Publikationen / vorgänge / vorgänge 196: Was will Europa?

Kosmo­po­li­ti­sche Weltortnung oder Demokratie?

Fragen an Jürgen Habermas `Konzept einer Weltinnenpolitik ohne Weltregierung

aus: Vorgänge 196 ( Heft 4/2011), S. 113-126

I. Einleitung

In allen Demokratietheorien wird betont, dass die Qualität demokratischer Legitimität sich daran messen lassen muss, in welcher Weise die Bürgerinnen an der politischen Willensbildung beteiligt werden, um delegierte Herrschaft effektiv kontrollieren zu können. Entscheidend für eine gelungene Demokratie bleibt daher die Tatsache, dass die ununterbrochene Kette der Repräsentation (Böckenförde) von den Bürgern bis hin zu den die Herrschaft ausübenden politischen Eliten nicht abreisen darf. Keine Demokratietheorie – trotz ihrer zahlreichen Varianten – kommt bei der Frage demokratischer Legitimation umhin zu erkennen, dass diese nur „durch den demos selbst” (Greven 1998: 253) ausgeübt werden kann. Demokratie versteht sich in diesem Zusammenhang in starker Form als „Selbsteinwirkung, Selbstvergewisserung und Selbstaufklärung einer politischen Gemeinschaft”, zumindest aber als „Teilhabe an zu treffenden Entscheidungen” (Volkmann 2002: 602, 586). Das ist der Aspekt rekursiver Geschlossenheit des demokratischen Geltungsprozesses. Darüber welches Argument in der Politik über-zeugt, entscheiden in demokratisch verfassten Gesellschaften auch in Jürgen Habermas‘ (2005: 54) Diskurstheorie „die im rational motivierten Einverständnis gebündelten Stellungnahmen aller, die an der öffentlichen Praxis des Austauschs von Gründen teilnehmen”. Legitime Gründe lassen sich, gemäß Habermas, nur in einer intersubjektiven Praxis erzielen, die Teil eines öffentlichen Begründungsverfahrens sind. Selbst mit einer legitimen Gesetzgebung und Verfassung operierende Rechtsgemeinschaften – und hier verbindet Habermas rechtliche und normative Argumente auf eine spezifische Weise – müssen im politischen Diskurs legitimiert werden. „Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten.” (Habermas 1992: 138)

Folgt man den jüngsten Debatten um das Thema Globalisierung, so scheint es keinen begründeten Zweifel mehr an der Diagnose zu geben, dass wir es im Bereich politischer Steuerung mit einer neuen Rahmenordnung zu tun haben, die dazu Anlass gibt, von der Emergenz neuer globaler Governance-Strukturen zu sprechen. Sich wandelnde politische Regierungstechniken, neu verzahnte Normen, Regeln und quasi-rechtliche Strukturen beziehen sich immer stärker auf Formen der Machtausübung und Entscheidungsverfahren jenseits staatlicher Organisationen, so dass nicht nur von einem Souveränitäts- verlust des Staates gesprochen wird. Denn die Verlierer der Entwicklung, so wird behauptet, „sind die demokratischen Institutionen und damit die Bürger, deren Partizipationsmöglichkeiten notgedrungen leer laufen” (Abromeit/Schmidt 1998: 293).

Im Folgenden möchte ich Habermas‘ Konzept einer deliberativen Demokratie mit seinen Überlegungen zu einer „Weltinnenpolitik ohne Weltregierung” (Habermas 2004: 135) in Beziehung setzen. Im Globalisierungsdiskurs sind die Arbeiten von Habermas Paradigmen bildend geworden. Denn Habermas möchte zeigen – und dies im Widerspruch zur breit rezipierten These vom Demokratiedefizit postnationaler Gemeinschaften – dass die Rede vom „Ende der Demokratie” unangemessen ist. Habermas macht geltend, dass eine Theorie legitimer Herrschaft in Form einer Diskurstheorie auch auf die Kommunikationsströme und die Geltungsansprüche von Strukturen jenseits des Nationalstaates zurückwirkt (Habermas 2004: 183f.).

Meine Vermutung lautet nun allerdings, dass Habermas‘ Theoriemodell Zweifel zurücklässt, ob diese elementaren legitimatorischen Ordnungsleistungen wirklich erbracht werden. Nach meinem Dafürhalten scheinen Habermas begriffliche Vorentscheidungen für eine kosmopolitische Weltordnung am Ende die prozeduralistisch-institutionelle Pointe des Modells deliberativer Demokratie zu unterlaufen. Habertnas‘ Ansatz spiegelt in diesem Sinne ein Dilemma in der Demokratietheorie wider, das Seyla Benhabib (2009; 66) mit folgender Gegenüberstellung auf den Begriff bringt: „Müsste es richtigerweise also nicht „Kosmopolitismus und Demokratie”, sondern „Kosmopolitismus oder Demokratie” heißen?”

Im Folgenden soll es darum gehen die Schlüssigkeit von Habermas‘ Thesen zu untersuchen. Zu diesem Zweck möchte ich zunächst in aller Kürze seine Darlegungen zu einer Neudefinition und Ausweitung von Demokratietheorie auf supranationaler Ebene eingehen, die er unter dem Begriff einer „Weltinnenpolitik ohne Weltregierung” vorgelegt hat (II). Nachdem diese Überlegungen unter Rückgriff auf Habermas‘ Konzept einer Weltinnenpolitik, einigermaßen Gestalt angenommen haben, werde ich zunächst einige systematische, konzeptionelle Herausforderungen der Habermasschen Programmatik herausarbeiten (III), In einem weiteren Schritt wird sodann gefragt, ob Habermas‘ (idealisiertes) Mehrebenensystem auf supranationaler Ebene eine institutionelle Alternative zu den real existierenden Verhältnissen liefern kann (IV).

