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Kein Ende der Demokratie

Eine Einordnung und Kritik der Erosionsthese Michael Th. Grevens

aus: vorgänge Nr. 199 (Heft 3/2012), S. 101-114

Vom Ende der Geschichte zum Ende der Demokratie?

Diagnosen, die ungeachtet der stetig gestiegenen Anzahl demokratischer Regierungssysteme ein „Ende der Demokratie“ verkünden, erfreuen sich derzeit großer Beliebtheit. Der Gedanke selbst ist natürlich nicht neu. Krisenszenarien haben seit jeher Konjunktur (vgl. z.B. Crozier/Huntington/Watanuki 1975). Kurz nach dem Epochenbruch von 1989/90, der einige zu einem naiven „End-of-History-Denken“ animierte (Fukuyama 1992), kursierten beispielsweise Warnungen vor einer „Siegkrise“ der nunmehr „feindlosen“ und deshalb auf ihre endogenen Begründungsmöglichkeiten zurückgeworfenen Demokratie (Beck 1995). Zeitgleich stellten Globalisierungsprozesse eine Herausforderung für republikanische Vorstellungen dar. So schrieb Jean-Marie Guéhenno (1994: 39): „Das Ende der Nation bringt den Tod der Politik mit sich. Die politische Auseinandersetzung, gleich welcher Tradition man sich zurechnet, setzt nämlich die Existenz eines politischen Gemeinwesens voraus.“ Sein Buch trug denn auch den Titel „Das Ende der Demokratie“. Solche Zuspitzungen blieben jedoch die Ausnahme. Dominant waren Sichtweisen, die Reform-und Anpassungsoptionen offerierten, wobei in der neuen Konstellation sogar verbesserte Möglichkeiten für die angestrebte globale Durchsetzung des Demokratieprinzips gesehen wurden (vgl. z. B. Habermas 1998; Held 1995). Kurzum: Die liberale Demokratie des Westens behielt weiterhin ihre fortschrittsoptimistischen Konnotationen. Die Zurückweisung oder Relativierung der These Fukuyamas ging nicht mit einem Abgesang auf die Demokratie einher, sondern mit dem Versuch, deren neue Herauforderungen zu kennzeichnen, anzunehmen und positiv zu bewältigen. Im neuen Jahrtausend kündigt sich aber ein intellektueller Bruch mit dem liebgewordenen, mitunter vielleicht allzu süßlich vorgetragenen Hohelied der Demokratie an.

Begünstigt wurde dieser neue, zwischen Pessimismus, Fatalismus und aufklärerischem Realismus alternierende Diskurs unter anderem durch drei Entwicklungen:

Delegitimierend wirkte erstens die Tatsache, dass die Werte der Demokratie nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 am emphatischsten von einem Regime verteidigt wurden, das unter Zuhilfenahme von Falschdarstellungen ein geschlossenes Feindbild konstruierte, dessen Träger militärisch sowie mit nicht-rechtsstaatlichen und teilweise verbrecherischen Methoden zu besiegen seien. Als Zielpunkt der Interventionen im Irak und in Afghanistan fungierte die Errichtung demokratischer Herrschafts- formen. Der reale Verlauf des Versuchs der partiellen Institutionalisierung eines demokratischen Friedens ist jedoch bislang noch wenig geeignet, die Idee selbst zu befördern. Die im Namen der Demokratie geführte Reaktion auf das insbesondere von neokonservativer Seite nach dem 11. September 2001 in verschiedenen Versionen proklamierte Credo vom „End of the End of History“ (Zakaria 2001; Kagan 2008) erwies sich mittelfristig erst einmal als Bärendienst.

Zweitens trägt auch die Verfasstheit in westlichen Demokratien zur Delegitimierung der demokratischen Idee bei. Diesbezüglich ist ein gesteigertes Gefühl der Fremdbestimmung durch die spezifisch europäische Ausformung trans-, inter-und supranationaler Institutionen ebenso zu verzeichnen wie eine Beförderung von Marktmacht und sozialer Spaltung durch Regierungen, die nicht selten unter den Etiketten links und fortschrittlich angetreten waren. Die häufig als Bruch mit ihrer klassischen Klientel wahrgenommenen Politiken von New Labour oder SPD konnten in Anbetracht der ausgeprägten historischen und gedanklichen Verbindung des Demokratieprinzips mit einer verbesserten Repräsentation der Anliegen sozial Benachteiligter nicht folgenlos bleiben.

Drittens schließlich ist ein Aufstieg neuer, gerne als rechtspopulistisch bezeichneter Akteure zu verzeichnen. Namen wie Berlusconi, Blocher, Fortuyn, Wilders oder Haider rufen in Erinnerung, dass demokratische Verfahren den Erfolg einer von vielen als demokratiefeindlich wahrgenommenen programmatischen Intoleranz zur Folge haben können. Es wirkt offensichtlich verstörend, wenn der partiell zu verzeichnende Wandel von der Parteiendemokratie zur fluktuierenden „Publikumsdemokratie“ (Manin 2007) mit derartigen neuen Politisierungen einhergeht.

