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Die Mitwirkung der Bürger an der europä­i­schen Integration

aus: vorgänge Nr. 199 (Heft 3/2012), S. 53-59

Die Krise der europä­i­schen Integration

Die europäische Integration, an deren Mitwirkung alle Verfassungsorgane durch das Grundgesetz aufgefordert sind, steckt in einer tiefen Krise. Und das nicht erst, seitdem die internationale Banken-und Staatsschuldenkrise seit 2007 den Euro und den Zusammenhalt der Eurozone gefährdet. Manche Politiker glauben, dass diese aktuelle Krise und die hektischen Aktivitäten zur ihrer Eindämmung und Bewältigung dazu beitragen könnten, das historische Projekt der europäischen Integration schneller voranzutreiben, als dieses ohne die Finanzkrise möglich gewesen wäre.

Ich halte diese Sicht der Dinge für kurzsichtig, für politisch normativ kritikwürdig und möchte dies im Folgenden damit kurz begründen, dass wieder einmal die Rechnung ohne die Bürgerinnen und Bürger der EU gemacht wird, ohne deren Mitwirkung und Integration es eine wahrhaft demokratische europäische Integration nicht geben kann und wird. Dazu zunächst ein kurzer Rückblick auf die Art und Weise wie der bisher erreichte Integrationsstand der EU zustande gekommen ist und wie er in Hinblick auf die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger zu beurteilen ist:

Nach den Verheerungen und Zerstörungen, die der von Deutschland angezettelte Eroberungsweltkrieg 1945 in weiten Teilen in materieller und teilweise auch in geistiger Hinsicht angerichtet hatte und vor dem Hintergrund des bald danach schon ausgebrochenen kalten Krieges mit der von der Sowjetunion ausgehenden Drohung gegen die liberalen Nachkriegsdemokratien, war die europäische Bewegung zunächst und von Anfang an eine Friedensbewegung. Und sie war in dieser Zeit auch eine Bürgerbewegung. Mit dem symbolischen Niederreißen der Grenzsteine und Schlagbäume, der geistigen Infragestellung des Nationalismus, dem Enthusiasmus für internationales und supranationales Recht, glaubten Vereinigungen, z. B. die europäische föderalistische Bewegung, die wesentlichen Kriegsursachen zu beseitigen, die in der europäischen Geschichte immer wieder den Kontinent oder Teile von ihm in ihrem Frieden bedroht haben. Dazu gehörte etwa die seit dem 19 Jhd. andauernde Rivalität von Deutschland und Frankreich.

Blickt man heute nach 60 Jahren auf diese Hoffnungen zurück, so könnte man meinen, dass diese, abgesehen von den kriegerischen sowjetischen Interventionen in Budapest und Prag, sowie den auf den Zerfall Jugoslawiens folgenden Kriegen im Großen und Ganzen nicht getrogen haben. Niemals in den Jahrhunderten zuvor gab es in Kerneuropa eine Phase von mehr als sechzig Jahren ohne größeren Krieg. Das sollte man in Erinnerung behalten.

Die europäische Integration aus Sicht der Bürger

Das ist zweifellos auch ein Verdienst der europäischen Integration und der Art und Weise, wie sie bis heute vorangetrieben wurde. Allerdings hatte diese erfreuliche Entwicklung das paradoxe Ergebnis, dass die EU heute in der Wahrnehmung und Beurteilung von den meisten EU-Bürgerinnen und Bürger gar nicht mehr als Projekt wahrgenommen und für notwendig erachtet und erst recht nicht durch Engagement und Partizipation unterstützt wird.

Wenn sich überhaupt konkrete Forderungen, die sich explizit an die Adresse der supranationalen Organe der EU richten, feststellen lassen, so steht an erster Stelle die heute bereits von vielen als selbstverständlich wahrgenommene Bewegung-und Aufenthaltsfreiheit sowie der innerhalb der EURO-Zone durch den EURO erleichterte Zahlungsverkehr und ähnliches.

