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Das Gespenst einens multi­po­laren Europas

aus: Vorgänge 196 ( Heft 4/2011), S. 86-94

Die Europäische Union hat im letzten Jahrzehnt viel Zeit damit verbracht, eine Europäische Ordnung zu verteidigen, die nicht länger funktioniert. Gleichzeitig hat sie dabei auf eine globale Ordnung gehofft, die wahrscheinlich nie kommen wird. Daraus resultiert, dass der Europäische Kontinent heute weniger stabil ist, als wir angenommen haben, während die EU weniger einflussreich ist, als wir gehofft haben. Es ist wahr, dass ein Krieg zwischen den Großmächten heute unwahrscheinlich ist. Dennoch sind sich die Europäer durchaus darüber im Klaren, dass die bestehenden Sicherheitsinstitutionen nicht in der Lage waren, die Kosovo-Krise 1998/99 zu verhindern, das Wettrüsten im Kaukasus zu verlangsamen, die Unterbrechung der EU-Gasversorgung 2008 zu unter-binden, den Krieg zwischen Georgien und Russland zu verhindern oder die Instabilität in Kirgistan zu Beginn dieses Jahres aufzuhalten – geschweige denn, Fortschritte in den anderen so genannten „frozen conflicts” des Kontinents zu erzielen.

Gleichzeitig beginnen zwei der drei sicherheitspolitischen Hauptakteure in Europa, die Legitimität der bestehenden Ordnung oder ihre Rolle darin zunehmend zu hinterfragen. Russland, das sich nie wohl gefühlt hat mit den Erweiterungen der NATO und der EU, ist nun mächtig genug, um offen eine neue europäische Sicherheitsarchitektur zu fordern. Die Türkei, frustriert durch die kurzsichtige Blockadepolitik einiger EU Mitgliedsstaaten, möchte der EU zwar weiterhin beitreten, verfolgt aber gleichzeitig eine zunehmend unabhängige Außenpolitik und strebt nach einer größeren Rolle um ihren wachsenden Ansprüchen gerecht zu werden. Der Trend wird sich noch verstärken, sollten die EU-Mitglieder nicht bereit sein, guten Willen zu zeigen und neue Kapitel in den Beitrittsverhandlungen zu öffnen. Der Hintergrund, vor dem diese Veränderungen im europäischen Raum stattfinden, ist globaler Natur. Dieser Kontext lässt Europa als Ganzes seine zentrale Position in der internationalen Politik verlieren. Während neue, globale Machtzentren wie Brasilien, China und Indien Europas multilaterale Vision herausfordern, nimmt das Interesse der USA an Europa dramatisch ab.

Das Festhalten an dieser dysfunktionalen Ordnung bedeutet auch, dass die EU dabei ist, die Gelegenheit, vorhandene Instrumente zu nutzen, zu verpassen. In diesem Zusammenhang glauben wir, dass es im Interesse der EU-Mitgliedsstaaten ist, kreativ auf Präsident Medwedews Vorschlag einer neuen Sicherheitsarchitektur zu reagieren. Dadurch könnten sie ihre eigene positive Konzeption von einer neuen Sicherheitsordnung für den europäischen Raum zu entwickeln, die die EU als wesentlichen Sicherheitsakteur institutionalisiert.

Das multipolare Europa in einer multi­po­laren Welt

In den 1990er Jahren hat die EU auf Unterstützung ihrer „soff power” durch die amerikanische „hard power” gehofft und darüber hinaus auf die Integration aller regionalen Mächte in eine liberale Ordnung, in der die Prinzipien der Rechtstaatlichkeit, der geteilten Souveränität und der Interdependenz schrittweise den militärischen Konflikt und die Konzepte der Machtbalance und Interessenssphären ersetzen. Diese europäische Vision eines Friedens- und Sicherheitsexports basierte auf der Idee gemeinsamer Werte und Institutionen. Sie kann daher auch als Paradigma der „demokratischen Erweiterung” bezeichnet werden. Aber das unipolare Momentum der EU ist vorbei. Die Europäer haben dem Aufstieg einer multipolaren Welt frühzeitig zugejubelt, die gleichzeitige Entstehung eines multipolaren Europas hingegen haben sie erst deutlich später erkannt. Ein Europa, das zunehmend vom Wettbewerb zwischen den Großmächten des Kontinents – der EU, Russland und der Türkei – um Einfluss auf die umstrittene Nachbarschaft -bestehend aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion – geprägt ist. Als Reaktion auf die Herausbildung eines multipolaren Europas beginnt man in der EU und in den USA zu-nehmend mit einer Alternative zum „Paradigma der demokratischen Erweiterung” zu experimentieren, welche als „interessenbasierter Realismus” bezeichnet werden könnte. Doch diese Strategie ist genauso ungeeignet zur Schaffung einer genuin europäischen Ordnung, wie das Paradigma der „demokratischen Erweiterung”.