Begierig nehmen Wissenschaft und Feuilleton hierzulande den von Colin Crouch (2008) gesetzten Begriff der „Postdemokratie“ auf. In Frankreich titelt Guy Hermet (2007) – ob der vermeintlichen Dominanz eines antiegalitären Populismus – „L’hiver de la démocratie“ und aus den Vereinigten Staaten teilt uns Newsweek Chefredakteur Fareed Zakaria (2007) mit, dass Demokratie, Freiheit und Prosperität nicht als Einheit, sondern oftmals sogar als Gegensätze aufzufassen sind. Es ist bezeichnend, wenn nun mit Michael Th. Greven (2009a; 2009b; 2009c) ein herausragender Vertreter der Politischen Theorie in Deutschland in den Abgesangsdiskurs auf die Demokratie mit einstimmt. Im Rahmen eines zwar knappen aber inhaltlich dichten und bewusst provokanten Beitrags in Ausgabe 3/2009 dieser Zeitschrift konstatiert er einen „Wandel der Demokratie zu etwas Neuem, bisher nur unzureichend auf den Begriff zu Bringendem“ (Greven 2009a: 68). Er fordert den „gedankliche[n] Abschied von der vertrauten Idee der Demokratie, statt ihrer permanenten Anpassung an die Realität, die sich ihrer nicht mehr fügen will“ (Greven 2009a: 73). Dem gilt es im Folgenden – im Interesse der m.E. alternativlosen Aufrechterhaltung des Anspruchs demokratischer Emanzipation – entgegenzutreten. Ich werde zunächst zwei andere Stränge des Abgesangsdiskurses diskutieren (2), danach Grevens Argumentation darstellen (3) und abschließend einer Kritik unterziehen, die sowohl theoretisch als auch empirisch ansetzt (4). Es wird zu zeigen sein, dass eine Krisendiagnose, die auf der Basis unangemessener Maßstäbe und einseitiger Deutungen empirischer Sachverhalte das Ende der Demokratie postuliert, wederder gegenwärtigen Situation noch der Demokratie selbst gerecht wird und die Bürgerschaft unnötigerweise hilflos zurücklässt. Grevens Analyse ist ebenso voreilig wie die Setzung des Ziels, mittels einer kathartischen Verabschiedung des vermeintlich überkommenen Demokratieideals den Boden für etwas Neues zu bereiten, das geeignet wäre, die Leerstelle normativ und empirisch zu besetzen.

Freiheits­-und gleich­heits­zen­trierte Stränge des Abgesangs­dis­kurses

Die neue Debatte über ein heraufziehendes Ende der Demokratie wird von zwei Argumentationsweisen geprägt, die sich an den beiden zentralen Grundwerten der Regierungsform ausrichten. Diagnostiziert wird wahlweise eine Entgegensetzung von Demokratie und Freiheit oder von Demokratie und Gleichheit.

Für den ersten Strang stehen insbesondere die Ansichten Fareed Zakarias. Dessen Kernthese lautet: „Die Demokratie blüht, die Freiheit nicht“ (Zakaria 2007: 15), was auf das grundsätzliche „Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Freiheit“ (Zakaria 2007: 19) zurückzuführen sei. Die „beiden Tendenzen – Demokratisierung und Repression – hängen zusammen“, so Zakaria (2007: 101). Daraus leitet er eine provozierende, in der Tradition von Unregierbarkeitsthesen (Kielmansegg 1977) und konservativen Elitentheorien stehende Forderung ab: „Wir brauchen nicht mehr, sondern weniger Demokratie“ (Zakaria 2007: 239).

Der heraufziehende Konflikt zwischen Demokratie und Freiheit war zwar schon das Thema Tocquevilles (1835/1840). Bei Zakaria erhält die Diagnose jedoch eine andere Perspektive, die mit dem Republikanismus des Franzosen wenig gemein hat. Zakaria beruft sich zwar häufig auf Tocqueville, teilt aber nur partiell dessen Freiheitsverständnis, nämlich dann, wenn er vor möglichen Bevormundungen des Einzelnen durch eine „Tyrannei der Mehrheit“ (Zakaria 2007: 100ff.) und Mittelmäßigkeit warnt. Inkonsequent, oder zumindest erläuterungsbedürftig, ist dann zunächst einmal, dass Zakaria zum Abschluss seines Buches auch auf die Realität einer vermeintlichen „Tyrannei der Minderheit“ verweist: „Irgendwann wird man unter Demokratie genau das verstehen, was sie längst ist: ein bloß theoretisch zugängliches und durchlässiges System, in dem de facto organisierte, reiche oder einfach nur fanatische Minderheiten das Sagen haben, die sich auf Kosten kommender Generationen im Hier und Jetzt besserstellen“ (Zakaria 2007: 245).

Der eigentliche Widerspruch zur Analyse Tocquevilles besteht jedoch im grundsätzlichen Bedeutungsinhalt von „Freiheit“. Zakaria vertritt kein „positives“ (Berlin 1969), den politischen Zusammenschluss als Eigenwert anerkennendes Verständnis, sondern einen auf unpolitische Individualrechte und ökonomisches Wachstum reduzierten Freiheitsbegriff. Zugunsten „guter“ Ergebnisse seien Politiker abzuschotten von der störenden Einflussnahme gesellschaftlicher Gruppen, deren Sonderinteressen gerade durch die Demokratisierung der Demokratie an Einfluss gewännen und die gesamtökonomische Effizienz administrativen Handelns gefährdeten. Verpackt in eine wohlklingende Ode an die Freiheit wird eine neoliberale Version des platonischen Steuermannsgleichnisses (Platon 1961: Rn. 488-489) postuliert. Es gelte, „die Folgen der Globalisierung zu beherrschen. … Dies ist nur zu schaffen, indem man die politisch Verantwortlichen von den betroffenen Interessenverbänden und deren Kampagnen, mithin von dem enormen Druck der Demokratie, abschirmt“ (Zakaria 2007: 233). Es versteht sich von selbst, dass hier vor allem von Einschnitten im Bereich der Sozialleistungen die Rede ist. Die Orientierung an Legislaturperioden und gesellschaftlichen Ansprüchen wird als störend dargestellt. Das „Fehlen freier und gleicher Wahlen“ sei „zwar ein Manko, aber längst nicht gleichbedeutend mit Tyrannei“ (Zakaria 2007: 152).