Nur Minderheiten nehmen positiv wahr, dass in bestimmten Rechtsbereichen sich die Rechtsprechung und Rechtsetzung etwa durch Gleichstellungs-und Antidiskriminierungsvorschriften von Europa aus vorteilhaft entwickelt haben. Aber hier beginnen bereits die Ambivalenzen, weil etwa im Bereich der informationellen Selbstbestimmung und des Datenschutzes die Europäisierung von Rechtsvorschriften im Einzelnen auch eine so genannte Nivellierung nach unten bedeuten kann. So will die EU eine Rechtsverordnung verabschieden, die die strengen deutschen Maßstäbe für die chemische Zusammensetzung von Kinderspielzeug nach unten nivelliert. Für mein Argument ist allerdings wichtig, was die Bürger und Bürgerinnen in aller Regel nicht mit dem erreichten Stand der europäischen Integration in Verbindung bringen: Nämlich das Maß ihrer individuellen Wohlfahrt, insbesondere jenes Anteils, der sich auf die staatlicher Wohlfahrtspolitik begründet.

Europäischen Meinungsumfragen zeigten an, dass alltägliche politische Beobachtungen der EU-Bürger sich ganz wesentlich auf Fragen des materiellen Wohls beziehen und die EU-Bürger in den sie ganz unmittelbar betreffenden Bereichen, die in der Steuer-, Sozial-, Arbeit-und -Gesundheitspolitik konzentriert sind, leiden. So bleiben die EU-Bürger – könnte man in Abwandlung eines politologischen Terminus technicus sagen – methodische Nationalisten. Nicht die europäischen Arbeitslosen-und Inflationsraten lösen Ängste und Erwartungen aus, sondern nationale Raten. Nicht die Kommission sondern die nationale Regierung wird für das perzipierte Auf und Ab des eigenen Wohlergehens in Haftung genommen. Nicht supra-oder transnationale Massenmedien, sondern die auf den nationalen Fernsehen, Hörfunk-oder Zeitungsmärkten dominanten Leitmedien bestimmen die jeweilige öffentliche Meinungsbildung.

Europäische Integration zuerst durch Inter­go­ver­n­men­ta­lismus

Fragt man sich, wie diese beiden nur grob skizzierten langfristigen Entwicklungstrends mit der Methode der Politik zusammenhängen, durch die die europäische Integration seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts vorangetrieben wurde, so kann man wohl einen der wenigen Hintergrundkonsense der ansonsten so vielfältigen und vielstimmigen Europaforschung wie folgt formulieren:

Lange Zeit dominierend war der unter Politologen so genannte Intergovernmentalismus, also das Zusammenwirken der Regierungen, die diesen Prozess vorangetrieben haben. Manchen Mitgliedsstaaten mehr als anderen galt die Europapolitik sogar lange Zeit als Außenpolitik. Losgelöst von parlamentarischer Beteiligung oder Kontrolle zu handeln, galt damit als Prärogrative der Regierungen. Das ist das, was die Politologen Intergovernmentalismus nennen, also das Zusammenhandeln der Regierungen. In dem Maße, wie es den europäischen Institutionen, also etwa der Kommission oder dem europäischen Gerichtshof allmählich gelang auch als Gegenüber der intergovernmentalen Institutionen politische Initiativen und Zustimmungsmacht zu entfalten, kam es zu dem heute bestehenden Zustand des Zusammen-und Wechselspiels von – wie Politologen sagen – Supranationalismus – also das, was Kommission und Europäische Gerichtshof (EuGH) machen – und Intergovernmentalismus.

