Publikationen / vorgänge / vorgänge 199: Ambivalenzen der Partizipation

Einbinden - legiti­mieren - dialo­gi­sieren

aus: vorgänge Nr. 199 (Heft 3/2012), S. 84-91

„Am Horizont des Begriffs der Parti­zi­pa­tion – seinem äußersten Rand – steht der der Kolla­bo­ra­tion.“ Eyal Weizmann[1]

Lange Zeit erscholl der Ruf nach mehr Bürgerbeteiligung vornehmlich aus den linken, fortschrittlichen und alternativen Milieus der Bundesrepublik Deutschland. Während Bürgerinitiativen, Bewegungsaktivisten und Radikaldemokraten mehr direkte Demokratie wagen wollten, waren die etablierten Kräfte in Wirtschaft, Staat und Parteipolitik allenfalls zu eng begrenzten Experimenten bereit. Das hat sich mittlerweile geändert. Angesichts zunehmender Parteienverdrossenheit, abnehmenden Vertrauens in herkömmliche Formen politischer Repräsentation und angesichts der Tatsache, dass sich die Aktivisten von Bürgerprotesten heute auch aus der von den Unionsparteien als Wählerreservoir beanspruchten „Mitte“ der Gesellschaft rekrutieren, erscheinen neue Beteiligungsformen nun vermehrt auch gestandenen Konservativen als geeignetes Mittel „guten Regierens“ (vgl. Wagner 2012a und 2012c). Während Protestierende in früheren Jahren vornehmlich ausgegrenzt, als Chaoten diffamiert und kriminalisiert wurden, um die herrschenden Macht-und Eigentumsverhältnisse zu schützen, will man sie nun vermehrt durch neue Dialog-und Mediationsverfahren aktiv einbinden.

In dieser Sichtweise erscheint Bürgerbeteiligung in erster Linie als Akzeptanzmanagement, als der Versuch, politisch schwer kalkulierbare Konfrontationen zwischen Bürgern und der Staatsgewalt zu vermeiden und das Widerstandspotential betroffener Bürger zu neutralisieren. Protest soll in Diskussion verwandelt und auf diese Weise entschärft werden. Als Konsequenz aus den heftigen Auseinandersetzungen um das Bahnprojekt Stuttgart 21 machten beispielsweise Verkehrsminister Peter Ramsauer und Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (beide CSU) im März 2012 eine Reihe von Vorschlägen, wie große Bauvorhaben künftig durch die frühzeitige Beteiligung potenzieller Widerstandsakteure zu beschleunigen wären. Man hofft, kostspieligen Protesten vorzubeugen, indem „aus Betroffenen Beteiligte werden.“[2]Bereits im Februar hatte es einen Kabinettsbeschluss gegeben, der entsprechende Empfehlungen an die Träger solcher Projekte enthielt.[3] Die administrativen Fürsprecher der Bürgerbeteiligung nehmen an, dass die Zustimmung für eine Entscheidung steigt, wenn das zugrunde liegende Verfahren als fair betrachtet wird. Dialog-und Mediationsverfahren sollen dabei helfen, das Vertrauen der Bürger in Verwaltung und in die Politik zu steigern. Im von der Administration gewünschten Idealfall wird aus einer Protesthaltung dann ein aktives Mittun der Bürger am jeweils anstehenden Herrschaftsprojekt.

Merkels Zukunfts­di­alog

Mit ihrem im Frühjahr 2012 begonnenen „Dialog über Deutschlands Zukunft“ hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die Installierung von neuen Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung in das liberalkonservative Modernisierungsprojekt deshalb sogar zur Chefsache gemacht. Im Grunde sei das Thema Bürgerbeteiligung eine „Leitmelodie des Bürgerdialogs“ (Merkel 2012, S. 32) schreibt Christoph Schlegel,[4] der von der Bundeskanzlerin beauftragte Autor des noch vor dem offiziellen Beginn des Bundestagswahlkampfs erschienenen und von Angela Merkel selbst herausgegebenen Begleitbuchs „Dialog über Deutschlands Zukunft“: „Eineinhalb Jahre lang haben sie im Kanzleramt das Format vorbereitet, seit Frühsommer 2012. Sie wollten einen neuen politischen Stil ausprobieren: Das Internet, das unsere Gesellschaft radikal demokratisiert und das jedem die Gelegenheit gibt, seine Meinung kundzutun, sollte in die Politik integriert werden. Die Kanzlerin hatte den Auftrag erteilt, die Bürger mehr als bislang einzubinden. Die Menschen sollten die Möglichkeit bekommen, sich aktiv an der Bundespolitik zu beteiligen. Was in der Lokalpolitik leichter möglich ist, sollte auf diesem Wege auch in der Bundespolitik versucht werden.“
(ebd., S. 26)

