Publikationen / vorgänge / vorgänge 199: Ambivalenzen der Partizipation

Das unein­ge­löste Versprechen der Demokratie

Zum Verhältnis von sozialer Ungleichheit und politischer Partizipation in der repräsentativen Demokratie

aus: vorgänge Nr. 199 (Heft 3/2012), S. 43-52

Einleitung

Politische Gleichheit gilt gemeinhin als zentrales Prinzip demokratischer Herrschaft. In seiner abstraktesten Form verlangt politische Gleichheit die gleiche Berücksichtigung von individuellen Interessen der Mitglieder eines Gemeinwesens. Auch wenn es große Unterschiede in der institutionellen Ausgestaltung demokratischer Systeme gibt, lassen sich das allgemeine Wahlrecht auf der Input-Seite, sowie Gemeinwohlorientierung auf der Output-Seite als zentrale Verkörperungen des Ideals politischer Gleichheit in allen modernen Demokratien wiederfinden. Es sind diese beiden Merkmale zusammengenommen, die eine Demokratie von einer diktatorischen oder oligarchischen Herrschaftsform unterscheiden. Wer das Ideal politischer Gleichheit ernst nimmt, wird sich mit einer rein formellen Bestimmung jedoch kaum zufrieden geben. Die gleiche Berücksichtigung von Interessen beinhaltet in einer substantiell egalitären Lesart, mehr als nur die gleiche Berücksichtigung von Stimmen bei einer Wahl oder eine abstrakte Orientierung am Gemeinwohl. Politische Gleichheit verlangt auf der einen Seite nach gleichen Teilhabemöglichkeiten der Bevölkerung und auf der anderen Seite nach einer gleichen Berücksichtigung von Interessen bei substantiellen politischen Entscheidungen.

Inwiefern diese beiden Bedingungen in einer Demokratie erfüllt sind, ist zunächst eine empirische Frage. Gibt es einen Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und politischer Partizipation? Welche Formen der Partizipation werden egalitärer genutzt und welche sind durch hohe Zugangsschwellen gekennzeichnet? Werden die Interessen bestimmter Bevölkerungsteile stärker berücksichtigt als andere? Anhand empirischer Umfragedaten sollen diese Fragen im ersten Teil des Essays untersucht werden. Auf der Grundlage der empirischen Befunde werden im zweiten Teil daraufhin einige Überlegungen zu den Konsequenzen für die demokratische Willensbildung angestellt. Hierbei wird zunächst offen gelegt welche normativen Forderungen das Ideal politischer Gleichheit konkret beinhaltet. Welche Merkmale sollte ein demokratisches System demnach aufweisen, um dem Ideal politischer Gleichheit in angemessener Form gerecht zu werden? Abschließend werden einige Herausforderungen und offene Fragen für die Demokratie-und Partizipationsforschung diskutiert.

Das zentrale Argument des Artikels, welches im weiteren Verlauf entfaltet werden soll, lässt sich in komprimierter Form folgendermaßen zusammenfassen: Politische Teilhabe ist im hohen Maße abhängig vom sozialen Status. Je höher das Einkommensniveau und der Bildungsstand, desto wahrscheinlicher ist es, dass Menschen sich am politischen Entscheidungsprozess beteiligen und ihren individuellen Interessen Gehör verschaffen können. Politische Gleichheit, also die gleiche Berücksichtigung von Interessen, wird durch die vorhandene soziale Ungleichheit untergraben. Das zentrale Versprechen der Demokratie, welches im Ideal politischer Gleichheit zum Ausdruck kommt, bleibt somit uneingelöst. Soziale Ungleichheit ist somit nicht nur ein ökonomisches Verteilungsproblem. Wenn bestimmte Teile der Bevölkerung von politischer Teilhabe weitestgehend ausgeschlossen sind, wird soziale Ungleichheit zu einem Legitimitätsproblem repräsentativer Demokratien.