Bürger­be­tei­li­gung, Integration und Parti­zi­pa­tion

Die ständig gewachsene Rolle des europäischen Parlaments will ich nicht geringschätzen, sie bedeutet aber für diese Konstellation keine entscheidende Korrektur. Dies zeigt die magere Wahlbeteiligung bei seiner Wahl an. Aber auch die empirisch nachgewiesene überwiegend national bestimmte Motivierung der Stimmabgabe verrät, dass es sich hier immer noch im Bewusstsein der meisten Wählenden um das, was vor vielen Jahren der Kollege Reif ’nationale Nebenwahlen‘ genannt hatte, handelt, die kaum als Ausdruck einer europäischen Gesinnung oder als Mitwirkung der Bürger und Bürgerinnen an der Gestaltung der EU interpretiert werden können.

In dieser Konstellation mag umstritten sein, ob die jeweilige Hegemonie bei der Methode der Integration eher auf der Seite des Zusammenhandelns der Regierung oder eher auf der Seite der supranationalen europäischen Institutionen liegt. Das ist eine Diskussion unter Fachleuten. Auch normativ ist die Frage, bei wem denn die Vorhand eigentlich liegen sollte, umstritten.

Aber eines dürfte in der EU-Forschung nicht unumstritten sein: Niemand in der Wissenschaft und in der Politik behauptet, dass die bisherige Entwicklung zum jetzigen Integrationsstand durch die partizipatorischen Anstrengungen der europäischen Bürger und Bürgerinnen vorangetrieben und dass der Stand der heutigen Integration von einer europaweiten transnationalen Integrationsbewegung der Bürger und Bürgerinnen getragen worden sei.

Nach dem allmählichen Erlahmen der von Bürgerengagement getragenen, ursprünglich friedensorientierten und damit gewissermaßen idealistischen europäischen Integrationsbewegung ist das Projekt spätestens seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts als ein allein von den Regierenden und einer nach Bedeutung und Zahlen gewachsenen, aber für die meisten Bürger und Bürgerinnen anonym bleibenden Schicht von Eurokraten und allenfalls einer kleinen intellektuellen Elite getragener Prozess, der über keine relevante Basis im Bürgerengagement verfügt. So heißt es zutreffend in dem jüngst veröffentlichen Manifest „Wir sind Europa“, Europa drohe zu scheitern an der unausgesprochenen – ich hab sie jetzt ausgesprochen – Maxime der Europapolitik: Das Glück der europäischen Bürgers im Notfall auch gegen seinen Willen zu schmieden. Das Beste, was über die Rolle und den Beitrag der europäischen Bürgerschaften noch lange Zeit behauptet werden konnte, wird in der Forschung mit dem bescheidenen Begriff eines permissiven Konsensus ausgedrückt. Soll heißen: Bevölkerungsweit hat man in den EU-Mitgliedstaaten die positiven Effekte der Europäisierung einiger Politikbereiche und natürlich in den dafür in Frage kommenden Staaten auch die materiellen Transfers hingenommen und schnell auch für selbstverständlich und unrevidierbar gehalten. Auch dieser permissive Konsensus entwickelte sich nicht ohne integrationspolitische Stolpersteine, z. B. wenn, was in der deutschen Verfassung allerdings so nicht vorgesehen war, nationale Bürgerschaften zu der europäischen Integration befragt wurden. Wo die nationalen Gegebenheiten direkte demokratische Zustimmung zu neuen Integrationsschritten möglich und erforderlich machten, so wie das jetzt auch in Deutschland gefordert wird, zeigten sich schon früh politisch signifikante antieuropäische und gegen weitere Integration gerichtete Stimmenblöcke im Parteienspektrum vieler Mitgliedstaaten. Explizit antieuropäische Parteien haben mittlerweile eine dauerhafte Präsenz in vielen Parlamenten.