Für westliche Demokratien schlägt Zakaria Reformen nach einem Muster vor, an dessen Demokratiekompatibilität, trotz gegenteiliger Bekundungen des Autors, erhebliche Zweifel anzumelden sind. Er nennt zwei Vorbilder für ein vermeintlich effektives, ökonomische Prosperität zum einzig relevanten Zielpunkt erhebendes Regieren in einer „Delegierte[n] Demokratie“ (Zakaria 2007: 232), die – nicht umsonst nur in Grundzügen skizziert – eher einer autokratischen Herrschaftsform bei Beibehaltung begrenzter demokratischer Placebos gleichkommt. Als erstes Vorbild fungiert das bürokratische Handeln von Ministerien: „Im Prinzip liefe eine solche Systemtransformation darauf hinaus, die Arbeitsweise einer Behörde wie des US-Gesundheitsministeriums zum Standardverfahren zu erheben. Das Ministerium handelt nach Leitlinien, die ihm der Kongress vorgibt. Der begnügt sich mit der Kontrolle der weitgehend autonomen Tätigkeit der Ministerialbeamten“ (Zakaria 2007: 244). Wohlgemerkt spricht Zakaria (2007: 244) jedoch von einer Zweidrittelmehrheit, die das Parlament zur Aushebelung der auf Fachkompetenz ausgerichteten „Schutzvorkehrungen“ aufbringen müsse. Auch solle Vorsorge getroffen werden, damit störende Regierungswechsel zu keinem Bruch mit laufenden Reformprojekten führen (Zakaria 2007: 243). Konsequent ist es da nur, wenn als zweites Vorbild für die Reform der allzu demokratisierten Demokratie die EU genannt wird, die „der relativen politischen Isolation ihrer Institutionen ihre größten Erfolge schuldet“ (Zakaria 2007: 234).

Die hier postulierte, hochgradig technokratische Bürokratie-, Rationalitäts-und Elitengläubigkeit hat gleichwohl wenig mit jenem demokratischen Elitismus zu tun, dessen elaborierteste Fassung von Giovanni Sartori (1997) stammt, da Zakaria die zentralen Kriterien der Verantwortlichkeit, der potentiellen Rückkopplung an den Wähler und der Bereitstellung von Optionen ignoriert. Außerdem kann die Position auch nicht als Ausdruck eines wohlverstandenen „negativen“ Freiheitsbegriffs im Sinne eines reinen „Möglichkeitskonzept[s]“ (Taylor 1988: 144) verstanden werden, da gerade eine angemessene liberale Verständnisweise nicht nur die individuelle ökonomische Betätigungsmöglichkeit und Bedürfnisbefriedigung, sondern als bereitzustellende Option auch die politische Einflussnahme beinhalten muss. Demokratie und Freiheit gehen, sofern man Letztere nicht auf den Bereich des Ökonomischen reduziert, Hand in Hand. Deshalb offeriert auch Hobbes (1651) eher eine Theorie der Unfreiheit, obwohl Taylor (1988: 118-144) ihn zum Vertreter eines „negativen“ (von Taylor abgelehnten) Freiheitsbegriffs erklärt. Ähnlich verhält es sich mit Zakaria.

Die von Zakaria skizzierten Reformoptionen bilden in Crouchs „Postdemokratie“, die hier als Beispiel für den gleichheitszentrierten Abgesangsdiskurs fungiert, Elemente der Krisendiagnose. Dennoch sind sich die Analysen ähnlicher als es auf den ersten Blick scheint. Schließlich geht es Crouch ebenso wie Zakaria im Wesentlichen um Eines: Die Durchsetzung eines spezifischen politischen Programms. Die Krisendiagnose Zakarias setzt bei der vermeintlichen Unfähigkeit zur effektiven Durchsetzung wirtschaftsliberaler, die Gesamtökonomie globalisierungsfest machender Politiken an. Das entspricht einer hierzulande wohlbekannten (Talkshow-)Argumentation, die insbesondere die Regierungszeit Schröders prägte, und wird dann bei der Ursachenanalyse des Autors um ein ausgeprägtes Aufzeigen der vermeintlichen Mängel der Demokratie selbst angereichert. Im Gegensatz dazu beklagt Crouch gerade die Dominanz neoliberaler Politiken und die Einschränkung der einstmals qua Demokratisierung erkämpften öffentlichen Leistungen. Letztlich laufen also beide Sichtweisen darauf hinaus, die wohlgeordnete Demokratie mit der Umsetzung von politischen Programmen gleichzusetzen, was ihren Analysen einen gleichermaßen antipluralistischen, der Demokratie also unangemessenen Grundzug verleiht. Wenn Crouch (2008: 43) von der neuen „Macht der Lobbys“ spricht, hat er die Zurückdrängung sozialer Interessengruppen durch wirtschaftsnahe Eliten im Sinn. Er konstatiert die Erosion der egalitären Demokratie. Zakaria (2007: 245) warnt hingegen vor dem Untergang des „liberaldemokratischen Kapitalismus“.