Die Abhän­gig­keit politischer Teilhabe vom sozialen Status[1]

Seit den siebziger Jahren hat die soziale Ungleichheit in Deutschland und generell in Westeuropa wieder zugenommen. Aktuelle Zahlen des DIW belegen für die jüngste Zeit sogar eine Verschärfung dieses Trends. Hinsichtlich der Einkommensverteilung ist eine wachsende Differenz der niedrigen und höchsten Einkommen festzustellen bei gleichzeitigem Schrumpfen der Mittelschicht (Grabka and Frick 2008). Das Vermögen ist in Deutschland noch weitaus ungleicher verteilt als das Einkommen: 1 Prozent der Bevölkerung besitzt etwa ein Viertel des gesamten Vermögens in Deutschland und damit mehr als die unteren 80 Prozent zusammengenommen (Frick, Grabka, and Hauser 2010). Die Chancen, diesen Trend durch das bestehende Bildungssystem umzukehren, sind ebenfalls nicht besonders vielversprechend: Laut OECD haben Kinder von besser gestellten Familien in Deutschland eine mehr als doppelt so große Studienchance wie Kinder aus „bildungsfernen“ Familien, womit Deutschland im OECD-Vergleich am unteren Ende der Skala rangiert.

Die Frage, die sich vor dem Hintergrund zunehmender sozialer Ungleichheiten für politische Partizipation stellt, ist, inwiefern sich Einkommens-und Bildungsungleichheit auch in der Teilhabe am politischen Entscheidungsprozess widerspiegeln? Vorhandene Umfragedaten sprechen hierbei eine eindeutige Sprache: Politische Teilhabe hängt im hohen Maße vom sozialen Status ab.2 Im Folgenden soll dieser Befund anhand von Daten aus der „Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften“ (ALLBUS) belegt werden.3 Einkommen und Bildungsgrad dienen hierfür als Indikatoren für den sozialen Status einer Person. Vier zentrale Indikatoren politischer Teilhabe werden herangezogen: (1) Politisches Interesse und Wirksamkeitsüberzeugung, (2) Wahlteilnahme, (3) Mitgliedschaften und (4) zivilgesellschaftliche Partizipationsformen.

(1) Als wichtige Vorstufe zum politische Engagement gelten handlungsbezogene politische Einstellungen, von denen das politische Interesse sowie die eigene politische Wirksamkeitsüberzeugung von besonderer Bedeutung sind. Nicht vorhandenes politisches Interesse und eine unterdurchschnittliche Wirksamkeitsüberzeugung reduzieren die politische Partizipationsbereitschaft. Beide Faktoren sind im hohen Maße abhängig von Einkommen und Bildung.

Personen mit (Fach-)Abitur zeigen ein überproportional hohes Interesse an Politik, während Hauptschulabsolventen unter dem Durchschnittswert liegen. Gleiches gilt für die Verteilung nach Einkommensgruppen: Während das untere Einkommensquintil 2010 lediglich mit 21,6 Prozent „stark“ und „sehr stark“ Interessierten vertreten ist, sind es beim obersten Fünftel 41,1 Prozent, also fast doppelt so viele.

Gleichzeitig lässt sich zeigen, dass die individuelle politische Wirksamkeitsüberzeugung bei bildungsfernen und einkommensschwachen Gruppen der Bevölkerung äußerst gering ausgeprägt ist. Politik wird von sozial benachteiligten Menschen als eine Veranstaltung politischer Eliten betrachtet. Die eigenen Einflussmöglichkeiten werden gering eingeschätzt. Somit kommt es zu „Mechanismen des Selbstausschlusses“, die zu einem noch geringeren politischen Engagement sozial Benachteiligter führen, was insbesondere bei modernen Formen politischer Partizipation der Fall ist, die auf Eigeninitiative und Flexibilität setzen.

(2) Ein Blick auf politische Mitgliedschaften lässt die Beziehung von sozialer Ungleichheit und politischer Partizipation ebenfalls deutlich zu Tage treten. Die Mitgliederstruktur politischer Organisationen ist keinesfalls repräsentativ für die Sozialstruktur der Bevölkerung. Bildungsferne und einkommensschwache Gruppen sind, insbesondere in politischen Organisationen, unterrepräsentiert. Besonders problematisch ist dieser Umstand für die Mitgliedschaft in Parteien, sind diese doch noch immer die wichtigste politische Organisationsform, wenn es um die zielgerichtete Transformation von unterschiedlichen Interessenlagen in politische Programme geht. Die direkte Beteiligung an diesem Prozess steht dabei in vollem Maße nur denjenigen offen, die Mitglied einer Partei sind. Aufgrund der sozialen Verzerrung der Mitgliederstruktur werden Parteien ihrem Integrationsauftrag immer weniger gerecht. Dabei spiegeln die hier dargestellten Daten lediglich die Ebene der formellen Mitgliedschaft wider. Auf der Leitungsebene der Parteien sind die sozialen Unterschiede noch weitaus gravierender.