Parti­zi­pa­tion und Konsul­ta­ti­ons­wesen

Mancher wird an dieser Stelle einwenden: Gibt es nicht inzwischen rund um die EU-Institutionen in Brüssel eine riesige Corona von Nicht-Regierungs-Organisationen und Lobbyisten, die versuchen auf die Entscheidungen der europäischen Institutionen Einfluss zu nehmen. Und ist das nicht, wie man in der Literatur immer wieder lesen kann, der Einfluss einer europäisch entstehenden Zivilgesellschaft. Ein Beitrag zu dem, was nicht nur manche enthusiastische Kollegen, Forscher und Theoretiker sondern beispielsweise auch die Kommission in offiziellen Papieren gelegentlich als European Participatory Governance bezeichnet.

Meine Antwort ist: Hier gilt es genau zu unterscheiden, ob es um die Mitwirkungs und Einflussmöglichkeiten der Bürger und Bürgerinnen und ihre tatsächliche Partizipation geht. Oder ob es sich in der Tat vor allem auch um ein von der Kommission und ihren Direktoraten geförderte tief gestaffelte Konsultationswesen im Vorfeld von Kommissionsinitiativen und dem Erlass von Rechtsakten sowie um die lobbyistische und verbandsförmige Einflussnahme auf die Willensbildung des europäischen Parlament sich handelt. Tatsächlich hat sich, von der Kommission als Methode der Governance vorangetrieben – wobei sie auch manchmal als Hebamme der europäischen Zivilgesellschaftserscheinungen bezeichnet wird – ein relativ responsives, also ein die Initiativen von Außen aufnehmendes System des beratenden Zusammenspiels von NichtRegierungs-Organisationen, Verbänden, Lobbyisten und gelegentlich Einzelinitiativen ergeben. Dies hilft vor allem der Kommission, ihre Informationsdefizite und institutionelle Abkopplung kommunikativ auszugleichen und insofern ihre Entscheidungsfunktion effektiver und mit größeren Chancen auf Akzeptanz wahrzunehmen. Daran ist nichts auszusetzen.

Reprä­sen­ta­tion und Reprä­sen­tanten

Aber der Bürgerferne und der Anonymität der Kommission und ihrer Beamte entsprechen mindestens in gleichen Maßen die Bürgerferne und Anonymität der kollektiven und individuellen Akteure, die als Repräsentanten für die angeblich existierende europäische Zivilgesellschaft, mehr noch für ihrer Bürger und Bürgerinnen, theoretisch und normativ, in Anspruch genommen werden. Viele der organisierten Ansprechpartner in den Konsultationen sind ihrerseits nur europäische Dachverbände nationaler Vereinigungen, viele direkt von Wirtschaft-und Branchenverbänden bezahlte Lobbyisten-Büros und auch die prominenten zivilgesellschaftlichen Nicht-Regierungs-Organisationen lassen sich durch ständige Repräsentation professionell vor Ort vertreten.

Auch hier werden die funktionalen Imperative von Repräsentation, Professionalisierung, Bürokratisierung, Hierarchisierung, Intransparenz und die Gefahr der Verselbstständigung der Repräsentanten von den Repräsentierten sichtbar. Im Kontext einer pluralismustheoretischen und – wie das häufig heißt – realistischen Demokratievorstellung wird man diese konsultative Praxis der Kommission und sogar die Professionalisierung der Repräsentanten zivilgesellschaftlicher Interesse keineswegs negativ bewerten müssen. Aber aus der Perspektive der bürgerzentrierten, mehr noch aus der direkt-demokratischen Demokratievorstellung, muss den normalen Bürgerinnen und Bürgern das ganze komplexe konsultative Governance-System der EU als ein intransparenter Moloch der Fremdbestimmung – als Teil von Brüssel – erscheinen.

Neue direk­t-­de­mo­kra­ti­sche Elemente?