II. Habermas‘ Konzept einer „Weltin­nen­po­litik ohne Weltre­gie­rung”

Ich muss mich im Folgenden darauf beschränken eine kurze Skizze von Habermas‘ Vorstellung einer deliberativen Demokratie jenseits des Nationalstaates zu liefern:

(1) Erweiterung von Kants Idee einer Weltrepublik: Der innovative Kern einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts geht auf Kants (1982) Modell einer Weltrepublik zurück. Die Idee von Kants kontraktualistischem Kosmopolitismus besteht darin, eine Lösung für das Problem der zwischenstaatlichen Rechtsunsicherheit zu finden, in der sich die Staaten in den anarchischen Strukturen des internationalen Systems befinden. Genauso wie der Staat ehemals den zwischenmenschlichen Naturzustand aufhob, gelte es nun den anarchischen Naturzustand der internationalen Staatenpolitik zu überwinden. Habermas sieht in Kants Begründung einer Weltrepublik zwar einige historische und philosophische Restriktionen – die Analogie zwischen individuellem und nationalem Naturzustand oder die Idee eines bloßen Völkerbundes –, extrahiert aus der Grundidee von Kant aber gleichwohl die politische Verfassung einer Weltgesellschaft, die als Mehrebenensystem funktionieren und keinen Anspruch auf staatliches Eigenleben entfalten soll. In der „postnationalen Konstellation” wäre somit der Weg frei, das Kantische Modell einer „weltbürgerlichen Verfassung” zu realisieren. In einem solchen Modell würden die souveränen Staaten, die sich zu einem größeren Staatskörper vereinigen, ihre Autonomie freiwillig zugunsten einer höheren supranationalen Weltorganisation abgeben.

Allerdings spricht für Habermas einiges dafür, dass es nicht ausreicht das Modell Verfassungsstaat lediglich als globalen Völkerstaat in ein kosmopolitisch inspiriertes Gewand einzubinden. Habermas konstatiert zunächst in Anlehnung an Autoren wie Hauke Brunkhorst oder Brun-Otto Bryde (2003), dass es keinen zwingenden Grund für das Argument gäbe, dass Staat und Verfassung notwendigerweise in derselben Weise auch auf einer internationalen Ebene miteinander verknüpft werden müssten, wie dies in der Geschichte des europäischen Konstitutionalismus stets im Rahmen konstitutionalisierter Nationalstaaten assoziiert wurde. Der Staat sei keine notwendige Voraussetzung für Verfassungsordnungen (Habermas 2004: 136).

Die politische Machtbefugnis wird dementsprechend nicht mehr nur bei den politischen Parlamenten oder in der Staatsregierung verortet. Unter Regieren wird nun mehr als nur staatliches Entscheiden verstanden. Neben die staatliche Politik schiebt sich eine Sphäre globaler Weltordnungspolitik, so dass die Diagnose erlaubt ist, dass „der Verfassungsbegriff sich aus den Grenzen der Staatsverfassung fortzubewegen” (Brunkhorst 2005: 331) scheint. Fälschlicherweise, so Brun-Otto Bryde (2003: 63), sei im Rahmen der deutschen Demokratietheorie der Demos mit Staatsvolk übersetzt worden. Habermas geht, wie auch andere Autoren davon aus, dass trans- und supranationale Institutionen mittlerweile ein globales Geflecht von Rechtsverhältnissen und Verantwortungsgemeinschaften geschaffen haben (vgl, z.B. Fischer-Lescano 2005). Diese internationalen Regelnetzwerke verabschieden Regeln, die allen Staaten, die sie ratifizieren verbindliche Normen und Konventionen auferlegen. Die UN-Charta wird bereits als die einzige „global constitution” bzw. „Globalverfassung” bezeichnet, die sogar über den Staaten und ihren Rechtssubjekten Gültigkeit beanspruche (vgl. Brunkhorst 2005: 333).
(2) Drei Ebenen der Weltordnung: Vor diesem Hintergrund entwickelt nun Habermas in einer Art hierarchischer Aufschichtung eine globale Weltordnung, die drei Ebenen besitzt.

Auf der obersten, supranationalen Ebene repräsentiert die UNO Habermas zufolge die Verwirklichung der „Umformung des internationalen Rechts, als eines Rechts der Staaten, in ein Weltbürgerrecht als ein Recht der Individuen” (Habermas 2005: 326). Obgleich Habermas eine Reform der UNO für unabdingbar hält, konstatiert er, dass die Kantischen Ideen in ihr „eine dauerhafte institutionelle Gestalt angenommen” hätten (Habermas 2005: 324). Die Staaten wären nun, in ähnlicher Weise wie die Bürger des Nationalstaates des (ehemaligen) westfälischen Systems, „Mitglieder eines weltbürgerlichen Gemeinwesens unter einem Oberhaupt” (Habermas 2004: 128), indem sie zwar ihre Souveränität (z.B. das Recht zum Krieg) freiwillig einschränken jedoch ihre Souveränität nicht verlieren würden.

Die Frage stellt sich freilich, wie denn die vereinbarten Grundsätze und Normen durchgesetzt werden sollen, wenn die Staaten ihr Gewaltmonopol behalten. Eine strategische Entstaatlichung des Regierens kann es letztlich nur in der Wahl der Alternative eines (minimalistischen) „Weltstaates” oder eines Völkerbundes frei assoziierter, autonomer Staaten geben. Kant präferierte bekanntlich letzteres Modell. Kant schließt vor-erst die Möglichkeit eines Weltstaates aus, da die Staaten zum einen gerade nicht aus dem zwischenstaatlichen Naturzustand heraustreten und „ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben” (Kant 1982: B 37) wollen, da jeder Staat gerade darin sein Telos sehe. Er fürchtete zudem den „seelenlosen Despotismus” einer „Universalmonarchie”, die die Demokratie allmählich schwächen könnte, so dass das in der republikanischen Regierungsform durchgesetzte symmetrische Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten wieder gelöst werden würde. Aus diesen Gründen plädiert Kant für die Alternative eines Völkerbundes. Dieser soll in Gestalt eines Friedensbundes für die Erhaltung und Sicherheit der Freiheit der Staaten sorgen.

Obwohl Habermas (2005: 335) annimmt, dass die reformierte Weltorganisation eher einem „Völkerbund”, der unmittelbar aus Nationalstaaten bestehe, ähneln werde, möchte er über Kants Vorschlag eines Völkerbundes, als eines „negativen Surrogats” zur Weltrepublik hinausgehen. Die schwache Legitimation, die Kant im Sinne hat, wäre nur eine Kompromissbildung, „die wesentliche Züge der klassischen Machtpolitik wider-spiegelt” (Habermas 1998: 164). Diese reiche für eine Initüerung einer Weltinnenpolitik nicht aus. Die Völkerrechtsgemeinschaft müsse „ihre Mitglieder unter Androhung von Sanktionen zu rechtmäßigen Verhalten mindestens anhalten können” (Habermas 1996: 208). Man könnte schon jetzt von einer internationalen Gemeinschaft ausgehen, die Herrschaftsrechte „auf die Weltorganisation übertragen (habe), ohne diese zugleich mit einem globalen Gewaltmonopol auszustatten” (Habermas 2005: 332).