Folgt man Crouch (2008: 156f.), so gab es in der Vergangenheit ein „wahrhaft demokratische[ s] Interregnum“. Gemeint ist die Hochzeit keynesianischer Politik und korporatistischer Interessenvermittlung vor dem Hintergrund einer engen Bindung zwischen sozialdemokratischen Parteien und ihren Milieus. Die Abkehr von regulierenden Politiken, der Trend vom Korporatismus zum Lobbyismus und die Entkopplung linker Parteien von ihren Milieus bilden denn auch – ergänzt um das Aufkommen rechtspopulistischer Akteure und „professionalisierter“ Wahlkampftechniken – zentrale Krisenindizien, die Crouch (2008: 13) zu seiner Kernthese führen: „Während die demokratischen Institutionen formal weiterhin vollkommen in Takt sind …, entwickeln sich politische Verfahren und die Regierungen zunehmend in eine Richtung zurück, die typisch war für vordemokratische Zeiten: Der Einfluss privilegierter Eliten nimmt zu, in der Folge ist das egalitäre Projekt zunehmend mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert.“ Dass die Neuen Sozialen Bewegungen gerade aus der wahrgenommenen Starrheit der korporatistischen Konstellation heraus entstanden sind und gewisse Interessen (man denke etwa an Homosexuelle, Flüchtlinge oder den Umweltschutz) im vermeintlich „wahrhaft demokratischen Zeitalter“ kaum auf der Agenda standen, wird nicht thematisiert. Eine durchaus feststellbare Krise der Repräsentation sozial Schwacher (dazu Linden/ Thaa 2009) wird zum Ende der Demokratie hochstilisiert, ohne dass positive Entwicklungen bei der Repräsentation ehemals marginalisierter Gruppen und Ansprüche Berücksichtigung finden.

Hinsichtlich der potentiellen Reformoptionen erweist sich Crouch als vergleichsweise ideenlos. Ein Zurück zum Korporatismus scheint ihm nicht mehr möglich zu sein. Stattdessen offeriert er eine Palette heterogener Maßnahmen, die auch aufgrund der abschließend vorgebrachten Sympathie für gewaltsame Globalisierungsprozesse (Crouch 2008: 157) eher als Zeichen vermuteter Aussichtslosigkeit daherkommen. Er plädiert für eine Eindämmung der US-Hegemonie durch die EU, die Regulierung des Finanzkapitalismus, die Einschränkung von Regierungsmacht, die Mobilisierung politischer Gegenidentitäten und die Revitalisierung der Parteien durch Soziale Bewegungen. Das bleibt weitaus abstrakter als die einstmals enge Verbindung zwischen den Forderungen nach egalitärer Demokratie und mehr Partizipation bzw. Demokratie. Der Autor zeichnet das Bild einer grundsätzlich eher nicht zu ändernden Lage.

Die mitunter höchst einseitigen Deutungen von empirischen Krisentendenzen und Wandlungsprozessen durch Zakaria und Crouch sind natürlich kritikwürdig (vgl. Linden 2009: 99f.). Dies betrifft beispielsweise die Aspekte der zurückgehenden Parteiidentifikation und des gesunkenen Institutionenvertrauens, die ebenso gut als Ausdruck demokratischer Emanzipation und abnehmender Herrschaftsgläubigkeit gedeutet werden können. Im vorliegenden Zusammenhang ist aber entscheidender, dass die Analysen beider Autoren einer wahlweise wirtschaftsliberalen oder sozial-egalitären Grundposition entstammen. Die wahrgenommene Durchsetzungsschwäche des präferierten politischen Programms dient als Axiom, auf das alle angeführten und teilweise sicherlich korrekt skizzierten Unzulänglichkeiten der demokratischen Praxis zurückgeführt werden. Die Demystifizierung (Zakaria) bzw. Verabschiedung (Crouch) der Demokratie basiert also auf einem ideologischen Fundament: der Verabsolutierung eines in der Tendenz reduktiv ökonomisch verstandenen Freiheits-oder Gleichheitsideals.

Grevens Position

Grevens Standpunkt ist vor allem deshalb interessant, weil er dem dargestellten Abgesangsdiskurs einen eigenen Strang hinzufügt, bei dem das Problem grundsätzlicher und losgelöst von output-zentrierten Idealbildern angegangen wird. Seine Herangehensweise stellt deshalb eine weitaus größere Herausforderung für die Demokratietheorie dar, gerade weil griffige Schlagwörter wie „Postdemokratie“ oder „nachdemokratisches Zeitalter“ (Hermet 2008) auf Grund der Differenziertheit der Argumentation keine Verwendung finden.

Als Ausgangspunkt seiner Überlegungen in Berliner Debatte Initial fragt Greven: „War die Demokratie jemals ‚modern‘?“ Eine Antwort darauf könne, so eine erste Einschränkung, nie als „wahrheitsfähig“ angesehen werden‚ da „weder ‚Demokratie‘ noch ‚modern‘ sich heute noch essentialistisch verstehen“ ließen (Greven 2009a: 67). Stattdessen orientiert sich Greven (2009b: 413), im Anschluss an Max Weber (1973a; 1973b), am Leitbild einer „Wirklichkeitswissenschaft“. Es geht ihm also nicht um theoretische Modelle, sondern um die Analyse der „reale[n] Verfassung der ‚Demokratie'“ und ihrer „praktisch-effektive[n] Sinndeutung“ (Greven 2009a: 67). Eine Hauptforderung Webers (1973a: 156) besteht bekanntermaßen darin, „den Lesern und sich selbst scharf zum Bewusstsein zu bringen, welches die Maßstäbe sind, an denen die Wirklichkeit gemessen und aus denen das Werturteil abgeleitet wird.“ Greven (2009a: 67f.) leitet die seinem Urteil zugrunde liegenden Kriterien vorgeblich nicht aus einem eigenen normativen Demokratieverständnis ab (seine zweite Einschränkung), sondern aus den „Begründungsmomente[n] der sich als ‚modern‘ verstehenden Demokratie“ und, „[d]er Einfachheit halber“, aus dem Demokratieverständnis des Grundgesetzes. Er analysiert die Entwicklung des von vielen als Entsprechungszusammenhang wahrgenommenen praktischen Verhältnisses dieser Kriterien mit der seines Erachtens durch umfassende „Kontingenz und den Zwang zur Dezision“ (Greven 1999: 9) geprägten „rein prozeduralen und antimetaphysischen Begründungs-und Prozesslogik der Moderne (Modernisierung)“ (Greven 2009a: 68). Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die „Moderne sich gegen die bisher als modern geltende Demokratie durchsetzt, indem sie sie verändert“, und zwar in einem Prozess der Erosion ihrer „restmetaphysischen Aprioris“ (Greven 2009a: 68). Genau genommen hätten die Grundlagen der Vorstellung von der modernen Demokratie eben jener Moderne selbst „bis heute noch gar nicht entsprochen“ (Greven 2009a: 68). Ein goldenes Zeitalter der modernen Demokratie à la Crouch hat es demnach nie gegeben. Erst recht steht Grevens These aufgrund ihrer Anlage im Widerspruch zu Zakarias Bestreben, den Wert der Demokratie alleine anhand ihrer Funktionalität für eine ökonomische Rationalität zu bewerten, also deren normative Sinnhaftigkeit politikextern zu bestimmen.