Die EU Mitgliedstaaten müssen aufhören, Europas Geschichte der letzten 20 Jahre als Entwicklung eines einzigen Projektes zu verstehen, in dessen Zentrum die EU und die NATO stehen. Stattdessen sollten sie anfangen, es als eine Geschichte zu begreifen, die von vier parallel verlaufenden identitätsbildenden Projekten handelt, von denen jedes auf seine eigene Weise jung, schwach und verletzlich ist.Drei dieser Projekte stellen die sich herausbildenden Pole eines multipolaren Europas dar: Das erste ist das Projekt der Europäischen Union, das auf der Idee gründet, Sicherheit durch geteilte Souveränität zu gewährleisten. Das zweite ist Russlands post-imperialistisches Projekt, das zum Ziel hat einen Staat zu schaffen, der die Nation dazu bringt, für sich zu handeln. Und Drittens das postkemalistische Projekt der Türkei, das die Schaffung einer EU-orientierten „muslimischen Demokratie” mit einer eigenen unabhängigen Außenpolitik anstrebt. Das vierte Projekt findet sich zwischen den drei an-deren Projekten – es besteht in den neuen souveränen Staaten auf dem ehemaligen Territorium der Sowjetunion und des ehemaligen Jugoslawiens. Die Dynamik dieser vier Projekte ist noch wichtiger geworden, seit die USA sich auf ihre Rolle als „offshore balancer” in Europa beschränken.

Das neue Sicher­heits­di­lemma der EU

Die EU hat sich, neben den USA, als große Gewinnerin des Kalten Krieges gesehen. Doch heute wird sie von vielen dieser angeblichen Triumphe wieder eingeholt: Russland nimmt ihr seine vermeintliche Demütigung übel, der Euro befindet sich in der Krise und die aufsteigenden Wirtschaftsmächte, die von der Globalisierung profitiert haben, sind nicht bereit, Europas multilaterale Agenda zu unterstützen. Die Finanzkrise hat die strukturellen Widersprüche im Herzen des unvollendeten europäischen Projekts aufgedeckt: Die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten brauchen mehr Einwanderer als die einheimische Bevölkerung bereit ist zu akzeptieren. Und die Währungsunion braucht mehr politische Integration als ihre Eliten erzeugen können. Paradox ist, dass sowohl die europäische Öffentlichkeit als auch die europäischen Eliten von der Leistung der EU enttäuscht sind, sie diese aber gleichzeitig als Schlüsselfigur in der Wirtschaft und mehr und mehr auch in der Außen- und Sicherheitspolitik ansehen.

Als Bestandteil der Forschung zu diesem Bericht hat der ECFR eine Befragung der politischen Eliten in allen 27 Mitgliedsstaaten vorgenommen und dafür 250 Interviews durchgeführt. Darüber hinaus wurden Sicherheitsdokumente aus den Mitgliedstaaten untersucht. Dabei hat sich gezeigt, dass die außenpolitischen Eliten der EU ihr Verständnis von Sicherheit neu definiert haben, und zwar in drei verschiedenen Hinsichten:

Erstens betrachten sie Sicherheit zunehmend aus der Perspektive von Versicherungsunternehmen statt von Militärplanern – d. h. sie halten Frieden für selbstverständlich und denken in Risiken anstelle von Bedrohungen. Zweitens, wurde das Vakuum, das die Abwesenheit von Krieg erzeugt hat, mit post-modernen Ängsten gefüllt -. mit anderen Worten: Bedrohungen für den Lebensstandard wie beispielsweise die Auswirkungen der Finanzkrise, Sicherheit bei der Energieversorgung, Klimawandel und Migration. Drittens fürchten die Europäer zunehmend ihre Marginalisierung, je mehr Macht vom Westen abwandert – dies wird daran deutlich, dass zum Beispiel fast alle Mitgliedsländer interessiert sind an der von William Walker entwickelten „positional security”.

