualifizierter Mehrheit gestoppt wird. Zunächst muss der Staat bei Verletzung der Maastricht Kriterien eine unverzinsliche Einlage von 0,2 Prozent des BIP leisten. Die Kommission gibt gleichzeitig „Empfehlungen”, was zu tun ist. Wie die aussehen, kann man in Griechenland, Portugal und inzwischen Italien sehen: Privatisierung, Lohn-und Rentenkürzungen, Abbau von Arbeitsschutzgesetzen, Kürzungen im Gesundheitswesen. Folgt der betreffende Mitgliedstaat der „Empfehlung” zur Korrektur des „über-mäßigen Defizits” nicht, werden die unverzinslichen Einlagen zukünftig in eine Geldbuße umgewandelt[35].

Insgesamt bewegt man sich mit diesen Gesetzen in Richtung einer zentralen Wirtschaftsregierung, die einer strikten Austeritätspolitik folgt und demokratisch nicht kontrolliert ist. Die Kommission wird ermächtigt, weitreichende Vorschläge für die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten zu machen und wurde mit einem Instrumentenkasten an Sanktionen versehen, so dass man in der Tat von einer wirtschaftspolitischen Steuerung durch die EU sprechen kann. Die Spielräume der Mitgliedstaaten in ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik werden damit, sobald ein Ungleichgewicht eintritt, erheblich eingeschränkt. Die Strategie läuft bisher nur zum Teil auf Grundlage der Verträge, zum Teil neben den Verträgen her, was der Intervention in die Budgethoheit der nationalen Parlamente Grenzen setzt.

VI. Geschei­terte Strategie

Am 9. Dezember 2011 haben die Regierungschefs des Euroraumes beschlossen, einen neuen, zusätzlichen Vertrag über eine Fiskalunion aufzusetzen[36], nachdem die deutsch-französische Initiative, die bestehenden EU-Verträge zu ändern, am Widerstand der Briten gescheitert war.In einem Strategiepapier hatte das deutsche Auswärtige Amt die Richtung vorgegeben.[37] Zur Schaffung einer „echten Stabilitätsunion” wurden „Durchgriffsmöglichkeiten, um Mitgliedstaaten mit massiven Haushaltsproblemen zur Disziplin anzuhalten” gefordert – gemeint sind Durchgriffsmöglichkeiten der EU auf die nationalen Haushalte in Form eines Vetorechts gegen Haushaltsentwürfe von Mitgliedstaaten, die den ESM in Anspruch genommen haben. Dieser Richtung sind die Regierungschefs des Euroraumes gefolgt und fordern: „Mitgliedstaaten, die sich in einem Defizitverfahren befinden, legen der Kommission und dem Rat ein Wirtschaftspartnerschaftsprogramm zur Billigung vor, in dem die notwendigen Strukturreformen beschrieben sind, mit denen sie eine wirklich dauerhafte Korrektur ihres übermäßigen Defizits erreichen wollen. Die Durchführung des Programms und die entsprechende jährliche Haushaltsplanung werden von der Kommission und vom Rat überwacht.” In-zwischen hat die EU Kommission einen Vertragsentwurf für die Fiskalunion vorgelegt 3ß Am meisten diskutiert wurde die Einführung einer Schuldenbremse in den jeweiligen nationalen Verfassungen, nach der eine Neuverschuldung von mehr als 0,5 Prozent des BIP unzulässig sein soll und auf nationaler Ebene sanktioniert werden soll. Bei einer Gesamtverschuldung über 60 Prozent sollen die Staaten außerdem jährlich 5 Prozent der Gesamtverschuldung abbauen. Um diese Ziele zu erreichen, verpflichten sich die Staaten der Kommission und dem Rat ihre Haushaltspläne und Kreditaufnahmen zu melden. Weiter wird der halbautomatische Sanktionsmechanismus bei einer übermäßigen Neuverschuldung (über 3 Prozent) festgeschrieben, d. h. die Staaten werden in diesem Fall, verpflichtet die „Empfehlungen” der Kommission umzusetzen,, wenn nicht eine qualifizierte Mehrheit des Rates Anderes entscheidet. Schließlich wird es für Kommission und Staaten möglich, einen Defizitsünder vor dem EuGH zu verklagen, womit in letzter Konsequenz weitere Strafzahlungen initiiert werden können.

Es wurde gefragt, wie mit diesen Maßnahmen die Umschuldungsprobleme in Griechenland oder Italien beseitigt werden könnten. Da hilft es auch nicht weiter, dass der EFSF, der europäische Rettungsschirm, ein halbes Jahr früher zum ESM umfunktioniert wird – das Kreditvolumen wächst nicht. Man kann auch fragen, wie eine Verschärfung der normativen Vorgaben dazu führen soll, dass Staaten, die schon die 3-Prozent-Neuverschuldensgrenze nicht einhalten konnten, nun erfolgreicher „sparen” sollen.