Als Maßstäbe für die Modernitätsinkompatibilität der modernen Demokratie werden von Greven vier Punkte bzw. Begründungsmomente herangezogen: (1) Die Annahme eines relativ homogenen und „der Demokratie vorgängigen demos“, (2) die „Unterstellung einer signifikanten Autonomie des kollektiven Willensbildungsprozesses“, (3) die „Differenzierung zwischen privater und gesellschaftlicher Ungleichheit und politischer und rechtlicher Gleichheit“ sowie, sich mit den anderen Kriterien überschneidend, (4) die Bestandteile des im Grundgesetz als unabänderlich verbrieften Prinzips der Volkssouveränität (Greven 2009a: 68). Er hält alle vier Maßstäbe für empirisch unerfüllt und in Anbetracht der Randbedingungen bzw. Charakteristika der Moderne für weiterhin unerfüllbar:

(1) Die Idee des „vorgängig existenten ‚Volkes'“ sei angesichts der „Multikulturalität einer heterogenen Bevölkerung“ nicht mehr aufrecht zu erhalten (Greven 2009a: 70). Einstmals homogene Gesellschaften würden zu – so der große Leitbegriff von Grevens (1999) Gesellschaftstheorie – „politischen Gesellschaften“, deren Pluralität das Demos- Erfordernis untergrabe. Die Einheitsstiftung werde mithin zur ständigen politischen Aufgabe. Greven (2009b: 417) teilt das sog. „Böckenförde-Theorem“, wonach die Demokratie auf Voraussetzungen beruht, die sie selbst nicht produzieren kann.[1] Demnach muss der soziale und kulturelle Wandel in demokratischen Gemeinwesen als tendenziell nicht demokratisch zu lösendes Problem erscheinen.

(2) Die „Annahme einer zumindest weitgehenden Autonomie des innerstaatlich veranstalteten Willensbildungsprozesses“ erweise sich „zunehmend als Illusion“, da die eigenen Lebensumstände zunehmend von nicht kontrollierbaren äußeren „‚Mächten'“ reguliert würden (Greven 2009a: 71). Damit gehe „die rousseausche Vision, nur den selbstbestimmten Gesetzen zu unterliegen und so die eigene Freiheit verwirklichen zu können, verloren“ (Greven 2009a: 71). Interdependenz und Autonomie in der Demokratie bilden demnach Gegensätze, was nicht nur in der EU zu beobachten sei. An anderer Stelle schreibt Greven (2009c: 96): „The democratic idea of the political selfdetermination of a collectivity of citizens becomes an illusion.“

(3) Im Zusammenhang mit Prozessen der „Transnationalisierung“ erodiere zudem die „Trennung von (a) öffentlicher demokratisch, d. h. gleichheitsbasiert legitimierter und (b) privater, d. h. in der Regel auf ungleiche Ressourcenausstattung beruhender Partizipation“ (Greven 2009a: 71). Der Punkt ähnelt der Analyse Crouchs (2008: 101-132). Letzterer rekurriert vor allem auf den Einfluss von Wirtschaftslobbys und Prozesse der Vermarktlichung des Wohlfahrtsstaates. Greven verweist auf „Transnationale Politikregime“ (Edgar Grande) bzw. „Public-Private-Networks“, also auf entscheidungsrelevante Partnerschaften zwischen öffentlichen und „(zivil-)gesellschaftlichen“ Akteuren, die mit dem Ziel der Effizienzsteigerung geschlossen werden. Die Disparität im privaten Bereich korrespondiere nunmehr vermehrt mit „ungleichen Einflusschancen“ im Bereich des Öffentlichen (Greven 2009a: 71f.). Dadurch werde das zentrale Prinzip der „‚gleichen Freiheit'“, also „der Gleichheit der möglichen Einflussnahme auf die Gesetzgebung oder bei der Bestellung des Gesetzgebers“ (Greven 2009b: 414), unterlaufen.