Der Zukunftsdialog basierte auf Gesprächen mit 128 Experten, die sich zu thematischen Arbeitsgruppen zusammengefunden hatten sowie verschiedenen Möglichkeiten einer direkten Beteiligung der ganz normalen Bürger. Diese konnten sich auf einer eigens eingerichteten Internetseite mit eigenen Vorschlägen und Kommentaren einbringen. Eine kleine Anzahl von ihnen erhielt dann im Rahmen von zunächst drei Bürgergesprächen die Gelegenheit, der Bundeskanzlerin Angela Merkel einmal die Meinung zu sagen. Mit im Boot saßen die Bertelsmann-Stiftung und der Volkshochschulverband, der nach drei vorangegangenen Veranstaltungen der Bundesregierung im Juni einen vierten Bürgerdialog mit der Kanzlerin in Berlin organisierte. Im Mittelpunkt dieses Bürgerdialogs standen drei Fragenkomplexe: Wie wollen wir zusammenleben und denen helfen, die noch am Rande stehen? Wie sichern wir unseren Wohlstand? Wie lernen wir als Gesellschaft? Gute Ideen, so ließ sich Merkel vernehmen, werde sie an die zuständigen Ministerien weiterleiten. Das Kanzleramt wolle auf diese Weise „Partizipation konkret machen.“(ebd., S. 27)

Die Dialoginszenierung in der Regie des Kanzleramts war freilich alles andere als ein Fortschritt in Sachen Demokratie. Beobachter hinterfragten, ob durch die Initiative der CDU-Politikerin die notwendige Trennung von Partei-und Regierungsarbeit gewahrt bliebe oder der zu erwartete Ideen-Input den vom Kanzleramt betriebenen Aufwand und dem damit verbundenen Einsatz von Steuergeldern rechtfertigen könne. Schwerer wiegt der Einwand, dass die Bürgerbeteiligung nur simuliert war. Beim ersten Bürgergespräch in Erfurt nahm sich die Kanzlerin knappe 90 Minuten Zeit für die Vorschläge von 100 ausgewählten Bürgern. Die organisierten Vertreter der Interessen abhängig Beschäftigter und kapitalismuskritische oder explizit linksorientierte Vereine, Netzwerke und Bündnisse blieben bei alldem deutlich unterrepräsentiert oder gänzlich außen vor. „Der Zukunftsdialog findet außerhalb üblicher politischer Strukturen und Zeitpläne statt. Er findet auch nicht zwischen den üblichen Akteuren in Ministerien, Parlamentsausschüssen und Verbänden statt“ (ebd., S. 9), schreibt Angela Merkel in ihrem Vorwort. Die Inszenierung eines unmittelbaren Dialogs zwischen Kanzlerin, Experten und Bürgern betont die vermeintlich überparteiliche Volksnähe Merkels.