Auf einer mittleren, der transnationalen Ebene würden die großen global handlungsfähigen Akteure die komplexen Probleme „einer nicht nur koordinierenden, sondern gestaltenden Weltinnenpolitik, insbesondere die Probleme der Weltwirtschaft und der Ökologie, im Rahmen von ständigen Konferenzen und Verhandlungssystemen bearbeiten” (Habermas 2004: 134).

Für die Ebene der Nationalstaaten ließe sich festhalten, dass sie zentrale Elemente ihrer staatlichen Souveränität behalten würden. Die Kompetenz der Weltorganisation berechtige nicht dazu, dieser ein Gewaltmonopol zuzusprechen. Global Governance würde von den Nationalstaaten und deren militärischen Ressourcen abhängig bleiben. „Auf der weltpolitischen Bühne sind sie nach wie vor die wichtigsten, letztlich entscheidenden Aktoren.” (Habermas 2004: 175). Zudem bieten Staaten für Habermas eine nach wie vor unentbehrliche Legitimationsgrundlage: Über die mittelbare Rückendeckung der Nationalstaaten sichern sich die supranationalen Verfassungen vor allem auch ihre Legitimationszufuhr (Habermas 2004: 139f.).

III. Demokratische Legitimation auf der supranationalen Ebene

Demokratisch beauftragte Regierungen erhalten ihr Mandat traditionell von den Parlamenten. Und diese werden durch eine kollektiv handlungsfähige Bürgerschaft konstituiert, die z. B. in Form von Wahlen und Diskursen den politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess programmiert. Inwiefern sind nun Regierungsvertreter auf einer globalen Ebene den Vorgaben ihrer Prinzipalen unterworfen und welcher formaler Rechenschaftspflichtigkeit unterliegen sie? Habermas behauptet immer wieder, dass supranationale Institutionen erst dann so etwas wie eine Weltinnenpolitik institutionalisieren können, wenn „die Legitimationswege des demokratischen Prozesses von der Ebene der Nationalstaaten kontinuierlich bis zur Ebene dieses kontinentalen Regimes gleichsam nach oben verlängert werden” (Habermas 2004: 140). Nun weiß allerdings auch Habermas, dass ein starker demokratischer Meinungs- und Willensbildungsprozess bisher allein in Verfassungsstaaten realisiert worden ist (ebd.). Die entscheidende Frage an Habermas lautet somit, wie sich sein Konzept von Demokratie erfolgreich auf die Ebene der übernationalen Organisationen mit ihren eigenen Regelungskompetenzen übertragen lässt? Meines Erachtens gibt Habermas auf diese Frage drei Antworten: Er geht davon aus, dass die Legitimationsleistung a) über die demokratischen Verfassungsstaaten vermittelt wird, b) im Falle der EU über das Europäische Parlament erbracht wird und c) von einer dezentral agierenden „Weltöffentlichkeit” gestärkt werde.

III.a. Mittel­bar­keit durch die Natio­nal­staa­ten?

Eine legitimationsnotwendige Verzahnung von supranationalen Ordnungsstrukturen und Demokratie sei, wie Habermas (2004: 139) urteilt, „wenigstens indirekt” gegeben, weil diese „an die Legitimationsflüsse der Verfassungsstaaten angeschlossen bleiben” (ebd.: 139). Wer den Regierungen in den Mitgliedsstaaten, „die über die Mittel legitimer Gewaltanwendung schon verfügen” (Habermas 2007: 449), das Vertrauen ausspreche, könne dies auch bei den Regierungen der globalen Sphäre erwarten. Demnach würde z. B. die EU von der Legitimationszufuhr der Staatsgewalt ihrer Mitglieder zehren. Aber dies, so mein Eindruck, ist ein voreiliger Kurzschluss. Über den Stellenwert dieser Legitimationssäule bestehen unterschiedliche Ansichten.

Man kann dies wiederum am Beispiel der EU diskutieren. In den Einzelstaaten erfolgt demokratische Kontrolle direkt durch das Volk, das die Regierung und die parteipolitischen Profilierungen kontrolliert. Das gilt bei mittelbarer demokratischer Legitimation gerade nicht. Zum einen greift der Einfluss der nationalen Parlamente über die nationalen Minister nicht mehr, wenn der Rat mit qualifizierter oder einfacher Mehrheit entscheidet und damit die Entscheidung auch für diejenigen verpflichtend ist, die gegen diese gestimmt haben („Minderheitsländer“). Ist der mitgliedstaatliche Regierungsvertreter im Rat überstimmt worden, findet die Meinung des von ihm repräsentierten nationalen Parlaments und Volkes keine Berücksichtigung. Zum anderen stellt die EU gegenüber dem nationalen politischen System einen neuen, emergenten politischen Raum dar, in dem die eigene Regierung nur eine unter 27 Regierungen ist (Gusy 2000: 139). Die europäische Politik kann nicht durch Sanktionen der Wähler belohnt oder bestraft werden. Es gibt konkret gesagt keine Wähler, „die dem Ministerrat oder ein intergouvernementales Verhandlungssystem in ihrer Gesamtheit durch ihre Stimmzettel ‚abstrafen‘ können” (Zürn 1998: 244). In Mehrebenensystemen wie in der EU wird somit die Legitimationskette so lang, dass die Politiker „faktisch nicht mehr gegenüber einer nationalen Wählerschaft rechenschaftspflichtig sind” (Krajewski 2009: 217). Selbst die nationalen Parlamente erleben diesen Zustand häufig nur noch als Exekution der Sachzwänge. Da die politischen Kosten für eine Ablehnung hoch sind, kommt eine parlamentarische Ablehnung eines bereits von der Exekutive ausgehandelten internationalen Vertrages praktisch nicht vor. Das Parlament wird zum Akklamationsorgan. Wenn man, worauf Ingeborg Maus (2007: 361) hingewiesen hat, Volkssouveränität im Sinne Kants als „Gesetzgebungskompetenz des Volkes” interpretiert, dann wird nicht klar, wie man dessen Begriff auf Habermas Stufenlösung anwenden soll. Dementsprechend ist es strittig, gerade aus den nationalstaatlichen Parlamentswahlen eine demokratische Legitimation der Regierungen der Mitgliedstaaten für die Entscheidungen der europäischen Gesetzgebung herzuleiten.