Der Kern ist etwas anderes, nämlich die wirtschafts- und haushaltspolitische Überwachung durch Kommission und Rat, die die ökonomische Situation der Staaten nicht verbessert, aber die sozialpolitischen Spielräume erheblich einengen dürfte. Als Richtung dieser Politik ist der Marsch in eine autoritäre, zentrale Wirtschaftsregierung, bei der die Parlamentsrechte europäisch und national ausgehebelt werden, deutlich erkenn-bar. Diese Strategie ist allerdings nicht nur in Zukunft zum Scheitern verurteilt, sie ist schon gescheitert. Während die BRD nach der Rezession 2009 in den folgenden Jahren ein vergleichsweise starkes Wirtschaftswachstum verzeichnen konnte, haben die „Strukturmaßnahmen” für Griechenland die Krise dort weiter verschärft. Von 2001 bis 2007 hatte Griechenland ein Wirtschaftswachstum von 28,3 Prozent – also weit über dem der BRD. In der Zeit von 2008 bis 2010 sank das BIP kontinuierlich um insgesamt 6,6 Prozent. Das hat nicht nur Folgen für die soziale Situation der Menschen, es hat auch direkte Auswirkungen auf den Staatshaushalt. Der Schuldenstand – das wurde schon gesehen – stieg. Während der Staat im Jahre 2007 noch 5,9 Prozent für den Schuldendienst aufbringen musste, waren es 2010 schon 18 Prozent. Eine Erholung ist so nicht möglich. Durch den Wechsel zum autoritären Durchgriff schlittert Europa aus der Wirtschafts- auch in eine Demokratie- und Integrationskrise.

VII. Für einen neuen europä­i­schen Gesell­schafts­ver­trag

Eine Verschärfung der falschen Politikkonzepte führt die Europäische Union nicht aus der Krise. Es scheint vielmehr als würden die Fehler von Weimar wiederholt: Auf wirtschaftliche Probleme reagiert die Politik mit erhöhtem Spardruck, der nicht aus der Krise führt, sondern diese verschärft. Dies hat unabsehbare Folgen nicht nur für die europäische Integration, sondern auch für die politische Entwicklung in den Mitgliedstaaten. Eine Zunahme rechtspopulistischer Strömungen ist unschwer zu erkennen, die in Ungarn deutlich antidemokratische und anti-rechtsstaatliche Züge angenommen haben. Die europäische Krise kann nur durch einen grundsätzlichen Richtungswechsel überwunden werden, der den in den 1970er Jahren eingeschlagenen Weg verlässt und nicht versucht, diesen dirigistisch abzusichern. Europa braucht einen neuen Gesellschaftsvertrag, eine Verfasstheit, die an die Stelle der Standortkonkurrenz eine Integration von Umwelt-, Wirtschafts- und Sozialpolitik und an die Stelle der entfesselten Finanzmärkte, abgesichert durch die Kapitalverkehrsfreiheit, eine rigide Kontrolle der Finanzmärkte setzt.

Als Antwort auf die Krise ist das Spardiktat genau so falsch wie die Hoffnung, aus der Krise herauswachsen zu können.

Der ökologische Diskurs ist mit der Finanzkrise vollständig in den Hintergrund gedrängt worden. Die Halbierung der Demokratie auf die Politik, während die Wirtschaft als selbstreferenzielles System betrachtet wird, führt schließlich auch zur Entleerung der politischen Demokratie, zu einem Diktat der Finanzmärkte, dem die politischen Akteure aktionistisch folgen. Ein neuer Gesellschaftsvertrag muss die ökonomische Entwicklung der demokratischen Kontrolle und bewussten gesellschaftlichen Steuerung unterstellen, um ein blindes Wachstum, das gleichzeitig ökologische Probleme und ökonomische Krisen verursacht, durch verantwortliche Richtungsentscheidungen zu ersetzen. Das funktioniert nicht unter dem Paradigma der Konkurrenz und des Wachstums als Prinzip des Wirtschaftens, das die europäische Politik bis in die Haarspitzen durchzieht.