Der für die Demokratieauffassung der alten Bundesrepublik konstitutive Pluralismus organisierter Interessen, der auch den in Gewerkschaften, eigenen Vereinen und Parteien zusammengeschlossenen Arbeitern eine nicht zu ignorierende Machtposition einräumte, ist für sie offensichtlich kein zukunftsfähiges Politikmodell mehr. Wenn auch weiterhin „viele Entscheidungen in der Hand der Politik, im Parlament und in der Regierung, liegen“ (ebd.) würden, so die Kanzlerin, bräuchte es doch „neue Wege, um zu diesen Entscheidungen zu kommen.“ (ebd.) Dass sei nötiger denn je, denn „zu vielschichtig sind die Entwicklungen unserer Zeit, zu vernetzt ist die Welt, zu anspruchsvoll sind die Aufgaben.“ (ebd.) Augenscheinlich hat die Rede von der zunehmenden Komplexität hier die Funktion, die Zurücksetzung des Parlaments und der organisierten Interessengruppen zu rechtfertigen. Die Kanzlerin erscheint als direkter Ansprechpartner der Bürger, nicht als Vertreterin irgendwelcher Interessen, eines Parteiprogramms oder einer Weltanschauung. „Was hängen bleibt ist: Da ist ein Mensch“, fasste Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung, die ihm offensichtlich willkommene Wirkung der Auftritte der Kanzlerin im Rahmen des Bürgerdialogs zusammen.

Bonapar­tis­ti­sche Insze­nie­rung

Das Dialogverfahren erinnert mehr an monarchische oder präsidentiale Inszenierungen von Bürgernähe als an wirkliche Partizipation. „Es agiert die Kanzlerin persönlich; gelegentlich tritt sie bei den Expertenrunden auf, zuhörend, fragend, kommentierend, bis sie, klar, schnell nach Brüssel muss und anderswohin in den politischen Alltag. Minister spielen bei all dem keine Rolle. Es dialogisiert das Unikat Merkel. Als wäre sie die Präsidentin des Landes – oder die Generalsekretärin“, kritisierte Franz Müntefering in der Süddeutschen Zeitung (28.08.2012). Die von dem SPD-Politiker in diesem Zusammenhang beanstandete Umgehung des Parlaments macht für die konservative Publizistin Gertrud Höhler einen Kernbestandteil des von ihr als „System M“ bezeichneten Machtsystem Merkels aus, dessen überparteiliche Ausrichtung mit einem gehörigen Maß an Demokratieverlust und Machtzentralisierung einhergehe: „Für die Kanzlerin Merkel ist schon länger nicht mehr relevant, mit welcher Partei sie an die Spitze der Regierung gelangt; ihr Nachhaltigkeitkonzept für ihre Politkarriere ist die schleichende Entmachtung der übrigen Parteien.“ (Höhler 2012, S. 129)

Die überparteiliche Pose, der zur Schau gestellte Pragmatismus vermeintlicher Volksnähe bedeutet nicht mehr Demokratie, sondern ist die mit partizipatorischen Floskeln aufgepeppte moderne Version einer im 19. Jahrhundert etablierten Herrschaftstechnik, die Elemente der Demokratie und der Diktatur zu mischen verstand. Gemeint ist der Bonapartismus. In seiner klassischen Form wurde er als Mischung repressiver und plebiszitärer Elemente im französischen Zweiten Kaiserreich (1852-70) von Louis Napoléon (Napoleon III.) etabliert und hat danach in der Rechten viele Anhänger gefunden.

 Die Verfechter des Bonapartismus waren und sind ständig darum bemüht, „die Geißel, die die Parteien sind, zu als die zu denunzieren, die sich zwischen den authentischen Volkswillen und den leader schieben, handele es sich nun um den leader des einzelnen örtlichen Wahlkreises oder den obersten Führer der Nation. Diese unmittelbare Beziehung wird – immer nach der bonapartistischen Propaganda – durch das Vorhandensein organisierter Parteien verfälscht.“ (Losurdo 2008, S. 369) „Wahre Demokratie besteht nur da, wo die Gewalt im Volke ruht und nicht delegiert wird“ (Frantz 1990, S. 48), fasste der preußische Bonapartist Constantin Frantz (1817-1891) die dahinter stehende Auffassung zusammen: „Die Staatsgewalt muss die Majorität des Volkes für sich haben, nicht die Majorität eines Parlaments, sondern ich sage, die Majorität eines Volkes, weil nur dadurch der Kollektivwille, der sich in dem Chef vereinigt, die Macht einer physischen Notwendigkeit gewinnt. Daher muss das Stimmrecht allgemein sein und soweit ausgedehnt werden, als es überhaupt möglich ist“ (ebd., S. 61)