Um die Frage letztlich aufzuwerfen, ob die mit dem Vertrag von Lissabon nunmehr eingeführten direkt-demokratischen Elemente daran etwas ändern können? Der Vertrag spricht ja in Artikel 11 von nicht weniger als von partizipativer Demokratie, wenn er das neue Instrument der europäischen Bürgerinitiative, EBI abgekürzt, einführt und die bereit praktizierte und eben beschriebene Konsultationspraxis der Zivilgesellschaft nunmehr in den Status von Verfassungsrecht erhebt, was vorher nicht der Fall war. Hinter dem Begriff und der vertraglich nunmehr garantierten Mitwirkungsmöglichkeit der Bürgerinnen und Bürgern verbirgt sich aber nichts anderes, als ein nunmehr von Basis her zu initiierendes Konsultativverfahren. Aus der anspruchsvollen normativen Perspektive der direkten Demokratie wird man die Bezeichnung „Einführung partizipativer Elemente“ als Etikettenschwindel bezeichnen müssen. Für einen Gesetzesvorschlag von mindestens sieben Bürgerinnen und Bürgern aus mindestens sieben Staaten bedarf nach Zulässigkeitsprüfung der Kommission innerhalb eines Jahres mindestens eine Millionen Unterschriften aus mindestens sieben Mitgliedsstaaten, gewichtet nach Quoten (degressiver Progression). Im Erfolgsfall erfolgt daraufhin eine Anhörung der Initiatoren im EU-Parlament und auch direkt mit der Kommission. Danach darf die Kommission entscheiden, ob sie den Vorschlag übernimmt und ein Gesetzgebungsverfahren einleitet oder nicht. Immerhin wird sie durch den Vertrag zu Abgabe einer öffentlichen Begründung Ihrer Entscheidung verpflichtet. Deshalb nenne ich das ein Konsultativverfahren und nicht direkte Demokratie.

Die Frage ist nun, wie diese Innovation des Vertragsrechtes einerseits institutionell als auch politisch zu werten ist? Wenn wir über die Direkte Demokratie reden, so ist zunächst zu sehen, dass die EU trotz der durch den Lissabonner Vertrag weiter angewachsenen Beteiligungsmacht des EU-Parlaments bisher noch nicht mal eine parlamentarische repräsentative Demokratie ist, sie hat – an diesem normativen Begriff gemessen – das hinlänglich bekannte Demokratiedefizit. Das EU-Parlament hat kein klassisches Budgetrecht, ist nicht alleiniger Gesetzgeber, nicht Kreationsorgan der Kommission, außerdem verletzt es in seinem Zustandekommen und Wahlrecht fundamentale Demokratiewerte der gleichen Freiheit und desgleichen mehr.

Institutionell bringt – wie ich zu zeigen versucht habe – der Lissaboner Vertrag unter dem Begriff „partizipative Demokratie“ in Ergänzung des bestehenden Wahlrechts zum EU-Parlament sowie des schon länger existierende Petitionsrecht nur ein weiteres konsultatives Verfahren. Als historisch denkender Politologe möchte ich sagen, konsultative Verfahren sind für sich genommen kein Funktionsmerkmal von Demokratie, sie mögen nützlich und als Regierungsmethode positiv zu bewerten sein, aber sie begründen für sich genommen keinen Fortschritt der Demokratie.

Mobili­sie­rungs­wir­kung durch weitere Demokra­ti­sie­rung?

Bleibt die politische Beurteilung und sie fällt, da sie von der Zukunft handelt, natürlich etwas spekulativ aus. Was die Vergangenheit angelangt, so klingt die passive Rolle der Bürgerinnen und Bürgern der Europäischen Union bereit mit dem Begriff des permissive Konsensus an. Für eine repräsentative demokratische Eliteherrschaft, die es nach den Maßstäben der nationalen Demokratien in der EU erst noch zu erreichen gilt, mag diese Mischung von skeptischer Duldung repräsentativer Herrschaftspraxis als Legitimationsgrundlage normativ hinreichen. Stets sind es aktive Minderheiten, die sich unter solchen Zuständen zumeist und – das ist bedenkenswert – im Protest „gegen etwas“ und seltener in der strategischen und ausdauernden Mobilisierung „für etwas“ von der Masse ihrer Mitbürger abheben. Die politische Frage, die zentrale Frage wird also sein, ob die jüngst in Kraft getretene europäische Bürgerinitiative hier eine zusätzliche neue Mobilisierungswirkung für eine weitere Demokratisierung der EU bietet?