 Die Mitgliedschaft in zivilgesellschaftlichen Organisationen ist im noch höheren Maße von Einkommen und Bildung abhängig (siehe Abbildung 1). Während die Bildungsunterschiede bei der Mitgliedschaft in Wohltätigkeitsvereinen, Hobbyvereinen und Bürgerinitiativen sehr gering sind, lassen sich bei anderen Organisationstypen größere Unterschiede erkennen. Insbesondere bei der Mitgliedschaft in Menschenrechtsorganisationen und Naturschutzvereinigungen, die hier als Beispiele für zivilgesellschaftliche Vereinigungen stehen, ergeben sich große soziale Verzerrungen.

(3) Die wohl wichtigste Form der politischen Partizipation für das Funktionieren einer repräsentativen Demokratie ist die Beteiligung an Wahlen. Durch sie wird sichergestellt, dass demokratische Macht legitimiert und Repräsentanten in einem transparenten Prozess ausgewählt werden. Eine soziale Verzerrung in diesem Bereich der politischen Partizipation hat somit weiter reichende Folgen als dies bei nichtelektoralen Partizipationsformen der Fall ist. Ziel des repräsentativen Systems ist es, die Interessen der Bevölkerung im gleichen Maße zu berücksichtigen. Wenn jedoch ein bestimmter Teil der Bevölkerung, mit seiner ganz spezifisch gelagerten Interessenlage, im Gang zur Wahlurne systematisch unterrepräsentiert ist, hat dies soziale Verzerrungen zur Folge, die sich in Form von politischen Entscheidungen langfristig auf das gesamte politische System auswirken werden. Das strategische Handeln von politischen Eliten, die um die soziale Verzerrung der Wahlbeteiligung wissen, kann somit insgesamt zu einem System der Interessenvermittlung zu Lasten der sozial Schwachen führen.

Im Gegensatz zu anderen Partizipationsformen hält sich die soziale Verzerrung bei der Wahlteilnahme in Grenzen. Dennoch lässt sich in den letzten Jahren ein negativer Trend beobachten. Die soziale Schieflage bei der Wahlteilnahme im Hinblick auf Einkommensungleichheiten hat zwischen 1988 und 2010 deutlich zugenommen. Während der Unterschied zwischen der niedrigsten und der höchsten Einkommensgruppe 1988 gerade einmal 2,9 Prozent betrug, lag dieser 2010 bereits bei 32 Prozent.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Armin Schäfer (2012), der Wahldaten aus 1500 Stadtteilen in 34 deutschen Großstädten analysiert hat. Zwei Ergebnisse sind hierbei von besonderer Bedeutung: Erstens, lässt sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen sozialer Lage und Wahlbeteiligung in den untersuchten Stadtteilen nachweisen. „In Stadtvierteln mit überdurchschnittlichem Einkommensniveau, geringer Arbeitslosigkeit und geringem Migrantenanteil liegt die Wahlbeteiligung regelmäßig über dem Durchschnitt der Gesamtstadt, während sie in von Arbeitslosigkeit und Armut stärker betroffenen Vierteln darunter liegt.“ (Schäfer 2012: 247) Zweitens, wirkt sich dieser Zusammenhang systematisch auf die Wahlergebnisse der Parteien aus. „Je ärmer ein Stadtteil, desto niedriger fällt die Wahlbeteiligung aus und desto besser schneiden Parteien links der Mitte ab, während umgekehrt gilt, dass die CDU und vor allem die FDP ihre besten Ergebnisse dort erzielen, wo noch annährend das Beteiligungsniveau der Vergangenheit erreicht wird.“ (Schäfer 2012: 261) Linke Parteien schneiden also in der Regel schlechter ab, wenn die allgemeine Wahlbeteiligung sinkt.

(4) Dem Trend sinkender Mitgliedschaften und abnehmender Wahlteilnahme wird häufig mit dem Argument begegnet, dass Bürgerinnen und Bürger weniger institutionalisierte Formen der politischen Partizipation vermehrt nutzen würden und sich politische Partizipation somit lediglich in ihrer Form verändert. Vertreter einer solchen Substitutionsthese argumentieren, dass weniger institutionalisierte Formen der Partizipation der Lebenswirklichkeit vieler Menschen besser gerecht werden und sich politische Partizipation von Wahlen und Mitgliedschaften auf punktuelle und individualisierte Formen, wie z.B. Demonstrationen oder Unterschriftensammlungen, verlagert. Auch wenn diese Beobachtungen empirisch richtig sind, wird die Funktionalität weniger stark institutionalisierter Partizipationsformen im Vergleich zur Wahlbeteiligung und Parteimitgliedschaft stark überschätzt. Abgesehen davon, dass die Teilnahme an einer Demonstration keinesfalls die Funktion der Wahlteilnahme ersetzen kann, bleibt die soziale Schieflage weniger stark institutionalisierter Formen politischer Partizipation häufig unberücksichtigt.