Für die dem demokratischen Zeitalter angemessene, modernisierte Spielart dieser volkszugewandten Form autoritärer Herrschaft hat der italienische Philosoph Domenico Losurdo den Ausdruck Soft-Bonapartismus geprägt: Die Spitze der Exekutive inszeniert sich als unmittelbarer Ansprechpartner der Bürger, deren Interessen es gegen unfähige und für das Regierungsgeschäft entbehrlichen Funktionäre aus Parteien und Gewerkschaften durchzusetzen gelte.5 Was der rechte Carl-Schmitt-Forscher und Publizist Günter Maschke über den Regierungstil des Louis Napoléon schrieb – „Seine Politik mischte und konfundierte beliebig Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus“ (Maschke 1993, S. 175) -, ähnelt auf verblüffende Weise dem oft als ideologiefrei beschriebenen Regierungspragmatismus der deutschen Bundeskanzlerin. „Merkel sammelt Markenkerne anderer Parteien. Unbefangen betritt sie mit fetter Beute in den Umfragewerten die nächste Arena. (…) Was gestern noch ein Alleinstellungsmerkmal war, kann morgen schon der Kanzlerin gehören“, schreibt Gertrud Höhler (2012, S. 104) in ihrer viel gescholtenen, jedoch in der Beschreibung von Kernelementen des Merkelschen Regierens durchaus zutreffenden Polemik „Die Patin. Wie Angela Merkel Deutschland umbaut“.

Merkels zurückhaltender, selten auftrumpfender Führungsstil unterstützt die bonapartistische Suggestion, dass einzig und allein sie selbst gewährleisten könne, dass die langfristigen Interessen der Mehrheit der Bevölkerung über den Tag und die Legislaturperiode hinaus berücksichtigt werden.

Neoliberale Expertise

Die Auswahl der zahlreichen Experten, die von Merkel in das Dialogverfahren einbezogen werden, erscheint freilich wenig geeignet, diesem Anspruch zu genügen. Sie sind in gewisser Weise zwar überparteilich, deswegen aber längst nicht unparteiisch. So wurde ausgerechnet jene Arbeitsgruppe, die neue Formen der Partizipation diskutieren sollte, von Politik-und Unternehmensberatern dominiert, die vor allem die strategische Wirkung partizipatorischer Verfahren im Auge haben und das zivilgesellschaftliche Feld im Interesse möglichst reibungslosen Regierens umstrukturieren wollen. Die von dem Politikprofessor Oscar Gabriel geleitete Arbeitsgruppe „Chancen und Grenzen der Bürgerbeteiligung “ vereint Berthold Tillmann, den ehemaligen Oberbürgermeister von Münster, Susanne Sander vom Deutschen Institut für Community Organizing (DIFCO) und Hans-Peter Meister, den Gründer und Geschäftsführer des Instituts für Organisationskommunikation (IFOK GmbH). Die Gruppe diskutierte, „wie generell eine „kooperative Beteiligungskultur“ (…) als Grundlage des Zusammenwirkens von Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung geschaffen“ (Merkel 2012, S. 73) und ein „partnerschaftlicher Austausch“ (ebd.) zwischen diesen Gruppen organisiert werden kann. Christina Tillmann von der bis heute den neoliberalen Ideen ihres Gründers Reinhard Mohn verpflichteten Bertelsmann-Stiftung[6](vgl. Wernicke/Bultmann 2007) vertrat die Auffassung, dass die Bürger in Verwaltungsfragen mitentscheiden oder bei der Planung von Großprojekten und auch bei Gesetzesvorhaben mitdebattieren können sollten (ebd., S. 211). „Stuttgart 21 habe gezeigt, dass Sachverhalte nicht nur unterschiedlich bewertet, sondern auch unterschiedlich wahrgenommen würden, so Gabriel. Deshalb ist in der Arbeitsgruppe die Idee gereift, über den stärkeren Einsatz von Mediatoren nachzudenken – und zu versuchen, einen konkreten Vorschlag zu formulieren, der in diese Richtung zielt. Mediatoren könnten als Schlichter zumindest die Wogen glätten und eine Kompromisslösung herbeiführen.“ (ebd., S. 89) Entwickelt wurden die elaborierten Formen der heutigen politische Mediation von einem Mitarbeiter Hans-Peter Meisters: dem Politikwissenschaftler Christopher Gohl. Bereits 1996 forderte der damals 22jährige Kreisvorsitzenderder Jungen Liberalen den Oberbürgermeister seiner Heimatstadt Stuttgart, Manfred Rommel, in einem offenen Brief dazu auf, die Bürger stärker an den Planungen zu dem laufenden Großprojekt Stuttgart 21 zu beteiligen (vgl. Giesa 2011, S. 81). 2001 entwarf er das politische Leitbild einer beteiligungsorientierten Bürgergesellschaft, in der der Parteienstaat mit seinem korporatistischen Interessensausgleich durch neue politische Techniken gesellschaftlicher Abstimmung abgelöst werden soll. (vgl. Gohl 2001, S. 10) Heute leitet der in der Partizipationsszene gut vernetzte Gohl7 die Abteilung „Politische Planung, Programm“ in der FDP-Parteizentrale.