Neben diesen Veränderungen in der Wahrnehmung von Bedrohungen scheinen die europäischen Länder ihren Sicherheitsansatz neu zu überdenken. Besonders überraschend ist dabei, dass sie die Trennlinien, unter denen Europa die letzten zehn Jahre gelitten hat, scheinbar hinter sich lassen. Wir hatten erwartet, dass die Studie eine Vielzahl von unvereinbaren Bedrohungswahrnehmungen aufzeigt und so die strukturellen Unter-schiede der EU-Mitgliedsländer, abhängig von ihren Beziehungen zu Großmächten wie Russland oder den USA, bestätigt. Stattdessen hat die Analyse einen überraschend hohen Grad an Einheitlichkeit bezüglich der Bedrohungswahrnehmung festgestellt. Es besteht eine neue Einigkeit in Bezug auf den Umgang mit Russland: Die „alten Europäer” haben ihren Glauben an die transformative Kraft der Integration verloren und die „neu-en Europäer” sehen die Möglichkeiten zur Eingrenzung Russlands zunehmend skeptisch. Obwohl es unter den europäischen Eliten immer noch eine große Zustimmung zur Erweiterung von EU und NATO gibt, haben sie ihren Glauben daran verloren, dass die-se auch den wesentlichen institutionellen Rahmen für die europäische Sicherheitsstruktur darstellen. Darüber hinaus sind sich die Europäer nun auch über die Notwendigkeiteinig, der EU eine größere Rolle bei der Gewährleistung der europäischen Sicherheit zukommen zu lassen.

Der diskrete Charme des russischen Revisio­nismus

Die „russische Frage” gab den Architekten der europäischen Ordnung über die vergangenen drei Jahrhunderte hinweg eines der schwierigsten Rätsel auf. Doch die besondere Kombination von Stärke und Schwäche im heutigen Russland macht das Land noch komplexer als die Sowjetunion vor 1991. Seit der NATO-Intervention im Kosovo 1999 hat sich Russland immer stärker zu einer revisionistischen Macht entwickelt. Doch auch wenn der Kreml die NATO-Erweiterung im ehemaligen sowjetischen Gebiet immer noch als Hauptbedrohung seiner Sicherheit ansieht, haben seine außenpolitischen Eliten mittlerweile eine deutlich veränderte Sicht auf die Bedrohungslage und auf die europäische Ordnung als noch vor einigen Jahren. Dies bedeutet insbesondere, dass die russische Angst vor der wirtschaftlichen Rückständigkeit zu einem Umdenken der russischen Strategie geführt hat: Einer durchgesickerten Notiz zufolge drängen die politischen Verbündeten Medwedews darauf, die Bildung von Allianzen zur Modernisierung der russischen Wirtschaft zum übergeordneten Ziel der russischen Außenpolitik zu machen. Die russische Außenpolitik zielt daher vor allem darauf ab, dem Land einen Platz in der Weltwirtschaft zu sichern und es gleichzeitig vor externen politischen Einflüssen zu schützen.

Aus diesem Umdenken heraus hat sich eine neue Westpolitik entwickelt, die sich um die folgenden vier Ziele konzentriert: erstens Russlands europäische Identität geltend zu machen, zweitens wirtschaftlichen Fortschritt zum Hauptziel der russischen Außenpolitik zu machen, drittens eine strategische Zusammenarbeit mit den USA zu entwickeln und gleichzeitig intensive Beziehungen zu den neuen globalen Einflusszentren der Macht zu unterhalten, wie beispielsweise China, Indien und Brasilien, und viertens die Realität der EU zu akzeptieren und gleichzeitig den Fokus auf eine strategische Zusammenarbeit mit einigen Schlüsselmitgliedsstaaten, insbesondere Deutschland, zu legen. Der Vorschlag von Präsident Medwedew stellt somit einen wirklichen Umbruch dar, wie Russland seine außenpolitischen Interessen und seinen Bedarf an europäischer Hilfe definiert. Dies bedeutet insbesondere, dass Russland so schnell wie möglich einen neuen Sicherheitsvertrag eingehen möchte. Der Grund dafür ist, dass ein Großteil der russischen Elite mittlerweile anfängt, Russlands momentanes Wiederaufleben als lediglich vorübergehenden Aufstieg einer schwächer werdenden Macht zu verstehen. Ob-wohl dieser neue Ansatz auf einem noch recht wackeligen Fundament aufbaut, schafft er doch eine wirkliche Öffnung der russischen Außenpolitik hin zu einer stärker kooperativen Beziehung.