Im Vergleich zu Wahlen sind die meisten anderen Partizipationsformen sogar noch stärker sozial verzerrt. Abbildung 2 zeigt die Teilnahme an verschiedenen politischen Partizipationsformen und ihren Zusammenhang mit unterschiedlichen Schulabschlüssen. Alle Partizipationsformen weisen eine äußerst starke soziale Verzerrung im Hinblick auf Bildungsunterschiede auf. Selbst die  niedrigschwellige Form der Unterschriftensammlungen ist mit einem Repräsentationsindex von 50,3 Prozent weit vom Idealwert entfernt. Einige Partizipationsformen wie z.B. die Teilnahme an Onlineprotesten liegen noch weit unter diesem Wert. Gerade einmal 2,2 Prozent der Befragten mit Hauptschullabschluss oder ohne Abschluss haben schon einmal an einem Onlineprotest teilgenommen, während dieser Wert für Abiturienten bei 16,2 Prozent liegt.

Sogar bei Protesten gegen bestehende soziale Ungerechtigkeiten gehen überwiegend Angehörige der einkommensstarken und gut ausgebildeten Mittelschichten auf die Straße, wie die Proteste gegen die „Hartz-Reformen“ gezeigt haben. Das eine soziale Schieflage bei der Beteiligung auch Auswirkungen auf Politikergebnisse haben kann, zeigt zudem das Beispiel des Bürgerentscheides über die Hamburger Schulreform. Die Wahlbeteiligung lag insgesamt bei lediglich 39,3 Prozent und unterschied sich stark nach unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. In sozial schwächeren Stadtteilen war die Walbeteiligung um ein Vielfaches geringer als in den wohlhabenden Vierteln. Die eindeutigen Gewinner des Volksentscheids waren die einkommensstarken und gut gebildeten Familien der Hamburger Ober-und Mittelschicht.

Politische Gleichheit als unein­ge­löstes Versprechen der Demokratie

Die empirischen Ergebnisse der Demokratie-und Partizipationsforschung sprechen eine deutliche Sprache. Es gibt einen signifikanten Zusammenhang zwischen politischer Teilhabe und sozialem Status. Die Interessen der einkommensstarken und gut gebildeten Teile der Bevölkerung sind im politischen System deutlich besser repräsentiert. Die Unterrepräsentation sozial benachteiligter Teile der Bevölkerung wirkt sich außerdem auf die Wahlergebnisse von Parteien und somit indirekt auch auf die Inhalte von politischen Entscheidungen aus.4 Im Falle von Bürgerentscheiden kann sich die ungleiche Beteiligung auch ganz unmittelbar auf die politischen Inhalte auswirken, wie die Entscheidung zur Hamburger Schulreform bewiesen hat. Soweit zu den empirischen Fakten. Doch warum sollten uns diese Ergebnisse beunruhigen? Ist die ungleiche Berücksichtigung von Interessen wirklich ein Problem für die Demokratie? Ist politische Gleichheit als demokratisches Ideal überhaupt wünschenswert? Und welche konkreten Forderungen ergeben sich aus diesem Ideal für ein demokratisches Gemeinwesen?

Das Ideal politischer Gleichheit ergibt sich zunächst ganz unmittelbar aus dem intrinsischen Gleichheitsanspruch der Menschenwürde. Jeder Mensch ist demnach von gleichem Wert, keiner ist einem anderen übergeordnet und folglich sollte dem Wohl und den Interessen jedes Einzelnen gleiche Beachtung geschenkt werden (Dahl 2006: 14). Wer diesen Anspruch als Kernidee demokratischer Herrschaft akzeptiert, muss sich der hohen Anforderungen bewusst sein, die sich daraus für demokratisches Regieren ergeben:

 1. Jeder Bürger muss in der Lage sein, seine eigenen Interessen so autonom wie möglich zu erkennen und sich ein Urteil über mögliche Alternativen zu bilden. Ein politisches System muss dafür die Bedingungen schaffen. Hierzu zählen insbesondere Freiheitsrechte, wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, oder auch der Zugang zu Bildung, die es ermöglicht, Argumente abzuwägen und die eignen Interessen zu artikulieren.