In ersten Schritten heißt dies, dass der Finanzsektor zu kontrollieren und auf ein gesellschaftlich erforderliches Maß zu reduzieren ist. Dazu braucht es einer strikten Regulierung der Finanzmärkte: eine Finanztransaktionssteuer in einer Höhe, die zu einer Entschleunigung der Finanzmärkte führt. „Finanzprodukte” sind auf ihren gesellschaftlichen Nutzen zu prüfen, vieles wie Leerverkäufe, der Handel mit Optionen und Derivaten kann verboten oder eingeschränkt werden. Die Banken haben unterschiedliche Funktionen, die in der amerikanischen Unterteilung von Kredit- und Investmentgeschäft zum Ausdruck kommt – auf die sinnvolle Funktion des Kreditgeschäfts sind sie perspektivisch zu begrenzen, insbesondere dort, wo der Staat stützend einspringt. Man fragt sich doch, warum den Staaten Spardiktate verordnet werden, während bei der Bankenrettung die Verstaatlichung formal bleibt, d. h, auf steuernde Funktionen verzichtet wird. Die Kapitalverkehrsfreiheit gegenüber Drittstaaten, die im EU Vertrag festgeschrieben ist, erleichtert der Finanz„industrie“, sich Kontrollen und demokratischer Steuerung zu entziehen, muss also in einem neuen europäischen Gesellschaftsvertrag aufgegeben werden. Stattdessen braucht es strengere Kapitalverkehrskontrollen.

Die Gesellschaft kann die unproduktiven Ansprüche auf einen großen Teil des gesellschaftlichen Reichtums aus Kapitalanlagen nicht mehr erfüllen. Deshalb scheint ein Schuldenschnitt unumgänglich, bei dem die großen Gläubiger auf den größten Teil ihrer Zinsansprüche auf das gesellschaftliche Vermögen verzichten müssen. Gleichzeitig braucht Europa eine einheitliche Steuer- und Sozialpolitik an Stelle des race to the bottom als Folge der Standortkonkurrenz. Die Euro-Memo Gruppe fordert im Memorandum 2012 einen Spitzensteuersatz[39] von 75 Prozent und das Verbot von so genannten Flat Taxes.[40] Es ist an der Zeit, in solchen Alternativen zu denken. Der eingeschlagene Kurs der Europäischen Union mit dem Antreiber Bundesregierung wird die fundamentale Krise nicht lösen und allenfalls eine unkontrollierte Bereinigung mit unabsehbaren sozialen und politischen Folgen herbeiführen.