III. b. Unions­bür­ger­liche Solidarität jenseits der nationalen Ebene

Bekanntermaßen verfügt die EU noch über einen zweiten Legitimationspfad, nämlich denjenigen, der über das Europäische Parlament führt. Auf dieses alternative Verständnis von demokratischer Legitimität bezieht sich auch Habermas (2011: 47), wenn er darauf hinweist, dass im Europäischen Parlament die Wähler in ihrer Rolle als Unionsbürger, die das Straßburger Parlament wählen und kontrollieren, am demokratischen Prozess beteiligt sind. Sie treten in Form einer „geteilten Souveränität” als „verfassungsgebendes Subjekt neben die Völker der Mitgliedsstaaten” (ebd., 44). Im Europäischen Parlament wird somit das europäische Volk repräsentiert. Und seit dem Lissabon-Vertrag hat sich die Gesetzgebungskompetenz des Europäischen Parlaments stark erweitert, so dass es nunmehr bei fast allen EU-Gesetzen mitbestimmt und über deren Inkrafttreten entscheidet.

Dennoch ist auch in diesem Fall die demokratische Legitimität nur rudimentär wirksam. Denn die Machtkonzentration des Parlaments bleibt begrenzt durch die nach wie vor starke Stellung des Rätesystems (Europäischer Rat, Ministerrat). Die Einflussmöglichkeiten des Parlaments gehorchen nicht Habermas‘ Vorstellung eines der Deliberation folgenden Parlaments. Das Parlament hat Kontrollfunktion aber kein Gesetzesinitiativrecht. Der Rat hat nach wie vor das alleinige Recht, Gesetze und Verordnungen zu formulieren. Abgeschlossen werden Verträge „nach bloßer Anhörung” des Parlaments. Es müssen allerdings noch nicht einmal alle EU-Gesetze vom Parlament abgesegnet werden. Soweit die EU im Rahmen ihrer Zuständigkeit Rechtsverträge aushandelt, führt die EU-Kommission die Vertragsverhandlungen auf der Basis einer Ermächtigung durch den Rat. Im Falle internationaler Handelsabkommen – wie etwa bei Verträgen wie dem GATS – muss das Parlament nicht einmal angehört werden (vgl. Lübbe-Wolff 2009: 131), Zudem wird die Kommission weiterhin vom Parlament lediglich bestätigt. Damit wird sie nur indirekt demokratisch legitimiert. Das EU-Parlament kannbei der Außen- und Sicherheitspolitik und bei essentiellen Fragen der Wirtschaftspolitik nicht mitbestimmen. Der Rat bleibt nach wie vor das primäre Entscheidungszentrum.

III.c. Weltöf­fent­lich­keit als Surrogat für supra­na­ti­o­nale Legiti­ma­tion?

Habermas‘ Überlegung, die globale administrative Macht wieder in die demokratische Legitimationskette einzubinden, endet mit einer Argumentationsfigur, die nun aus Faktizität und Geltung adaptiert wird. Habermas setzt auf die diffusen Zustimmungswerte einer sich spontan aktivierenden Weltöffentlichkeit, die eine legitimationsspendende Ersatzfunktion darstellten. Diese vom Emanzipationswillen motivierte Öffentlichkeit besiedelt den „Vorraum” der Macht. „Die ’spontane Aktivität einer schwachen Öffentlichkeit‘, die ‚keinen organisationsrechtlich gesicherten Zugang zu bindenden Entscheidungen hat‘, eröffnet wenigstens den Legitimationsweg einer `losen Koppelung von Diskussion,und Dezision.” (Habermas 2004: 141) Er überrascht schließlich mit der These, dass die supranationale Ebene quasi einer demokratischen Kontrolle nicht bedürfe. Für die kosmopolitische Weltordnung werden die funktionalen Erfordernisse demokratischer Legitimität ganz bewusst nach unten geschraubt. Da sie sich „nur” auf die Funktion der Friedenssicherung und des Menschenrechtsschutzes beschränkt, „braucht sich die Solidarität der Weltbürger nicht wie die Solidarität von Staatsbürgern auf die, ’starken‘ ethischen Wertungen und Praktiken einer gemeinsamen politischen Kultur und Lebensform zu stützten” (ebd., S. 141f). Es genüge auf der supranationalen Ebene „ein Gleichklang der moralischen Entrüstung über massive Menschenrechtsverstöße und evidente Verletzungen des Verbots militärischer Angriffshandlungen” (ebd., S. 142).

Nun wird sich auch von diesem Argument nicht jeder Leser überzeugen lassen. Zwar bin ich mit Habermas der Meinung, dass Massendemokratien nur dann als liberaler Rechtsstaat funktionieren können, wenn sie in politische Öffentlichkeiten integriert sind. Die Zivilgesellschaft sendet in diesem Sinne Signale aus, die von dem politischen System verarbeitet werden. Sie sorgt dafür, dass Probleme kollektiv kommuniziert wer-den und programmiert auf diese Weise das politische System.

Der entscheidende Punkt jedoch besteht darin, dass bei Habermas an dieser Stelle eine systematische Analyse der medientheoretischen, sozialen und kognitiven Voraussetzung erfolgreicher öffentlicher Meinungsbildung fehlt. Dass sich angesichts der elektronischen Kommunikationsrevolution das deliberative Paradigma anbietet, liegt nahe, aber ist perspektivisch und demokratietheoretisch nicht erschöpfend. Denn wer auf eine globale Weltöffentlichkeit setzt, die die Weltorganisation „belagert”, muss erst einmal die Frage beantworten, aus was diese besteht. Wie sieht diese Weltöffentlichkeit aus? Wie extensiv (also geographisch übergreifend) und intensiv (also wie stark durch-dringend) kann sie Integrationseffekte konstituieren?

Gewiss, die Möglichkeiten, an öffentlicher Kommunikation teilzunehmen, haben in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Die Idee einer instantanen Integration der Weltgesellschaft scheitert jedoch bereits in rein technischer Hinsicht. Sie berücksichtigt nämlich nicht die Milliarden von Menschen, die keinen Zugang zu den Medien haben, gleichwohl dennoch Teil der Weltgesellschaft sind. Ebenso gibt es aufgrund der Stratifizierung der Sphäre öffentlicher Deliberation wichtige Ungleichheiten zwischen inkludierten und exkludierten Teilnehmern in der Weltöffentlichkeit (vgl. Peters 2007: 152ff.).