(4) Hinsichtlich des Prinzips der Volkssouveränität argumentiert Greven am grundsätzlichsten, was letztlich in der Aussage gipfelt, die Idee der Demokratie gehöre – ebenso wie die „Idee und praktische Möglichkeit der Revolution“ – zu den „Relikte[n] der Vormoderne“ (Greven 2009a: 73). So verletzten Versuche der normativen Anpassung der Demokratie an die Moderne, also beispielsweise Konzepte einer kosmopolitischen Demokratie (Held 1995), das von Sartori (1997: 23) formulierte Grunderfordernis, wonach Demokratie für den Durchschnittsbürger verständlich bleiben müsse. Demnach kann die unaufhaltsame Auflösung des Regierens in unterschiedliche Ebenen und komplexe Arrangements dem der Selbstbeschreibung von Demokratie innewohnenden Anspruch nicht gerecht werden. Zu den modernitätsinkompatiblen Fiktionen zählt Greven (2009a: 69f.) darüber hinaus die Idee der Legitimation von Entscheidungen durch den Willen des Volkes: Seine Argumentation rührt hier an den Grundfesten eines pluralistisch-antiidentitären Demokratieverständnisses, da der Wille in der Tradition Rousseaus als singulär und allgemein zustimmungsfähig gedacht wird. Die Mehrheitsentscheidung könne dem nicht gerecht werden. Greven verweist auf Hans Kelsen (1929), der sie – analog zu späteren realistischen bzw. pluralistischen Ansätzen (dazu Linden 2007: 70-72) – als „größtmögliche Annäherung“ an die „Selbstregierung“ begreift. Carl Schmitts (1926) Anti-Parteien und -Parlamentarismusschrift zeige hingegen, dass die Entmystifizierung der falschen Identifikation von Mehrheits-und Gesamtwillen zur „doppelten Denunziation von Moderne und Demokratie“ herangezogen werden könne. Auch die vor allem durch Habermas (1994) prominent vertretene Idee, mittels Deliberation sei eine allgemeine Zustimmungsfähigkeit unter den Bedingungen der Moderne herstellbar, wird von Greven verworfen. Habermas selbst könne auf das Entscheiden (u. a. in Form des Mehrheitsbeschlusses) nicht verzichten, konsensfähige Deliberation sei in der Praxis nur ein Ausnahmefall und diene oftmals alleine der Legitimation expertokratischer Herrschaftsformen (dazu Linden/Thaa 2010), so Greven.

Kritik

Eine Auseinandersetzung mit der Erosionsthese Grevens kann nur indirekt an dessen normativen Folgerungen ansetzen. Solche werden im Gegensatz zu Zakarias technokratisch- verengtem Plädoyer für weniger Demokratie und Crouchs diffus bleibender Einforderung egalitär wirkender Widerständigkeit gar nicht aufgestellt – mit einer Ausnahme: Greven (2009a: 73) plädiert für eine Verabschiedung der bekannten Leitidee der „Demokratie“ als „Voraussetzung dafür, eine den neuen Herausforderungen entsprechende, neue normative Idee von historisch ähnlicher Prägekraft zu entwickeln“. Es unterbleibt aber der Hinweis auf den potentiellen Inhalt des Surrogats. Hierin liegt ein entscheidender, qualitativer und ob der Reichweite von Grevens These a priori kritikwürdiger Unterschied zum Ansatz Robert A. Dahls, der den Demokratiebegriff aufgrund seines kaum erfüllbaren Anspruchs einer umfassenden Responsivität gegenüber allen Bürgern (Dahl 1971: 2) durch den nach Graden operationalisierbaren Begriff der „Polyarchie“ ersetzen wollte. Bekanntlich ist der Pluralist Dahl, dessen Äußerungen nie Zweifel am Anspruch der weiteren Demokratisierung ließen, später zum Demokratiebegriff (in einer pragmatischeren Fassung) zurückgekehrt (Dahl 1989 u. 1998). Aus gutem Grund.

Im Gegensatz zu Dahl benennt Greven keine Auswege, die eine Annäherung an das Ideal der Selbstbestimmung ermöglichen könnten. Die Analyse bleibt auf die Darstellung der vermeintlichen Inkompatibilität von Modernisierungsprozessen und dem, was als Selbstbeschreibung der Idee der Demokratie markiert wird, beschränkt. Dadurch entfällt auch die Offenlegung eines eigenen, möglicherweise von den skizzierten Kriterien differierenden Verständnisses einer angemessenen Regierungsweise – bzw. von Demokratie. Ausgehend von der sicherlich zutreffenden Analyse, dass (Mehrebenen-) Komplexität und Interdependenz Probleme der Zurechenbarkeit zur Folge haben, könnte möglicherweise die „Verantwortlichkeit“ als normativ abgespeckte Alternative fungieren. Der Begriff stellt jedoch schon jetzt ein zentrales Begründungsmoment der modernen, repräsentativen Demokratie dar und ist demnach, sofern man Greven folgt, modernitätsinkompatibel. Was bleibt ist vorläufig nichts, an das man sich halten könnte, also eine eher postmoderne als moderne Leere. Der Versuch, andere Leitideen zu proklamieren, die dem Anspruch möglichst weitgehender bürgerschaftlicher Einflussnahme und Autonomie entsprechen, liefe nämlich zwangsläufig auf Kategorien hinaus, die nicht losgelöst vom Demokratiebegriff zu denken sind. Partizipation, Repräsentation, Inklusivität, Gleichheit, Freiheit usw. – kein normativer Anspruch kann als äquivalenter Ersatz fungieren, da jeweils nur Bestandteile guten (also demokratischen) Regierens erfasst werden.