Russland wird in seiner Nachbarschaft höchstwahrscheinlich weiterhin mit der EU konkurrieren. Die russischen Eliten werden ihr Bestes geben, um sich der Transformations- oder Eingrenzungspolitik des Westens zu widersetzen. Sie sehen die Kontrolle über die Gas- und Öltransportwege aus den ehemaligen Sowjetstaaten als notwendige Voraussetzung für Russlands globale Rolle. Darüber hinaus wollen sie in den ehemaligen sowjetischen Gebieten günstige Bedingungen für den Ausbau der russischen Geschäfte schaffen, die derzeit nicht wettbewerbsfähig sind. Gleichzeitig sind sich die russischen Eliten aber auch der Gefahr einer imperialen Überdehnung bewusst und die russische Nachbarschaftspolitik zielt, anders als viele meinen, nicht einfach darauf ab, die sowjetische Ära wieder aufleben zu lassen. Aufgrund seiner strategischen Ziele in der Nachbarschaft misst Russland den Beziehungen zur Türkei besondere Bedeutung bei und unterstützt damit den Aufstieg der Türkei als unabhängiges Machtzentrum.

Die Türkei als neuer Akteur

Früher einmal in der östlichen Peripherie gelegen (am Rande der europäischen Wahrnehmung), hat sich die Türkei mittlerweile zum Zentrum seiner eigenen Welt entwickelt, die neben dem Nahen Osten, dem Kaukasus und dem Balkan auch aus weiter entfernen Gebiete wie der Golfregion und Nordafrika besteht. Die Worte des türkischen Außenministers Ahmet Davutoglu verdeutlichen dies: „Turkey is an actor, not an issue”. Die meiste Zeit seit 1989 bestand das Hauptziel der türkischen Außenpolitik im Beitritt zur EU. Aber seitdem die türkische Bevölkerung und die türkische Wirtschaft wachsen und außerdem große EU-Mitgliedstaaten dem Beitritt der Türkei weniger enthusiastisch gegenüber stehen, beginnt die Türkei zunehmend seine zweitklassige Mitgliedschaft im „Club des Westens” gegen das Bestreben einzutauschen, eine regionale Macht mit einer Stimme in der Welt zu werden.

Auch wenn die Türkei weiterhin dem EU-Beitritt verpflichtet und darüber ein treuer Verbündeter der NATO ist, haben Premierminister Recep Tayyip Erdogan und die AKP eine neue, ehrgeizige Außenpolitik entwickelt, die auf Davutoglus Version von der ldee einer „strategischen Tiefe” aufbaut. Die Türkei strebt danach, ihre politischen und wirtschaftlichen Verbindungen mit den angrenzenden Ländern und Regionen zu vertiefen um auf diese Weise ein stärkeres Gewicht in internationalen Angelegenheiten zu erlangen. Bei einigen Gelegenheiten war die Türkei sogar bereit, die offene Konfrontation mit den USA und deren NATO-Bündnispartnern zu suchen. Parallel mit den Veränderungen in der öffentlichen Meinung der türkischen Bevölkerung hat sich auch die Beziehung zur EU geändert. Der Beitritt zur EU bleibt weiterhin eine Priorität, ist allerdings nicht mehr von solchem Gewicht für die AKP wie in der Zeit von 2002-2005.