Längst gehört es mittlerweile zur notorischen Kritik an der Europäischen Union – die ja in der Weltgesellschaft nur ein weltregionales System darstellt –, dass die Öffentlichkeit der Transnationalisierung bzw. der Europäisierung von Politik hinterherhinkt. Der EU fehlt die basale Voraussetzung für demokratische Legitimität: Ein (politischer) europäischer Demos, der die demokratische Hülle mit demokratischer Substanz füllt. Die Schwäche und wenig ausgeprägte Signifikanz einer europäischen Öffentlichkeit führt konsequenterweise letztlich „zu einem erschreckenden Ausmaß an Desinteresse und Apathie an europäischen Wahlen” (Oeter 2009: 411). Umso unrealistischer ist es, dass das plurale Stimmengemisch einer Weltgesellschaft und die kurze Halbwertszeit medialer Narrative sich auf der supranationalen Ebene zu einem globalen, konsistenten Demos konstituieren. „Viel kommunikativer Lärm ist noch keine politische Öffentlichkeit.” (Eder 2006: 106)

Es ist unbestritten, dass es heute eine Vielzahl an zivilgesellschaftlichen Initiativen und Bewegungen gibt, die sich für weltweite Normen einsetzen und auch erstaunliche Erfolge zeitigen. Man denke an die Massen mutiger Menschen, die sich in der arabischen Welt für demokratische Rechte einsetzen. Fraglich ist allerdings, ob die weltzivil-gesellschaftliche demokratische Revolution wirklich kurz bevor steht. Dass eine globale öffentliche, über Massenmedien vermittelte Skandalisierungspraxis von sozialen Bewegungen und NGOs, Menschenrechte „durch Herbeirufen in Geltung setzt” (Fischer-Lescano 2005: 71) mag für den Einzelfall zutreffen. Ob man deswegen den unberechenbaren Animationsraum der Öffentlichkeit zum zentralen demokratischen „Hoffnungsträger der Weltgesellschaft” (ebd.: 30) hochstilisieren kann, muss mit Skepsis betrachtet werden. Es bleibt strittig, ob Habermas Demokratiekonzept, wonach die Legitimität der globalen politischen Ordnung durch demokratische Verfahren konstituiert wird, unter diesen Umständen kohärent entfaltet werden kann.

IV. Die fehlende insti­tu­ti­o­nelle Infra­s­truktur
für eine supra­na­ti­o­nale demokra­ti­sche Weltre­gie­rung

Vor diesem Hintergrund des oben entfalteten Problemhorizonts scheinen einige Bemerkungen zur Struktur der Weltorganisation angebracht. Sie beziehen sich auf die Frage der empirischen Evidenz von Habermas‘ Skizze und der Frage nach der Souveränitätsfunktion.

Habermas (2007: 452) konstatiert, dass die auf der supranationalen Ebene sich verortende Weltpolitik „eine hierarchische Stellung gegenüber den Mitgliedsstaaten” inne-hat. „Sie setzt notfalls Gewalt ein und greift auf ein Sanktionspotential zurück, das sie sich bei potenten und willigen Mitgliedern `ausleiht” (ebd.). Die Exekutive der UNO müsse „so weit gestärkt werden, dass sie eine effektive Durchführung von Sicherheitsbeschlüssen garantieren kann” (Habermas 2004: 172). Für Habermas besteht kein Zweifel, dass eine vollständige Verrechtlichung möglich ist und den Globus vollständig durchdringt. In Zukunft würden Kriege und auch humanitäre Interventionen gleichsamnaturwüchsig legalisiert werden und den Sinn weltpolizeilicher Maßnahmen annehmen. Um dieses Ziel zu erreichen, muss sich der UNO-Sicherheitsrat an , justiziable Regeln binden, die allgemein festlegen, wann die UNO zum Eingreifen berechtigt und verpflichtet ist“ (Habermas 2004: 172).

Nach meiner Ansicht scheint Habermas relativ umstandslos von einer bereits integrierten Wertegemeinschaft auszugehen. Im Prinzip skizziert er eine „Entwicklungsrichtung” oder die „Logik einer Entwicklung” (Habermas 2004: 132). Grundsätzlich scheint er jedoch der Meinung zu sein, dass sein Konzept einer deliberierenden Weltgesellschaft im Sinne einer überstaatlichen Rahmenordnung schon Faktizität beanspruchen kann. Doch so einfach liegen die Dinge nicht. Allzu häufig wird in der Literatur von einem im höchsten Sinne normativen Begriff auf die harte Faktizität der Weltgesellschaft geschlossen. Habermas Idee ist theoretisch dabei durchaus nachzuvollziehen.

Als institutioneller Repräsentant der Weltöffentlichkeit hat die UNO, in einer kosmopolitischen Perspektive, die Aufgabe, die Menschenrechte durchzusetzen. Denn faktisch ist die UNO – unter dem Signum des Kosmopolitismus – eine Gemeinschaft von Staaten und von Bürgern (Habermas 2004: 135). Die entscheidende Frage dabei lautet allerdings: Wer entscheidet? Und unter welchen Bedingungen wird entschieden?

Tatsächlich ist an dieser Stelle ein Seitenblick auf die UNO durchaus am Platze. Da-bei ist festzustellen, dass es bisher erkennbar an der institutionellen Infrastruktur für ei-ne globale, demokratisch organisierte Weltregierung fehlt. Der Sicherheitsrat bezieht sich zwar auf alle Völker (Art. 103 UN-Charta): „We the people of the United Nations.” Wenn aber behauptet wird, dass die Akteure dieses „We”, die Vollversammlung, der Sicherheitsrat und der Haager Gerichtshof, das globale Recht und die vielen Resolutionen in seiner derzeitigen Form demokratisch durchsetzten, ist das etwas missverständlich. Denn nach wie vor repräsentiert z. B. der Sicherheitsrat der UNO die Siegerordnung des Zweiten Weltkrieges, weil nur die USA, Großbritannien, Frankreich, Russland und China dem Rat als selbständige Mitglieder angehören.