Politische Mediation

Als besonders geeignetes Mittel, um eine solche Einigung in öffentlichen Konflikten zu erreichen, erscheinen dem FDP-Strategen die seit den sechziger Jahren zum Teil in der linken Alternativbewegung entwickelten Mediationsverfahren. Praktische Erfahrungen damit hat Christopher Gohl im IFOK-Institut gesammelt, das sich in dieser Sparte als Markführer darstellt.[8] Für seine Mediationstheorie greift er auf Erfahrungen zurück, die er als Projektleiter des Regionalen Dialogforums Flughafen Frankfurt gesammelt hatte.[9] Gohl entwickelte ein manipulatives Konzept der Konfliktbefriedung, das das Verhältnis von Bürgern und Politikern durch die „Verzahnung von strategischer Steuerung und modernen Beteiligungsformen“ (Gohl 2010, S. 14f) verbessen will. Sein „Modell des organisierten Dialogs“ zielt darauf, dass „die regierten Bürger mehr Verständnis für die Mühen der Regulierung entwickeln, aber auch die Regierenden im Hinblick auf bessere Ergebnisse beraten.“ (ebd.) Demokratie von unten und Steuerung von oben, sind scheinbar keine Gegensätze mehr, sondern werden in einem Konzept integriert, das sich vorrangig darum sorgt, wie deren Entscheidungen legitimiert und möglichst effizient gestaltet werden können. Teilhabe der Bürger ist in der politischen Mediation kaum mehr als ein Mittel zum Zweck: eine neue, ausgefeilte Spielart sozialtechnologischer Herrschaft. Sie fingiert die Selbstorganisation der aktivierten Bürger, die aber schon deshalb keine echte Selbstbestimmung ist, weil die Waffengleichheit der Kontrahenten schon in formaler Hinsicht nicht angestrebt wird. Denn egal, was bei einer politischen Mediation vereinbart wird, eine politisch bindende Entscheidung ist damit nicht verbunden. „Sie kann und sollte nach den Prinzipien der repräsentativen Demokratie nicht durch ein Mediationsverfahren gebunden werden“ (Gohl/Meister 2012, S. 12), so Meister und Gohl. Hinzu kommt, dass das Modell des organisierten Dialogs, die Tendenz befördert, für die Lösung von Konflikten über die realen Klassenmachtverhältnisse hinwegzusehen. Gohl weiß um die ideologischen Schieflage seines Konzepts, doch glaubt er entsprechende Fragen gleichsam wortmagisch schon dadurch entkräften zu können, dass er sie selber stellt: „Ist es sozialtechnischer Zynismus, das Modell der reziproken, sachbezogenen und ergebnisoffenen Interaktion der Freien und Gleichen zu preisen – und diese dialogischen Verhältnisse und ihre Subjekte dann zum Objekt der strategischen Kalkulation und operativen Intervention eines Verfahrensgestalters zu machen? Schlägt hier nicht das Erbe des militärischen Strategiebegriffs durch, der in der Interaktion auf die Überwindung des Gegners abstellte? Wird also nicht der sozialethisch aufgeladene Begriff des Dialogs instrumentalisiert, möglicherweise für schlechte Zwecke? Sind verständigungsorientierte Vorgehensweisen nicht besonders raffinierte Formen derÜberredung?“ (Gohl 2010, S. 123) Da die inhaltliche Offenheit des Dialogs gewährleistet und die Teilnehmer vor Missbrauch und Manipulation durch den autoritativ privilegierten Verfahrensgestalter geschützt würden, meint Gohl diese Fragen verneinen zu können. Sein argumentativer Trick besteht darin, sich auf die Ebene des Verfahrens selbst zu beschränken und die Machtverhältnisse, in die sie eingebettet sind, aus der Betrachtung weitgehend auszuschließen.