Die in Form einer Dekonstruktion vorgebrachte These, dass das wirkmächtigste emanzipatorische Projekt ohne aufgezeigte Alternative ad acta zu legen sei, muss auch aus Gründen, die den Kern der Argumentation selbst betreffen, entschieden zurückgewiesen werden. Das ergibt sich zum Teil aus empirischen Fehlurteilen und ganz erheblich aus den herangezogenen Maßstäben, die einer normativ angemessenen Konzeption von Demokratie nicht gerecht werden. Diesbezüglich verweist Greven auf einen bei Rousseau (1762) entlehnten identitären Demokratiebegriff. Die Auffassung vom Ziel einer Entsprechung des im Singular gedachten Volkswillens mit den tatsächlich getroffenen Entscheidungen geistert tatsächlich immer noch in verschiedenen Versionen durch die demokratietheoretische Debatte. Präsent ist sie beispielsweise im Habermasschen Ideal von Öffentlichkeit (Habermas 1962) bzw. – später – konsensfähiger Deliberation (Habermas 1994). Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (1991) enthält Restbestände dieses Denkens, die aus der Anlehnung an den abgeschwächten Rousseauismus der (gegenüber pluralistisch-prozeduralem Denken bereits geöffneten) Integrationstheorie Rudolf Smends (1928; vgl. Linden 2006: 156ff.) resultieren. Die Fiktion von der Existenz eines Willens ist aber nicht nur unvereinbar mit den Grundzügen der Moderne, sondern widerspricht von vornherein einem angemessenen Demokratieverständnis. Das berühmte Diktum Hannah Arendts (1993: 9), Politik beruhe „auf der Tatsache der Pluralität der Menschen“, gilt auch für die Politikform Demokratie.

 Ein Denken in Kategorien wie Mehrheit, Opposition, Machtwechsel oder Optionalität prägt darüber hinaus auch die heute allgemein vorherrschende Bedeutungszuschreibung von Demokratie weitaus mehr als Greven wahrhaben will. Der Realismus Schumpeters (1950) kommt dem vorherrschenden Sinngehalt von Demokratie näher als der monistische Idealismus Rousseaus. Zu Recht wurde Schumpeters Elitismus und Bürgerskepsis kritisiert. Ein Zurückfallen hinter seine Zurückweisung der überkommenen identitärdemokratischen Auffassung, deren Grundlagen einem angemessenen Menschenbild nicht nur unter modernen Bedingungen widersprechen, wäre fatal. Die überwiegende Mehrheit der Bürger hierzulande scheint das zumindest verstanden zu haben. Ansonsten stünden der grundsätzliche Pluralismus der Parteienlandschaft, die Meinungsfreiheit, die politische Betätigungsfreiheit oder die Geltung des (in der Praxis institutionell eingeschränkten) Mehrheitsprinzips zur Debatte, was im Gegensatz zum Kontext der Hauptschriften Carl Schmitts und Hans Kelsens nicht der Fall ist. Von einer drohenden Delegitimierung des Pluralitätsprinzips zugunsten des Identitätspostulats ist man in Zeiten vermehrt gelebter Pluralität weiter entfernt als zuvor.

Insofern kann eine mitunter immer noch vertretene identitärdemokratische Selbstbeschreibung nicht als Maßstab für die Analyse der derzeitigen Situation der Demokratie fungieren. Unerreichbare Ziele führen zwangsläufig zur Zielverfehlung. Zu Zeiten der Systemkonfrontation diente die Identifikation identitärdemokratischer Vorstellungen, die sich leicht im Denken Carl Schmitts oder in den ideologischen Grundlagen des Marxismus-Leninismus nachweisen lassen, als willkommenes und mitunter auch berechtigtes (neo-)pluralistisches Argument wider spezifische Ausformungen emanzipatorischer und partizipatorischer Demokratieansprüche (Fraenkel 1991; Sartori 1997). Dass der antipluralistische Mythos dafür herhalten muss, die prinzipielle Nichtentsprechung von moderner Demokratie und Moderne zu postulieren, ist jedoch neu. Die Inkompatibilitätsthese erweist sich bei Heranziehung eines angemessenen, pluralistischen Demokratieverständnisses gerade dann als falsch, wenn Grevens eigene Konzeption der Moderne übernommen wird. Was passt besser zu einer durch Kontingenz und Dezision geprägten Konstellation als die Möglichkeit, Entscheidungen mittels offener Verfahren der Partizipation und der Bestellung von Parlamentariern bzw. Regierungen zu beeinflussen? Greven selbst verwies noch im Jahr 1999 auf das gesteigerte Vorhandensein „politischer Eingriffs-und Gestaltungsmöglichkeiten“ und grenzte sich von „These[n] des politischen Fatalismus“ ab (Greven 1999: 237). Nun offeriert er selbst eine solche These.

Im Zusammenhang mit dem normativ unangemessenen und das empirisch vorfindbare Selbstverständnis von Demokratie weitaus weniger als behauptet prägenden Identitätsmaßstab ist auch Grevens Sicht auf den Demos zu sehen. Als Krisensymptom wird die kulturelle Pluralisierung von Gesellschaften dargestellt. Heterogen waren Bevölkerungen jedoch schon immer, vielleicht weniger im Hinblick auf ihre Kultur, aber jedenfalls hinsichtlich der vorhandenen sozialen Stellungen und damit korrelierender Einstellungen und Ansprüche. Die vermeintliche Homogenität der Nationalstaaten bewahrte diese nicht vor Kämpfen um die Ausgestaltung und Bewältigung sozialer Unterschiede. Madison verweist richtigerweise darauf, dass die Pluralität von Gesellschaften ein unhintergehbares Axiom ist: „Solange die menschliche Vernunft fehlbar ist, und der Mensch frei ist, sie zu benutzen, wird es unterschiedliche Meinungen geben“ (Hamil- ton/Madison/Jay 1787/1788: 52, Art. 10).