Gerade die hochgradige Selektivität, von der der Sicherheitsrat bisher bei der weltweiten Durchsetzung der Menschenrechte geleitet wurde, demonstriert die Kontingenz und die problematischen strukturellen Konstellationen, in denen ein Organ wie der Sicherheitsrat operiert. Der Sicherheitsrat hatte es in unzähligen Fällen nicht für nötig befunden einzugreifen. Während etwa in Somalia, Haiti und Bosnien militärisch interveniert wurde, ist in anderen, ganz ähnlichen Fällen massiver Menschenrechtsverletzung – wie zum Beispiel in Zaire, in der kongolesischen Region Ituri, in Darfur oder in Ruanda – eine vergleichbare Interventionsbereitschaft der internationalen Gemeinschaft ausgeblieben. Die Entwicklung der letzten Jahre lässt sich geradezu als Rückkehr zu einer nüchternen Abwägung von Nutzen und Kostenvorteilen interpretieren.

Auch wenn Habermas von der optimistischen Annahme eines reformierten Sicherheitsrates ausgeht, ist es schwierig, ihm in der Meinung zu folgen, dass dieser jetzt und in Zukunft immer und in allen Fällen sich „nach fairen Regeln, also unparteilich und auf nicht-selektive Weise mit justiziablen Fragen der Friedenssicherung und des Menschenrechtsschutzes befasst” (Habermas 2005: 356). Denn selbst wenn sich die UNO im Habermasschen Sinne reformieren sollte – z. B. repräsentative Zusammensetzung des UN-Sicherheitsrates durch Erweiterung der Mitglieder, zweite UN-Kammer mit regionalen Parlamenten etc. –und sich hauptsächlich auf negative Pflichten fokussierte, würde die von Habermas skizzierte kosmopolitische Weltregierung vor komplizierte Fragen und unaufgelöste Ambivalenzen gestellt. Auch hier eröffnen sich in der notwendigen Zuordnung der Rechtsdurchsetzungsmacht durch den Sicherheitsrat einige grundsätzlichen Schwierigkeiten.

Weil dem Sicherheitsrat im Habermasschen Modell formal ja das Monopol der legitimen Gewaltausübung nach wie vor fehlen würde, bestünde er selbst nach weit reichenden Reformen (wie die UNO insgesamt) aus interessengeleiteten Akteuren. Die kooperierenden, beliehenen oder als Rechtsdurchsetzungsinstanz beauftragten Akteure, agierten stets in Abhängigkeit von Staaten. Wie überall ist solche Herrschaftsausübung – und das hat mit einem naiven politischen Realismus nichts zu tun – nicht nur kosmopolitische Problembewältigung, sondern auch Machtkampf. Kurz: Wer hat das Sagen und profitiert auch davon? Man könnte also in Bezug auf militärische Interventionen des Sicherheitsrates nicht auf Konsensunterstellung setzen, sondern müsste weiterhin annehmen, dass Entscheidungen hochgradig nationalistisch und partikularistisch aufgeladen sind, zumal das Kräftespiel von tiefen militärischen Ungleichheiten geprägt wäre. Die „geborenen Kontinentalregime wie China oder Russland” (Habermas 2005: 338), der hegemoniale Unilateralismus der USA, aber auch eine EU, die eigene Streitkräfte beanspruchen müsste, um sich aus der Abhängigkeit von überlegenen Partnern zu lösen, lassen auch bei Habermas den Eindruck entstehen, die internationale Politik sei nach wie vor mit einem „Hauch von klassischer Außenpolitik” (Habermas 2007: 454) behaftet. Zumindest kann er kaum die Befürchtung zerstreuen, dass vorgreifende Rechtskonstruktionen und das Lernverhalten der Nationalstaaten, sich als Organisationsmitglieder zu verstehen, nicht immer wieder von den bekannten Verfahren der Machtpolitik ausgehebelt würden.

Vor diesem Hintergrund stellte sich dann aber die Frage, was denn wirklich von einer Weltpolizei erwartet würde, wenn sie sich unter solchen Umständen als Instanz des legitimen Krieges verstünde? Postulierte man gemäß dem Kosovo-Fall einen menschenrechtlichen Imperativ – eine Art „hegemoniales Recht” (Habermas 2004: 181) – müsste man in allen analogen Konstellationen intervenieren. Wer ein (Not-)Recht auf eine gewaltsame Intervention beansprucht, kann nicht gleichzeitig willkürlich in dieser Rechtsanwendung verfahren, sonst könnte man nicht ernsthaft von der Durchsetzung von Recht sprechen. Aus einem Recht zur gewaltsamen Durchsetzung von Menschenrechten folgt somit logischerweise eine Pflicht zur humanitären Intervention. Also auch in solchen Krisensituationen, in denen Interventionen gegen Staaten gar nicht möglich wären. Die UNO und der Sicherheitsrat mit seinen ständigen Mitgliedern wären ja in der skizzierten Konstellation keine unabhängige Partei. „Manche Staaten sind von vornherein ‚gleicher‘ als andere – Zwangsmaßnahmen gegen Russland (wegen der Vorgänge in Tschetschenien), China (wegen der brutalen Repression der Bevölkerung Tibets) oder auch gegen Israel (als Schützling der USA) sind in dem System der UN-Charta praktisch kaum denkbar.” (Oeter 2008, S. 41) Habermas gibt jedoch keine prozeduralen Kriterien an, wie die von ihm unterstellten fairen und kooperativen Interaktionen „im Stile der Kompromissbildung zwischen domestizierten Großmächten” (Habermas 2004: 135) auf eine Weltordnungspolitik angepasst würden.

Auf dieser Stufe der Uberlegungen ist klar erkennbar, dass unter den skizzierten Herrschaftskonstellationen eine Verrechtlichung kriegerischer Konflikte durch hegemoniales Recht, wie Habermas sie vorschlägt, der Problematik einer „Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff” (Schmitt 1988) nicht entkommen würde. Denn nun würde sich eine vielfach durch Machthierarchien gespaltene Weltordnung zum Repräsentanten des Willens von Weltbürgern erheben, die doch maßgeblich von außerrechtlichen Interessen abhängig wäre. Das genau war Carl Schmitts Befürchtung.