Angesichts der Tatsache, dass unter den heutigen Kommunikations-bedingungen die Möglichkeiten der elektronischen Stimmensammlung und der bereit bestehenden die Landesgrenzen überschreitenden kommunikativen Vernetzungen von Interessenverbänden, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen rechne ich – anders als manche – damit, dass in kurzer Frist eine ganze Reihe von Initiativen auf den Weg gebracht werden können. Auch das Erreichen des Quorums von einer Millionen Unterschriften halte ich auf diesem Wege für gar nicht mehr so schwierig zu erreichen. (In der Gesetzesvorlage der Regierung im Bundestag musste ja eine Kostenabschätzung gemacht werden. Da rechnete die Bundesregierung mit zehn Initiativen pro Jahr.)

Aber die entscheidende politische Frage ist: Wer wird von diesen Instrument mit welchen Zielen Gebrauch machen? Welche Rolle werden die Bürgerinnen und Bürger dabei spielen, die sich für mehr Demokratie einsetzen? Die, die bisher überwiegend passiv die europäische Politik verfolgt haben. Wenn sie nicht sogar zu jener Minderheit gehören, die sich bereits jetzt schon mit den national vorhandenen Möglichkeiten als Anti-Europäer artikuliert haben. Es gehört ja leider zur wohl bekannten Logik kollektiven Handelns, dass sich der partikulare Protest „gegen etwas“ leichter als die diffuse Unterstützung auf Dauer mobilisieren lässt. Direkte Demokratie begünstigt – so paradox das zunächst klingt – in der Mobilisierungschance zunächst Minderheiten. Und die müssen nicht immer nur europa-und demokratiefreundlich sein. Damit ist auch bei der zukünftigen Praxis der europäischen Bürgerinitiative zu rechnen.

Engagement für Bürger­rechte

Es steht im Moment und in naher Zukunft schlecht für die politische Perspektive einer partizipativen bürgerfreundlichen Demokratieentwicklung der EU. Abstrakt lässt sich der Hauptmangel dieses Zustandes leicht benennen. Es fehlt an der Existenz einer ausdrücklich für die demokratische Vertiefung der EU mobilisierenden und kämpfenden transnationalen Massenbewegung der Bürgerinnen und Bürgern. Es fehlt an einer begeisterungsfähigen Europaidee, die auch die jungen Menschen wie Ende der 40er/Anfang der 50er Jahre ergreift.

Ohne eine solche Bewegung – und das ist die bittere Erkenntnis – wird es bei der tendenziell technokratischen Elitenherrschaft in Form konsultativer Governance bleiben. Die Möglichkeit, dass es den Eliten auf diese Weise allerdings gelingt, den im Zuge der derzeitigen EURO-Staatskrisen-Bekämpfung überall aufkeimenden antieuropäischen Neonationalismus zu bändigen, kann nur mit Skepsis betrachtet werden. Das Ausmaß der bisherigen europäischen Integration – mit EURO und „Schengenland“ im Zentrum – ist keine unrevidierbare Selbstverständlichkeit mehr. Wer sich mindestens für den mit diesem Integrationsgrad erreichten Zustand einsetzten will, der wird sich in einer gesamteuropäischen Demokratiebewegung engagieren müssen.

Auch hier wird sich die alte Erfahrung bestätigen: Bürgerrechte, vor allem die auf wahre politische Beteiligung gerichteten, müssen gewollt und erkämpft werden. Man bekommt sie von den Regierungen in der Regel nicht geschenkt.

Der Text ist die überarbeitete Fassung eines Vortrages auf dem Gustav-Heinemann-Forum in Rastatt am 11./12. Mai 2012.

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