Die Türkei hat auch eine eigene Nachbarschaftspolitik (TNP), die nicht von den islamischen Wurzeln der AKP und deren Solidaritätsgefühl mit dem Mittleren Osten geprägt ist, sondern von pragmatischer Berechnung. Heutzutage entfaltet die Türkei ihre wirtschaftlichen Machtressourcen, sowie die Grundlage ihrer „soft power” und „hard power” insbesondere in den Nachbarländern des Nahen Ostens, aber darüber hinaus auch in Südosteuropa und im Kaukasus. Dank ihrer Nachbarschaftspolitik wird die Türkei nun neben der EU und Russland zu einem der Pole in dem sich herausbildenden multipolaren Europa. Außerdem haben die Beziehungen zwischen der Türkei und Russland eine neue Qualität erreicht, die auf einer Annäherung der wirtschaftlichen und strategischen Interessen beider Seiten beruht. Die post-kemalistische Außenpolitik der Türkei sowie ihre Nachbarschaftspolitik und ihre Rolle im entstehenden multipolaren Europa sind das Ergebnis systematischer Machtverschiebungen in Europa und im Nahen Osten. Die europäische Sicherheitsarchitektur sollte diese neue Realität anerkennen, berücksichtigen und darauf effektiv reagieren. Die EU könnte die türkische „soft-” und „hard power” in ihrer Nachbarschaft zügeln, indem sie der Türkei einen Platz in der neuen europäischen Sicherheitsverteilung geben würde.

Das post-­eu­ro­pä­i­sche Amerika

Das letzte Kapitel der amerikanischen Beteiligung an der europäischen Sicherheitsarchitektur wird vor allem durch eines verkörpert: Präsident Obama entschied sich, seine Teilnahme an der Jubiläumsfeier anlässlich des 20sten Jahrestags des Berliner Mauer-falls abzusagen, da er laut der Begründung seines Sprechers schlicht und ergreifend andere, wichtigere Verpflichtungen hatte. Obamas Abwesenheit von den Jubiläumsfeierlichkeiten war ein deutliches Symbol für die veränderte Rolle der USA hin zu einem „off shore balancer” in Europa. Zwar bleibt die amerikanische Sicherheitsgarantie für die europäischen Partner bestehen, doch schwindet ihre Bedeutung. Dieser Rückzug aus Europas internen Sicherheitsangelegenheiten spiegelt einen Strukturwandel in der Welt wider, der dazu geführt hat, dass Europa weniger zentral für die amerikanische Strategie ist – auch im Hinblick auf zukünftige Administrationen. Die USA, die über ein halbes Jahrhundert hinweg den mit Abstand wichtigsten Sicherheitsfaktor auf dem europäischen Kontinent darstellten, werden auch weiterhin als Sicherheitsgarant gegen den Ausbruch größerer Kriege in Europa fungieren. Gleichzeitig erwarten die USA aber auch von Europa, dass dieses sich zunehmend selbständig um die Lösung anderer Sicherheitsrisiken bemüht.

Während die USA sich aus Europa zurückziehen, verändert sich gleichzeitig auch die amerikanische Haltung gegenüber der Türkei und Russland. Die USA teilen viele der europäischen Sicherheitsbedenken bezüglich einer Rückkehr von so genannten Einflusssphären in Europa. Einige erfahrene Persönlichkeiten in Washington haben auch weiterhin ein besonderes Interesse an der Situation in Georgien oder der Ukraine. Aber diese europäischen Sicherheitsbedenken gehören eindeutig nicht zu den Prioritäten des Weißen Hauses oder des Außenministeriums bei deren Kontakten mit Moskau. Selbst dort wo „near-abroad” Fragen aufgekommen sind – so wie beispielsweise die Situation in Kirgistan –, konzentriert sich die Regierung Obama vor allem auf solche Auswirkungen, die von globaler Bedeutung sind. Zwar sind die Beziehungen der USA zu Russland von einem Neustart geprägt, die Beziehungen mit der Türkei hingegen haben sich dramatisch verschlechtert. Während eines Besuchs von Davutoglu in Washington im Juni 2010 wurde ihm und seinen Mitarbeitern der Zugang zum Weißen Haus von Sicherheitsbeamten verweigert und das Treffen mit den amerikanischen Kollegen musste in einem nahe gelegenen Hotel stattfinden. Dieses Ereignis veranschaulicht nur allzu deutlich das wachsende Misstrauen zwischen den beiden Ländern.