Es darf auch nicht die Einsicht aus den Augen verloren werden, dass Kriege, die zum Schutz der Menschenrechte geführt wurden, dieselben dynamischen Entwicklungspfade einschlagen wie die zwischenstaatlichen Kriege, insbesondere vor dem Hintergrund, dass kooperationsunwillige Staaten ihre militärischen Ressourcen nach wie vor alleine kontrollieren würden. Münkler (2004: 225ff.) zufolge wären sie schlicht zu teuer: Zumindest ist stark zu bezweifeln, ob die Kosten, die die Fortdauer eines innergesellscha8lichen Krieges bzw. permanenter Interventionen verursachen, auf Dauer von den transnationalen Gewalten getragen werden würden. Postheroische Gesellschaften sind durchaus bereit, sich moralisch über den Verstoß gegen Menschenrechte zu empören, aber sie möchten dass die Verluste in sehr engen Grenzen bleiben und wenig Blut (auf eigener Seite) fließt.

Der Basis, auf dem Habermas‘ Plädoyer für die Durchsetzung der Menschenrechte mit dem Mittel legitimer Gewaltanwendung ruht, liegt eine spezifische Asymmetrie zu Grunde. Die Menschenrechte erhalten bei Habermas – aufgrund seiner kosmopolitischen Perspektive – eine Art nicht normativ begründungspflichtigen und damit den politischen Rechten hierarchisch übergeordneten Status. Werden sie doch immer schon als zweckmäßig und unproblematisch vorausgesetzt. Gerade bei Habermas‘ Erörterungen zum legitimen Krieg drängt sich dem Leser der Eindruck auf, dass das Diskursivitätsprinzip deliberativer Demokratie durch die Mittel legitimer Gewaltanwendung, die sich auf die kosmopolitische Rahmenordnung berufen, außer Kraft gesetzt wird.

Es erhöht dabei die Ironie der Lage, dass der Kosovo-Krieg und auch ein weiterer Teil der geführten militärischen Interventionen der letzten Jahrzehnte unter Rekurs auf die Logik der Konstitutionalisierung, zu einer Entrechtlichung der internationalen Beziehungen geführt hat (Brock 2007). Nichts manifestiert die Wirklichkeit politischer Gewaltausübung auch heute noch deutlicher als das Außer-Kraft-Setzen prozeduraler Verfahren und Restriktionen der UN-Charta und die eigenmächtige Auslegung von Sicherheitsratsbeschlüssen.

Dass sich aus der Untätigkeit gegen schwerste Menschenrechtsverletzungen auch ethisch-moralisch ein Dilemma, wenn nicht gar ein Desaster, ergeben könnte, ist aus moralischer Perspektive höchst verständlich. Dass legitime Gewalt im Falle organisierten Völkermordes berechtigt ist, kann im Prinzip nicht falsch sein. Doch daraus entsteht noch keine Einigkeit darüber, was diese Normen, Gebote und Verbote konkret mit sich bringen und praxeologisch bedeuten.

V. Schluss

An der Diagnose, dass sich neben den Staat eine zunehmend transnationale Sphäre sui generis schiebe, der „im Ganzen der staatliche Charakter aus guten Gründen fehlt” (Habermas 2004: 144), gibt es keinen begründenden Zweifel mehr. Genügend Hinweise können angeführt werden, die als ein qualitativer Wandel des Völkerrechts in Richtung eines Weltinnenrechts interpretiert werden können. Die vorstehenden Skizzen über die Entfaltung des Potenzials des Habermasschen Modells einer kosmopolitischen Welt-. ordnung haben deutlich gemacht, dass durchaus strukturelle Konstellationen existieren, in denen eine Stärkung der internationalen Rechtsdurchsetzung denkbar wäre. Jedoch gibt es bisher keine Instanz, die organisatorisch oder politisch hinreichend für die demokratische Ausfüllung einer solchen Rolle vorbereitet wäre. Wie auch immer man die Idee deliberativer Politik fassen mag, so setzt jede Konzeption von Demokratie voraus, dass die Beteiligten auf ihre Lebensumstände selbst einwirken.

— Bei den zentralen Institutionen, die Habermas als Beispiel für eine gelungene Konstitutionalisierung auf supranationaler Ebene anführt — wie die UNO oder die EU —, sind demokratische Strukturen vor eine Reihe von Herausforderungen gestellt. Entscheidend für den Gang der Dinge bleibt die Tatsache, dass beispielsweise in der EU bislang nicht die Unionsbürger herrschen. Sie ist faktisch gesehen keine Regierung des Volkes, sondern vor allem eine „Regierung von Regierungen” (Scharpf 2009: 253).
— Es ist nach meinem Dafürhalten bisher nicht ersichtlich, wie eine extraterritoriale Determination der staatsbürgerlichen Willensbildung durch globale Mehrebenensysteme im Medium einer informellen, bisher kaum strukturiert agierenden, „Weltöffentlichkeit” außer Kraft gesetzt werden kann.

— Wie sich diese neuen Modi internationalen Regierens auf der supranationalen Ebene einspielen, darüber erfahren wir bei Habermas‘ Skizze wenig. Denn anders als im Paradigma (oder ldeal) eines wie immer gearteten „Weltminimalstaates” (Schmalz-Bruns 1999: 234) oder einer Weltrepublik, in denen die Weltbürger (idealiter) aufgerufen wären, sich an universalistischen Standards zu orientieren, produziert die internationale Ordnung im Habermasschen Modell, Governance im wesentlichen durch den gewaltmonopolisierenden Staat. Warum sich allerdings hinter der Fassade der Weltorganisation nicht selbst wiederum das hegemoniale Recht der Stärkeren durchsetzen sollte, vermag Habermas nicht schlüssig zu begründen. Er scheint die kosmopolitische Rahmung im Sinne einer allgemeinen Orientierungsweise und eines Lernverhaltens manchmal schlicht vorauszusetzen. Nationalstaatliche Interessen wirken nur noch als quasi unumgängliches Übel einer Übergangszeit.