2. Jeder Bürger muss die Möglichkeit haben, seine Interessen direkt in den politischen Entscheidungsprozess einzubringen oder seine Interessen von anderen vertreten zu lassen. Unterschiedliche Interessen müssen dabei die gleiche Chance haben, im politischen Entscheidungsprozess Gehör zu finden. Der Anspruch politischer Gleichheit geht also weit über die Anforderung der gleichen Berücksichtigung von Wählerstimmen hinaus. Er verlangt nach der Möglichkeit einer wirksamen Teilnahme und der faktischen Einbeziehung von individuellen Interessen in den politischen Entscheidungsprozess.

3. Bei der Abwägung von Vor-und Nachteilen von politischen Entscheidungen müssen die Interessen der Bevölkerung im gleichen Maße berücksichtigt werden. Vor dem Hintergrund politischer Gleichheit ist es daher auch nicht ausreichend, getroffene politische Entscheidungen mit dem Hinweis auf gleiche Beteiligungschancen der Bevölkerung zu legitimieren, wie dies in minimalistischen Demokratiekonzeptionen durchaus üblich ist. Das Ideal politischer Gleichheit unterwirft politische Entscheidungen einen doppelten Test: Einerseits müssen die Anforderungen an gleiche und effektive Teilhabemöglichkeiten erfüllt sein, andererseits müssen die Ergebnisse politischer Entscheidungen auch tatsächlich die gleiche Berücksichtigung von Interessen widerspiegeln. Ein reiner Input-Test demokratischer Legitimität ist daher genauso ungenügend, wie ein reiner Output-Test. Politische Gleichheit verlangt nach beidem und eine Entscheidung lässt sich erst dann als legitim bezeichnen, wenn beide Anforderungen vollständig erfüllt sind (Dworkin 2000: 184-211).

Vor dem Hintergrund eines so verstandenen politischen Gleichheitsideals sollten die Probleme ungleicher politischer Teilhabe für die Legitimität demokratischen Regierens geradezu ins Auge springen. Demokratien begründen ihren Legitimitätsanspruch mit der Tatsache, dass sie anders als andere Regierungsformen, Herrschaft auf der Grundlage von Volkssouveränität ausüben. Demokratie ist demnach „government of the people, by the people, for the people“, wie Abraham Lincoln es in seiner berühmten Gettys- burg-Rede zum Ausdruck gebracht hat. Wenn nun ein bestimmter Teil der Bevölkerung mit seinen ganz eigenen Interessenlagen im politischen Entscheidungsprozess systematisch unterrepräsentiert ist, wird dies zu einem Problem demokratischer Legitimität. Aus „government of the people, by the people, for the people“ wird dann „government of the few, by the few, for the few“ und das Versprechen politischer Gleichheit bleibt faktisch uneingelöst.

Soziale Ungleich­heit als Heraus­for­de­rung für die Demokra­tie-und Parti­zi­pa­ti­ons­for­schung

Aus der Perspektive politischer Gleichheit wird soziale Ungleichheit also zu einem nicht zu unterschätzenden Problem für die repräsentative Demokratie. Wie weitreichend die Probleme sind, die sich aus der ungleichen Teilhabe an der demokratischen Willensbildung ergeben, lässt sich bislang jedoch nur sehr ungenügend beantworten. Zwar ist die Abhängigkeit des politischen Engagements in der Partizipationsforschung seit vielen Jahren bekannt und wurde vielfach empirisch belegt, doch gibt es eine Reihe von Fragen zu denen die Forschung bislang relativ wenige systematische Ergebnisse produziert hat.

1. Der generelle Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und politischer Partizipation kann sich auf eine Vielzahl empirischer Belege stützen. Über die Mechanismen des Ausschlusses von sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen wissen wir jedoch relativ wenig. Erste Forschungsergebnisse liegen zwar vor (Klatt and Walter 2011), doch stützen diese sich auf eine vergleichsweise schmale empirische Basis. Weitere Forschungen zum Thema Engagement und soziale Benachteiligung sind dringend notwendig: Welche gesellschaftlichen Strukturen sind für die geringen Engagementquoten von sozial Benachteiligten verantwortlich? Was sind die psychologischen und sozialen Mechanismen, die zum Ausschluss führen? Welche Praktiken können solchen Mechanismen entgegenwirken und politisches Engagement befördern?