Richtig ist es, wenn Greven auf die Notwendigkeit der politischen Einheitsbildung verweist. Damit ist die Demokratie jedoch keineswegs überfordert. Umgekehrt verhält es sich vielmehr so, dass gerade demokratische Verfahren diese Funktion hervorragend ausfüllen können. Zwei demokratische Grundvorgänge, nämlich Partizipation und Repräsentation, bilden im Zusammenspiel die zentralen Mechanismen politischer Integration (Linden 2006). Natürlich hat die kulturelle Pluralisierung von Gesellschaften ihre Kehrseite, insbesondere, wenn die Einstellungen und Werthaltungen von Individuen sich vornehmlich aus ihrer Herkunftskultur ableiten. Demokratische Verfahren sind jedoch bestens dazu geeignet, unversöhnliche Abschottungen zu überwinden und in einen ständigen Prozess des gemäßigten Konfliktaustrags auf der Grundlage fairer Verfahren zu überführen. Verwiesen sei an dieser Stelle beispielsweise auf die mäßigende Funktion der symbolischen und inhaltlichen Konfliktrepräsentation, mittels derer die jeweils „Anderen“ als politisch gleich betroffene wie gleich teilnehmende Individuen erkennbar werden.[2] Die politische Teilnahme (verstanden im aristotelischen Sinn als aktivpartizipierende und passiv-wahrnehmende Beteiligung) ist untrennbar mit dem Demokratieprinzip verbunden. Ihre integrative Funktion (verstanden als Herstellung und Aufrechterhaltung eines demokratischen Grundkonsenses) manifestiert sich beispielsweise in der Bildung „überlappender Mitgliedschaften“ (Truman 1951). Das vermeintliche Krisenphänomen der Pluralität ist unter demokratischen Bedingungen also eine potentielle Integrationsressource. Das „Böckenförde-Theorem“ überzeugt nicht, da die Demokratie vielfältigste Möglichkeiten der mittels ihrer selbst betriebenen Sicherung von Bestandsvoraussetzungen bereithält.

Wenig überzeugend ist schließlich auch Grevens Verweis auf die Disparität zwischen politischer Gleichheit und privater – also vor allem ökonomischer – Ungleichheit. Das Problem der je nach Gruppengröße und Gruppeninteresse sowie sozialen Stellung ungleichen Möglichkeiten politischen Einflusses ist bereits von Offe (1972) und Olson (1968) klassisch beschrieben worden, also zunächst einmal nicht neu. Ungeachtet dessen sprechen heute einige Indizien für eine Krise der Repräsentation sozial Schwacher (vgl. Linden/Thaa 2009), wozu die angeführten Vermarktlichungs-und Lobbyisierungsprozesse sicherlich mit beigetragen haben. Deshalb die Demokratie verabschieden zu wollen, anstatt nach den Ursachen und den Möglichkeit einer ausgewogeneren demokratischen Repräsentation zu fahnden, wäre jedoch völlig unangemessen. Man stelle sich nur einmal vor, wie es um die Repräsentation ökonomisch schwächerer Bevölkerungsgruppen bestellt wäre, wenn es den Wahlmodus nicht gäbe – gerade in ökonomischen Krisenzeiten. Das Prinzip der „gleichen Freiheit“ wurde und wird regelmäßig unterlaufen. Die Demokratie wird das Gleichheitsproblem auch nie vollends überwinden können, da es kein Maß für den Idealfall einer Gleichheit des Einflusses gibt. Als Modus zur möglichst weitgehenden Überwindung strukturell bedingter Disparitäten ist die Regierungsform jedoch alternativlos, da ihre institutionell angemessene Ausformung die individuellen und gruppenspezifischen Einflussmöglichkeiten unter den Bedingungen von kapitalistischer Wirtschaftsordnung und ungleicher privater Ressourcenausstattung maximiert.

Es ist folglich kein Grund ersichtlich, einen gedanklichen Abschied von der Demokratie heraufzubeschwören. Gerade die Bewältigung eines Krisenphänomens, das Greven eigentlich treffend schildert, kann nur auf demokratischem Weg erfolgen. Die partielle Untergrabung des Zurechenbarkeitsprinzips durch zunehmende Interdependenz und Informalisierung wird durch die „deliberative“ Scheindemokratisierung von „Governance- Strukturen“ eher verstärkt. Warum eine stärkere Trennung verschiedener Ebenen mit klar umrissenen Kompetenzen in einer Konstellation gewachsener Entscheidungsmöglichkeiten illusorisch sein soll, erschließt sich mir nicht – ebenso wenig, warum es den verschiedenen Parteifamilien nicht gelingen soll, eine Brücke zwischen den Ebenen herzustellen. Es ist ein Armutszeugnis, wenn das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil dem Bundestag aufträgt, seine Kompetenzen wahrzunehmen. Eine Aufgabe des Demokratieanspruchs durch die Demokratietheorie erhöht letztlich die Wahrscheinlichkeit, dass solche Forderungen von Seiten eines Gerichts und nicht von Seiten der Bürgerschaft und ihrer Vertreter erhoben werden. Insofern gilt die Forderung aus Grevens (1999: 236) Hauptschrift, deren jetzige Verabschiedung dem eigentlichen Ziel zuwiderläuft: „Am Ende wird alles davon abhängen, wieviele Individuen politische Bürger und Bürgerinnen bleiben wollen, wieviele Demokraten die Demokratie hochschätzen und deshalb auch unter den sich verändernden Verhältnissen weiterentwickeln wollen.“

Der Beitrag ist zuerst erschienen in „Berliner Debatte Inititial“ 2/2010.

[1] Böckenförde (1967: 112) selbst schreibt: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“
[2] Diese integrative Funktion der Repräsentation von Konflikten haben Claude Lefort und Marcel Gauchet hervorragend dargestellt (vgl. deren Schriften in Rödel 1990).

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