Dabei könnten selbst besonders faire Verfahrensregeln nicht dafür sorgen, dass in organisierten Dialogen wirklich Gleiche aufeinandertreffen. Die Vertreter von Großunternehmen können im Regelfall ein Vielfaches an Geldmacht, juristischer Expertise und Medienunterstützung aufbieten als einzelne Bürger. Im Fall der Regierungen kommt noch das von der Polizei durchgesetzte staatliche Gewaltmonopol hinzu. Lohnabhängige und Angehörige sozial benachteiligter Schichten können nur dann eine effektive Form der Gegenmacht bilden, wenn sie sich zusammenschließen. Das jedoch soll durch Beteiligungs-und Mediationsverfahren gerade erschwert werden. Das Hauptziel von politischen Mediationsverfahren besteht darin, der Herausbildung einer nennenswerten Gegenmacht von Projektkritikern durch die frühzeitige Einbindung relevanter Teile der so genannten Zivilgesellschaft zu begegnen. Mit Hilfe der Mediation soll sich der Streit vom politischen Kern auf weniger brisante Sach-und Verfahrensfragen verlagern. Mediationsunternehmen stützen ihre Dienstleistungsangebote auf die Annahme, dass sich Infrastrukturprojekte heute nur noch auf der Basis breiter gesellschaftlicher Akzeptanz in einem zeitlich und finanziell vertretbaren Rahmen umsetzen lassen.[10] Die betroffenen Bürger sollen eingebunden und ihre Widerstandsenergie neutralisiert werden. Ein erwünschter Nebeneffekt ist die Kostenersparnis für beteiligte Privatunternehmen und die öffentliche Hand, die durch die Verbesserungsvorschläge von Bürgerexperten erreicht werden kann. Als gelungen erscheint den Auftraggebern und Betreibern ein Mediationsverfahren immer dann, wenn ein Projekt in der Bevölkerung Zustimmung oder zumindest eine breite Duldung erfährt und die Regierungspolitik an Vertrauenspunkten gewinnt. Augenscheinlich fügen sich die heute etablierten Verfahren politischer Mediation und strategischer Dialogführung nahtlos ein in den soft-bonapartistischen Umbau der pluralistischen Demokratie. Bezeichnenderweise erscheint die fingierte Basisdemokratie der Mediationswissenschaftler und Dialogunternehmer heute gerne unter der Bezeichnung Kollaborative Demokratie.[11] Denn um die partizipatorisch nur drapierte „aktive Unterstützung einer feindlichen Besatzungsmacht gegen die eigenen Landsleute“, wie es im Fremwörter-Duden zum Begriff der „Kollaboration“ heißt, handelt es sich beim Geschäft der politischen Mediation offensichtlich ja tatsächlich.