Möglicherweise ist es so, wie Fritz Scharpf (1998: 236) mutmaßt, dass die Übertragung von Regierungsfunktionen an transnationale Verhandlungssysteme es mit sich bringt, dass politische Problemklassen entstehen, für die der relevante Entscheidungsraum „nicht als demokratische Handlungseinheit konstituiert” ist. Daraus folgt eine Schließung politischer Entscheidungen und ein Verlust an Transparenz. Angesichts der Situation, dass sich die Verfügungsmasse, die der demokratischen Selbstbestimmung unterliegt in internationalen Mehrebenensystemen minimiert, scheint es notwendig über Formen alternativer Legitimation nachzudenken. Ob es jedoch für eine demokratische
Kultur ausreicht, sich stärker auf den „Output” von Entscheidungsergebnissen zu fokussieren oder auf eine Öffentlichkeit zu setzen, in der diese nur noch als Verwalterin eines „Pools von Gründen” (Habermas 1992: 623) in Erscheinung tritt, bedarf der weiteren vertieften Prüfung. Die bisherige Praxis der Großmächte im Umgang mit derartigen Rechtfertigungsgründen ist kaum dazu angetan, die Befürchtungen völlig zu zerstreuen, dass in der postnationalen Konstellation die Idee eines sich selbst verwaltenden Kollektivs freier Bürger möglicherweise nur noch als Fassade bestehen bleibt.

Literatur

Abromeit, H./Schmidt, T. (1998): Grenzprobleme der Demokratie: konzeptionelle Überlegungen, in: B.
Kohler-Koch (Hg.) Regieren in entgrenzten Räumen, PVS-Sonderheft 29, Opladen, S. 293-320.
Benhabib, S. (2009): Kosmopolitismus oder Demokratie? Blätter für deutsche und internationale Politik
6/2009,`S, 65-74.
Brock, L. (2007): Innerstaatliche Kriege und internationale Gewaltanwendung seit dem Ende des Ost-West-Konflikts. Indiz für die Emergenz oder das Ausbleiben von Weltstaatlichkeit?, in: Albert, M./Stichweh, R. (Hrsg.): Weltstaat und Weltstaatlichkeit. Beobachtungen globaler politischer Strukturbildung. Wiesbaden, S. 158-186.
Brunkhorst, H. (2005): Demokratie in der globalen Rechtsgenossenschaft. Einige Überlegungen zur poststaatlichen Verfassung der Weltgesellschaft. Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft Weltgesellschaft, S. 330-347.
Bryde, B.,-O. (2003): Konstitutionalisierung des Völkerrechts und Internationalisierung des Verfassungsrechts. Der Staat 42, 1, S. 61-75.
Eder, K. (2006): Öffentlichkeit und Demokratie, in: M. Jachtenfuchs & B. Kühler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, 2. Auflage. Wiesbaden, S. 85-120.
Fischer-Lescano, A. (2005): Globalverfassung, Weilerswist.
Greven, M. (1998): Mitgliedschaft, Grenzen und politischer Raum: Problemdimensionen der Demokratisierung der Europäischen Union, in: B. Kühler-Koch (Hg.) Regieren in entgrenzten Räumen, PVS-Sonderheft 29. Opladen, S. 249-270.
Gusy, C. (2000): Demokratiedefizite postnationaler Gemeinschaften unter Berücksichtigung der Europäischen Union, in: H. Brunkhorst/M. Kettner (Hrsg.), Globalisierung und Demokratie. Wirtschaft, Recht, Medien. Frankfurt/M., 5.131-150.
Habermas, J(1992): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt/M.
Habermas, J. (1996): Die Einbeziehung des Anderen. Frankfurt/M,
Habermas, J(1998): Die postnationale Konstellation. Frankfurt/M.
Habermas, J. (2004): Der gespaltene Westen. Frankfurt/M.
Habermas, J. (2005): Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt/M.
Habermas, J(2007): Kommunikative Rationalität und grenzüberschreitende Politik: eine Replik, in: P. Niesen/B. Herboth (Hg.): Anarchie der kommunikativen Freiheit. Jürgen Habermas und die Theorie der internationalen Politik. Frankfurt/M., S. 406-459.
Habermas, J. (2011): Wie demokratisch ist die EU? Die Krise der Europäischen Union im Licht einer Konstituationalisierung des Völkerrechts, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 8,
S. 37-48.
Kant, I. (1982): Zum ewigen Frieden, in: W. Weischedel (Hg.): Immanuel Kant Werkausgabe Bd. 11, 4. Auflage. Frankfurt/M., 5.191-251.
Krajewski, M. (2009): Zur Demokratisierung von Global Economic Governance, in: H. Brunkhorst (Hg.), Demokratie in der Weltgesellschaft. Sonderband 18 Soziale Welt: Baden-Baden, S. 215-230

Lübbe-Wolff, G. (2009): Die Internationalisierung der Politik und die Macht-verluste der Parlamente. In: H. Brunkhorst (Hg.) Demokratie in der Weltgesellschaft. Sonderband 18 Soziale Welt: Baden-Baden. Baden-Baden 2009, 127-142.
Maus, L (2007): Verfassung oder Vertrag. Zur Verrechtlichung globaler Politik, in: P. Niesen/B. Herboth (Hg.): Anarchie der kommunikativen Freiheit. Jürgen Habermas und die Theorie der internationafenPolitik. Frankfurt a.M., S. 350-382.
Münkler, H. (2004): Die neuen Kriege. Reinbek bei Hamburg.
Oeter, S. (2008): Humanitäre Intervention und die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots – Wen oder was schützt das Völkerrecht? in: H. Münkler u. K. Malowitz (2008) (Hg.): Humanitäre Intervention. Wiesbaden, S. 89-113.
Oeter, S. (2009): Die Europäische Union zwischen organisierter Verantwortungslosigkeit und föderaler Konkordanzdemokrati, in: Brunkhorst, H. (Hg), Demokratie in der Weltgesellschaft, Soziale Welt. Baden-Baden. S. 405136.
Peters, B. (2007): Der Sinn von Öffentlichkeit. Frankfurt/M.

Scharpf, F., W. (1998): Demokratie in der transnationalen Politik, in: Ulrich Beck (Hg.): Politik der Globalisierung. Frankfurt/M. S. 228-254.
Scharpf, F. W. (2009): Legitimität im europäischen Mehrebenensystem. Leviathan 37, S. 244-280. Schmalz-Bruns, R. (1999): Deliberativer Supranationalismus. Demokratisches Regieren jenseits des Nationalstaats. Zeitschrift für internationale Beziehungen, Jg. 6 (2), 5.185-244.
Schmitt, C. (1988): Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, 2. Aufl. Berlin.
Volkmann, U (2002): Setzt Demokratie den Staat voraus? Archiv für öffentliches Recht, 127, S. 575-611
Zürn, M. (1998): Regieren jenseits des Nationalstaates, Frankfurt/M.

nach oben