In Anbetracht enttäuschender EU-Mitgliedstaaten, sowie frustrierender Türken und Russen, die mehr Partner als Gegner sind, kämpfen die USA nun damit, sich selbst für die NATO zu begeistern. Die USA haben keinen ernsthaften Versuch unternommen, die Europäer in eine wirkliche Diskussion über gemeinsame Ziele einzubinden oder gemeinsam nach möglichen Wegen zu suchen, auf denen der Schaden, den die Organisation in Afghanistan erlitten hat, wieder behoben werden kann. Abgesehen von der um-gestalteten, regionalen Raketenabwehr scheinen die USA ihren Ehrgeiz für die NATO verloren zu haben. Doch auch wenn Amerikas Entwicklung hin zum „offshore balancing” viele Europäer alarmiert hat, könnte genau diese Entwicklung paradoxerweise aber auch die Herausbildung einer legitimen europäischen Ordnung beschleunigen, in der die USA vorhanden sind.

Entwurf einer möglichen Ordnung

Während die politische Aufmerksamkeit weg vom Atlantik und hin zum Pazifik wandert, läuft Europa Gefahr, seine Position als geopolitisches Zentrum zu verlieren und mehr und mehr an den Rand gedrängt zu werden. Unter diesen Bedingungen ist es im Interesse aller drei europäischen Großmächte, die Beziehungen zwischen sich so zu ordnen, dass sie über eine feste Grundlage verfügen, um mit dem Rest der Welt interagieren zu können. Doch diese neue europäische Ordnung darf nicht nur in einer einfachen Rückkehr zum „Mächtekonzert” bestehen, in der die EU, Russland und die Türkei versuchen, die Staaten in ihrer Nachbarschaft nach territorialen oder funktionalen Gesichtspunkten ihrem eigenen Einfluss zu unterstellen, um auf diese Weise Konflikte zwischen den Großmächten zu vermeiden. Die Herausforderung, vor der Europa sich heute befindet, besteht darin, Wege aufzuzeigen, wie die neuen und verletzlichen Projekte des Staatsauf baus in Europa, die darüber hinaus von einer großen gegenseitigen Abhängigkeit geprägt sind, harmonisch verlaufen können. Der Umgang mit der wechselseitigen Abhängigkeit sollte das Prinzip der „Machtbalance” als Kern der europäischen Ordnung ersetzen.

Anstelle eines anachronistischen „Mächtekonzertes” sollte das Ziel der EU eher dar-in bestehen, ein „Projektekonzert” zu entwickeln, d. h. im Interesse aller Beteiligten eine Möglichkeit zu finden, den multilateralen Gefügen zur Diskussion und Handhabung der Sicherheit des Kontinents Leben einzuhauchen. Die neue europäische Ordnung sollte nicht versuchen, aus allen europäischen Ländern auch EU-Mitgliedstaaten zu machen oder die Machtbalance wieder herzustellen, sondern vielmehr sollte sie so ausgestaltet werden, dass die europäischen Projekte der Staatsbildung friedlich ablaufen können. Das beinhaltet neben einer Effektivitätssteigerung der EU auch die Konsolidierung der postimperialen russischen Identität innerhalb der heutigen russischen Grenzen, sowie die Förderung der türkischen Ambitionen, aus dem Land am Bosporus eine regionale Macht mit weltweitem Einfluss zu machen. Die parallele Einbindung Ankaras in einen gemeinsamen Rahmen sowie die Förderung der EU-Integration der Länder des Westbalkans und die notwendige Hilfe, um aus den Ländern auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion funktionierende Staaten zu machen, sind ebenfalls Bestandteil dieses „Projektekonzerts”.

Damit dies realisiert werden kann, sollte die EU über ihre zurückhaltende Reaktion auf Präsident Medwedews Vorschlag, die der OSZE eine zentrale Rolle einräumt, hi-nausgehen. Stattdessen sollte die EU offen sein für die Schaffung von neuen Verträgen und Institutionen. Dabei ist es aber wichtig, dass die EU gleichzeitig auch betont, dass diese Institutionen und Verträge in einem bottom-up Ansatz geschaffen bzw. unter-zeichnet werden und kein top-down Ansatz verfolgt wird. Wir glauben, dass der EU dies am besten gelingt, indem ein informeller Sicherheitstrialog zwischen der EU, der Türkei und Russland initiiert wird, der sich auf die folgenden drei Bestandteile stützt:

  • Ein europäischer Sicherheitstrialog. Statt neue Institutionen zu schaffen, sollte die EU einen regelmäßigen, aber informellen europäischen Sicherheitstrialog einrichten, dem die Idee eines EU-russischen Sicherheitsdialog von Merkel und Medwedew zugrunde liegt, nur das dieser um die Türkei erweitert wird. Der Trialog, in dem sich die wichtigsten Sicherheitsmächte Europas analog zu der Zusammenkunft der wichtigsten Wirtschaftsmächte in den G20 treffen, könnte regelmäßig zusammenkommen um die wichtigsten und dringendsten Sicherheitsfragen auf unserem Kontinent zu diskutieren sowie die Probleme, die sich aus den sich überschneidenden Nachbarschaften der zentralen Akteure ergeben.
  • Ein europäischer Sicherheitsaktionsplan. Die erste Aufgabe des Sicherheitstrialogs sollte darin bestehen einen Aktionsplan zu entwerfen, um die Spannungen auf dem europäischen Kontinent zu verringern. Der Aktionsplan könnte eine ganze Reihe von Zielen beinhalten, so zum Beispiel die Stabilisierung der europäischen Randgebiete durch eine Entmilitarisierung der unbeständigsten Regionen oder die Lösung so genannter „frozen conflicts”, die weiterhin die größte Gefahr für die europäische Sicherheit dar-stellen. Die Lösung dieser Konflikte sollte dabei die Vorbedingung für die Unterzeichnung eines neuen Vertrags sein.
  • Ein europäischer Sicherheitsvertrag. Führende EU-Politiker sind zu Recht misstrauisch, was die möglichen Vorteile eines neuen Vertrags mit Russland betrifft, solange das Land keine Bereitschaft zeigt, einen eigenen Beitrag zur Lösung der vielen dringenden Sicherheitsfragen des europäischen Kontinents zu leisten. Dennoch könnte ein neuer Vertrag auch für die EU-Mitgliedstaaten von Vorteil sein, wenn er am Ende eines Vertrauensbildungsprozesses steht. Sollte die EU als Vertragspartei zu den Unterzeichnern des Vertrages gehören, dann würde dies ihre Institutionalisierung als Schlüsselakteur in sicherheitspolitischen Angelegenheiten in Europa bedeuten und es ihr darüber hinaus ermöglichen, die ihr zur Verfügung stehenden Instrumente einzusetzen, um mit den Bedrohungen umzugehen, denen sich ihre Mitgliedsländer ausgesetzt sehen.

Der von uns hier vorgeschlagene Ansatz wäre für die EU von Vorteil, da auf diese Weise ihre Rolle als zentraler Sicherheitsanker des europäischen Kontinents anerkannt würde. Dies würde darüber hinaus auch als Anstoß dienen für eine genuine strategische Debatte zwischen den Mitgliedsländern über die Frage, welche Form die von der EU vertretene Ordnung eigentlich haben soll. Der neue Ansatz würde von der politischen Öffnung Russlands und dessen Wunsch nach Modernisierung profitieren sowie von den Versuchen der Türkei, sich als regionale Macht zu etablieren. Gleichzeitig würde er die institutionelle Ordnung in Europa so umgestalten, dass der Kontinent gut vorbereitet ist für eine Zeit, in der Europa zunehmend peripher ist und in der starke und schwache Nachbarn gleichermaßen gefährlich bzw. Furcht einflößend sein können. Es wäre der erste Schritt hin zur Schaffung eines trilateralen anstelle eines tripolaren Europas: eine neue institutionelle Ordnung auf dem Kontinent, die (um Lord Ismay an dieser Stelle zu paraphrasieren) die EU vereint, Russland post-imperialistisch und die Türkei europäisch hält!

* Der Beitrag basiert auf einem Policy Paper des European Council on Foreign Relations, das Ivan Krastev und Mark Leonard zusammen mit Dimitar Bechev, Jana Kobzova und Andrew Wilson verfasst haben. Zugriff auf die englische Langfassung unter: http://ecfr.eu/page/-/documents/FINAL%20VERSION%20ECFR25_SECURITY_UPDATE_AW SINGLE.pdf

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