[1] Weizmann 2012, S. 13.
[2] http://www.bmvbs.de/SharedDocs/DE/Artikel/UI/handbuch-buergerbeteiligung.html
[3] Eine Reihe von Funktionen macht die Ausweitung von Beteiligungsverfahren in den Augen der Regierung zu einem Zeit und Kosten sparenden Mittel der Akzeptanzbeschaffung. Erstens würden die Bürger frühzeitig integriert und seien daher eher bereit, dem Vorhaben ihre Zustimmung zu geben. (Integrationsfunktion). Zweitens könnten manche Konflikte durch die rechtzeitige Information der Bürger schon im Vorfeld des förmlichen Verfahrens gelöst werden. (Rechtsschutzfunktion). Drittens trügen die Bürger selbst zur Optimierung der technischen Planung bei (Rationalisierungsfunktion). Viertens könnten gerichtliche Auseinandersetzungen durch entsprechende Plananpassungen vermieden oder zumindest verringert werden (Effektivierungsfunktion). Fünftens werde die Legitimation des Planungs-und Entscheidungsprozesses durch die Berücksichtigung der Einwände der Bürger selbst dann erhöht, wenn diese am Ende gegenüber anderen Interessen zurückstehen müssten (Legitimationsfunktion). Sechstens ermögliche die erhöhte Transparenz die Möglichkeit, den Planungs-und Entscheidungsprozess nachzuvollziehen (Kontrollfunktion). vgl: http://www. bmvbs.de/cae/servlet/contentblob/81212/publicationFile/54326/handbuch-buergerbetei-ligung.pdf
[4] Der ehemalige Spiegel-Journalist verdingt sich nach eigenen Angaben als Redenschreiber für die Bundesregierung und für große Konzerne wie BMAS, BMFSFJ, MdB, MdL, Daimler AG, Volkswagen AG, Microsoft, ADAC, Metro, Wirtgen-Group, VCI, Coca-Cola, Samsung, Serview, Wintershall, Pleon, Ergo Kommunikation, Media Consulta, Hill & Knowlton. Vgl. http://www.schlegel-reden.de/referenzen.html
[5] Soft-Bonapartische Tendenzen in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschlands stehen im Zentrum meiner 2011im Kölner Papyrossa-Verlag veröffentlichten Streitschrift „Demokratie als Mogelpackung.“
[6] Der 2009 verstorbene Reinhard Mohn verstand unter „demokratische Bürgergesellschaft“ in erster Linie die Ausdehnung marktwirtschaftlicher Wettbewerbsprinzipien auf den gesamten politischen Bereich . In einer Zeit, wo der Konsens für neoliberale „Reform“-Projekte brüchig wird, sieht die „Krake Bertelsmann“ (Albrecht Müller/Wolfgang Lieb) in der Implementierung von neuen Beteiligungsformen eine Chance, die Politik wieder steuerungsfähiger zu machen.
[7] Unter anderem ist er Mitgründer von Procedere, eines Forschungs-und Entwicklungsverbundes für prozedurale Praxis, dem Theoretiker und Praktiker der politischen Beteiligung angehören und gehört dem Netzwerk Bürgerbeteiligung an.
[8] Neben dem Hauptsitz in Bensheim bei Frankfurt a. Main unterhält das Unternehmen weitere Büros in Berlin, München, Düsseldorf, Brüssel und Boston. Die Spannweite des IFOK-Angebots reichtvon einfachen Beratungstätigkeiten, Öffentlichkeitsarbeit bis hin zu den komplexen Aufgaben eines Think Tanks, der auch für die Planung und Durchführung von Projekten zuständig ist. Dabei arbeitet die IFOK GmbH mit einer Reihe von nationalen und internationalen Partnerunternehmen, Denkfabriken, Plattformen und Netzwerken zusammen. Darunter: Meister Consultants Group (MCG), DIALOGIK, European Dialogue Consortium, European Independent Consulting Group, Global Compact, Global Risk Network, Personal Innovation GmbH, Stein Consults.
[9] Initiiert worden war das Dialogverfahren einst von Ministerpräsident Hans Eichel (SPD), der Ende der neunziger Jahren auf neue Formen der politischen Beteiligung setzte, um gewaltsame Konflikte zu vermeiden, wie es sie seit den siebziger Jahren immer wieder im Konflikt um die Startbahn- West gegeben hatte.
[10] Vgl. zur politischen Mediation auch Wagner 2012b.
[11] So leitet der IFOK-Berater Maik Bohne im Rahmen der Stiftung Neue Verantwortung ein interdisziplinäres Forschungsprojekt mit dem Titel „Kollaborative Demokratie 21“.

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