2. Ungleiche politische Beteiligung wirkt sich auch auf die Inhalte politischer Entscheidungen aus. So ist beispielsweise zu vermuten, dass egalitäre Politikinhalte aufgrund sozialer Verzerrungen bei der politischen Partizipation in den Hintergrund geraten (Schäfer 2010). Zahlreiche Reformen der letzten Jahrzehnte legen diesen Zusammenhang nahe. Systematische Untersuchungen über den Zusammenhang von politischer Ungleichheit und Politikinhalten in Deutschland fehlen bislang jedoch weitgehend. Neuere Forschungsergebnisse aus den USA scheinen den Verdacht einer systematischen Verzerrung von politischen Entscheidungen zu Gunsten von reichen und gebildeten Teilen der Bevölkerung jedoch zu bestätigen (Bartels 2008; Solt 2008; Gilens 2012). Mit einer langfristigen Perspektive wäre zu untersuchen, wie sich Änderungen bei der politischen Beteiligung auf Politikinhalte und politische Reformen auswirken: Gibt es einen empirischen Zusammenhang zwischen ungleicher politischer Partizipation und der Abnahme egalitärer Politikinhalte? Welche Mechanismen können einen solchen Zusammenhang erklären? Welche Faktoren wirken einem solchen Trend entgegen und welche Faktoren können diesen Trend befördern?

3. Ländervergleichende Studien zum Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und politischer Partizipation sind Mangelware. Dabei bieten sich insbesondere hier enorme Potentiale für die politikwissenschaftliche Forschung. Um die Wirkung unterschiedlicher politischer Institutionen auf das Verhältnis von sozialer Ungleichheit und politischer Teilhabe zu untersuchen, bedarf es systematischer vergleichender Forschung. Noch immer stützen sich viele Aussagen auf empirische Analysen aus den USA. Dabei ist es keinesfalls ausgemacht, ob die Ergebnisse auch in allen Fällen auf anderen politische Systeme übertragen werden können. Die USA unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von anderen demokratischen Systemen. Welchen Einfluss haben unterschiedliche politische Systeme auf das Verhältnis von sozialer Ungleichheit und politischer Teilhabe? Fördern bestimmte Sets demokratischer Institutionen politische Gleichheit? Welche Auswirkungen haben beispielsweise unterschiedliche Parteien-und Wahlsysteme?

Es ließen sich zahlreiche weitere relevante Forschungsfragen auflisten, die sich innerhalb des Spannungsfeldes von sozialer Ungleichheit und politischer Teilhabe stellen. Angesichts der Zunahme sozialer Ungleichheiten in vielen entwickelten Demokratien der Welt, sollte die Demokratie-und Partizipationsforschung vor einer Beantwortung der zugegebenermaßen komplexen Fragestellungen nicht zurückschrecken. Relevant sind die aufgeworfenen Fragenkomplexe sowohl aus der Binnenperspektive sozialwissenschaftlicher Forschungsdebatten, als auch aus der Perspektive gesellschaftspolitischer Diskussionen über mögliche Lösungsstrategien. Die Demokratie-und Partizipationsforschung ist herausgefordert ihren Beitrag diesbezüglich zu leisten.

[1] Dieser Abschnitt ist eine komprimierte Darstellung der Ergebnisse einer Studie, die bei der OttoBrenner- Stiftung erschienen ist (Bödeker 2012).
[2] Der Zusammenhang von sozioökonomischen Faktoren und politischer Teilhabe lässt sich zweifelsohne als einer der am besten belegten Ergebnisse der Partizipationsforschung bezeichnen. Siehe

u. a.: (Verba 1987; Verba, Schlozman, and Brady 1995; Verba and Fiorina 2005; Steinbrecher 2008; Böhnke 2011; Solt 2008; Schäfer 2012; Biehl 2007; Rucht and Yang 2004).
[3] Die kausale Aussagekraft der Analyse ist aufgrund der Betrachtung bivariater Zusammenhänge eingeschränkt. Der Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und politischer Partizipation bleibt aber auch in multivariaten Analysen bestehen (siehe auch: Steinbrecher 2008).
[4] In diesem Zusammenhang sollte nicht unerwähnt bleiben, dass bislang relativ wenige Forschungsergebnisse zu den Auswirkungen ungleicher politischer Partizipation vorliegen und genauere Aussagen daher sehr schwierig sind (hierzu siehe auch S. 8).

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