[1] Erhard, L.: Gedanken von Ludwig Erhard zum Problem der Kooperation oder der Integration in Eu-
ropa, httpa/www,cvice.eu/viewer/-/content/e9a3ab7a-442a-47ab-8e8f-3947d565a5f2/37cce613-def
f-4b6e-9708-d 1 flfObe0a471de; j sessionid=l F7ABA9D42DD3A02540FAA7BE 16A73B9.
[2] EuGH, Urteil v. 11. Juli 1974, Rs. 8/74.
[3] EuGH, vom 20. Februar 1979, Rs. 120/78 – Cassis de Dijon.
[4] Vgl. für viele: Haltern, U.: Europarecht, Tübingen 2007, § 14.
[5] EuGH, Urteil v.12, März 1987, Rs.178184, S1g.1987,1227.
[6] Die offene Marktwirtschaft findet sich nicht nur einmal im Vertrag – sie wird insgesamt vier Mal als Prinzip der unterschiedlichen Politikfelder geradezu beschworen.
[7] Vgl, zur Kritik: Oberndorfer, L.: Economic Governance rechtswidrig – Eine Krisenerzählung ohne Kompetenz, in: AK wien, infobrief eu & international, Juni 2011, S. 8.
[8]Joachim Hirsch hat schon 1998 diese Entwicklung zum Wettbewerbsstaat konstatiert und prognostiziert (Hirsch, J. : Vom Sicherheitsstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat (Berlin 1998), pa ssim.
[9]Eurostat Pressemitteilung vom 28.6.2014, http;//epp.eurostat.ec.europa.eu/cache/ITY_PUBLIC/2-28062010-BP/DE/2-28062010-BP-DE.PDF.
[10] Der Präsident des Bundesrechnungshofes als Bundesbeauftragter für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung, „Probleme beim Vollzug der Steuergesetze” (2006), S. 82.
[11] Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt vom 12. Dezember 2006.
[12] EuGH, v.11.12.2007; Rs. C-438/05.
[13] EuGH v. 18.12.2007, Rs. C-341/05, Rn. 94.
[14] EuGH RS-C-163/94, C-165/94 und C-250/94.
[15] Vgl. Huffschmidt, J., Politische Ökonomie der Finanzmärkte, (HH 2O02), S. 272.
[16] Richtlinie 8S/611/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) und Richtlinie 2001/107/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Januar 2002 zur Änderung der Richtlinie 85/611/EWG usw.
[17] BT-Drs.1S/1553, S. 67.
[18] httpa/www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,617228,00.htm1.
[19] Ausführlich Fisahn, A., Re-Regulierung der Finanzmärkte nach der Kernschmelze im Finanzsektor, http://www.rosalux.de/fileadmin/rls uploads/pdfs/rlsPapers/Paper-Fisahn.pdf.
[20] Den Stresstest aus Juli 2011 hatten alle deutschen Banken bestanden, acht der 91 europäischen Banken waren durchgefallen. Im November stellt die Behörde im noch laufenden Test offenbar große Lücken in der Kapitalausstattung fest (FTD v. 25.11.2011).
[21] http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_138100/DE/BMF_Startseite/Publikationen/Monatsbe richt_des_BMF/2011 /08/statistiken -und-dokumentationen/03-gesamtwirtschaftliche-entwicklung /tabellen/TabelleS47.htm1.
[22] Europäischer Finanzstabilisierungsmechanismus.
[23] Als Ecofin-Rat (auch EcoFin oder ECOFIN) wird der Rat der Europäischen Union in der Zusammensetzung „Wirtschaft und Finanzen” bezeichnet. Dem Rat gehören die Wirtschafts- und Finanzminister der EU-Mitgliedstaaten an. Er tagt in der Regel einmal im Monat.
[24] Europäische Finanzstabilisierungsfazilität.
[25] Pressemitteilung zur außerordentlichen Sitzung des ECOFIN am 9./10.5. 2010, http://www.consilium. europ a. eu/uedocs/cros_data/docs/pres s data/en/ecofin/ 1143 24.pdf.
[26] Europäischer Stabilitätsmechanimus.
[27] EFSF FAQ, http://www.efs£europa.eu/attachments/faqen.pdf, http://www.efsf.europa.eu/attachm ents/faq_en.pdf
[28] Erklärung der Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebietes und der EU-Organe vom
21.7.2011, http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cros_data/docs/pressdata/de/ec /124011 .pdf.
[29] The National Recovery Plan 2011-2014, http://www.budget.gov.ie/The%20National%20Recovery
%20Plan%202011 2014.pdf
30 http://presseeuropa.de/press-releases/european-council-24-25-march 2011 -conclusions = Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 24./25. März 2011, http://www.consilium.europa.eu /uedocs/cros_data/docs/pressdata/de/ec/ 120313.pdf
[31] Vgl. Dellheim, J. : Die EU wird deutscher, http://ifg.rosalux.de/2011/03/14/die-eu-wird-deutscher/.
[32] Schlussfolgerungen der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebietes vom 11.3.2011, Anlage I, Pakt für den Euro.
[33] Gesetzgebungsvorschläge der Kommission mit den Nummern: Kom (2010) 522-527.
[34] http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cros_data/docs/pressdata/en/ecofin/125952.pdf
[35] Gefeiert haben die Grünen, dass ein Bestandteil des Pakets auch ein Rechtsakt ist, nach dem ein „übermäßigen Ungleichgewicht” in der Wirtschaftsleistung vermieden wird. Das Ungleichgewicht bezieht sich auf die Leistungsbilanz, d. h. es wird am Im- und Exporten gemessen. Das trifft den EU-Hauptexporteur Deutschland, dessen Leistungsbilanz in diesem Sinne nach oben unausgeglichen ist. Hier sollen auch Sanktionen greifen, wenn der Leistungsbilanzüberschuss oberhalb der Grenze von 6 Prozent des BIP liegt. 2010 lag die BRD bei einem Überschuss von 5,7 Prozent. Gleichzeitig wurden Sanktionen bei zu hohen Überschüssen (Ecofin v. 8.11.2011; 15781/2/11) ausgeschlossen, so dass die FTD titelte „Extrawurst für Deutschland – Überschüsse in der Leistungsbilanz sollen nicht bestraft werden” (FTD 9.11.2011, S. 12). Die Diskussion wird hier also trotz verabschiedetem Sixpack weiter gehen — da gibt es nicht viel zu feiern.
[36] Erklärung der Staats- und Regierungschefs des Eurowährungsgebietes vom 9. Dezember 2010,
http ://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms data/docs/pressdata/de/ec/126678.pdf
[37] Auswärtiges Amt, Zur Zukunft der EU: Erforderliche integrationspolitische Fortschritte zur Schaf-
fung einer Stabilitätsunion, http://s3.documentcloud.org/documents/267782/1l 101 8-eu-wipol-
integration.pdf
[38] Draft agreement on reinforced economic union, http://www.irishtimes.com/newspaper/breaking/ 201l/1220/breaking46.html
[39] Die österreichische Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaft erinnert daran, das in den USA nach dem New Deal ein Spitzensteuersatz von 90 % existierte, der keineswegs zum Verderben, sondern zu Aufstieg des Landes zur führenden ökonomischen Macht geführt hat. http:l/diealternativewirtschaft.at/solidarische_oekonomie.php?part=Spitzensteuersatz.
[40] European Economists for an Alternative Economic Policy in Europe, European integration at the crossroads:Democratic deepening for stability, solidarity and social justice, Manuskript 2011, S. 35.

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