Publikationen / vorgänge / vorgänge 199: Ambivalenzen der Partizipation

Die Mitwirkung der Bürger an der Fortent­wick­lung der europä­i­schen Integration

aus: vorgänge Nr. 199 (Heft 3/2012), S. 74-83

Ich werde mich einleitend in acht ganz kurzen Thesen mit der allgemeinen Problematik direkter Demokratie befassen. Der zweite Abschnitt ist dem Thema „Zulassung von Infrastrukturvorhaben mit Instrumenten der direkten Demokratie“ gewidmet. Und zum Schluss, werde ich mich sehr entschieden für die Nutzung direktdemokratischer Institute in Europa aussprechen.

I.

1. Es existiert nicht „das Volk“, es gibt kein Volk als identitäres homogenes Phänomen. „Das Volk“ ist auch als solches nicht handlungsfähig. Es besteht aus einer Vielzahl von Gruppierungen, wie übrigens schon Aristoteles zu seiner Zeit, also für die kleine Polis Athen wusste. „Das Volk der Demokratie erweist sich“, so schreibt F. Balke, „als politische Chimäre“,1 und diejenigen, die das bezweifeln, nennt der große amerikanische Politikwissenschaftler Robert Dahl treffend „entweder naiv oder machiavellistisch“.2 Ich denke, die Begründung ist offensichtlich.

2. Instrumente direkter Demokratie sind Instrumente von Minderheiten. Das beginnt schon bei der Stellung der Fragen, über die dann mit „Ja“ und „Nein“ abgestimmt wird. Das gilt bei den unterschiedlichen Verfahren in unterschiedlicher Weise; auch bei den fakultativen Referenden, wenn sich eine Minderheit etwa gegen ein vom Parlament beschlossenes Gesetz in Stellung bringen will. Das gilt aber vor allem bei Initiativen, das heißt bei aus dem Volk stammenden Entwürfen für eine gesetzliche Maßnahme. Alles das sind Aktivitäten, die von Minderheiten getragen werden. Am Ende, wenn es dann die so genannte Volksabstimmung gibt, berichtet etwa Wolf Linder, Politikwissenschaftler aus der Schweiz, dass für eine positive Volksentscheidung in der Schweiz im Schnitt eine Zustimmung von 13 Prozent der Bevölkerung ausreichend und erforderlich sei.3 Der gesamte Prozess wird weitgehend von Minderheitenbestimmt.

3. Das Instrument direkter Demokratie wird sozial höchst selektiv genutzt. Es ist insgesamt ein Instrument von Mittelschichten, von oberen Mittelschichten, wie empirische Untersuchungen belegen. In diesem Zusammenhang weist Wolf Linder auf die paradoxe Situation hin, dass die politischen Parteien, die eher für die konservativen bürgerlichen Werte dieser Mittelschichten eintreten, eher gegen die Erweiterung dieses Instruments sind, während die linken Parteien, auch in der Schweiz, für die Erweiterung sind und damit die von ihnen vertretenen Interessen schwächen.4 Es ist, wenn man so will, eine gewisse paradoxe Dialektik zu beobachten.

4. Die Vorstellung, man könne damit wirksam den herrschenden politischen Kräften entkommen, erweist sich als außerordentlich trügerisch. Die Instrumente direkter Demokratie werden in aller Regel von Parteien, Unternehmen und Interessenverbänden genutzt. Auch das wird durch empirische Untersuchungen in einer ganzen Reihe von europäischen Ländern, aber auch in den Staaten der USA bestätigt. Nur finanzkräftige Gruppierungen wären allein oder mit anderen in der Lage, bundesweite aufwändige Kampagnen zu organisieren und zu finanzieren. Geld und Propaganda sind ungleich verteilt und schaffen nach dem schönen Bild von Wolf Linder „ungleich lange Spieße im Abstimmungskampf“.5 Das belegt auch eine Zahl aus Kalifornien – man sollte nicht nur immer in den Kleinstaat Schweiz gucken, sondern eher nach Kalifornien. Dort sollen in einem einzigen Jahr 2006 für verschiedene Volksentscheide 330 Millionen US-Dollar ausgegeben worden sein.

5. Hinweise auf andere Länder sind mit größter Vorsicht zu genießen. Die Sympathie, die die Schweiz hier besitzt, verliert an Überzeugungskraft, wenn man die Schweizer Fachleute selber dazu hört, die immer wieder auf die besonderen schweizerischen Verhältnisse eines Kleinstaates mit einer bestimmten Tradition hinweisen. Sie machen vor allem auf die Konsequenzen aufmerksam, die die Praxis der Volksrechte für das gesamte politische System hat, nämlich die Umgestaltung zu einer Konkordanz-Demokratie. Beides ist zwangsläufig, jedenfalls in der Schweiz, miteinander verbunden. Im Übrigen hat schon die „Verfassungskommission Wahlen“ 1973 auf die großen Probleme hingewiesen, die auch in der Schweiz mit diesem Instrument verbunden sind. Aber weil diese Institution in der Schweiz eine lange Tradition hat – sie besteht auf Bundesebene seit 1848, parallel dazu teilweise schon früher auf Kantonsebene – rührte auch die Kommission Wahlen nicht daran.

Aber auch in der Schweiz – hier erlaube ich mir einen Vorgriff auf den zweiten Abschnitt – gibt es grundsätzlich keine Verwaltungsreferenden auf der Bundesebene, anders als in den Kantonen, wo es jede Menge Verwaltungsreferenden gibt (auch Finanzreferenden). Zwar wurde bei der letzten Verfassungsrevision 1999 die Möglichkeit des Verwaltungsreferendums prinzipiell in die neu formulierte schweizerische Bundesverfassung eingeführt; aber diese Instrumente sind eigentlich auf Bundesebene nicht in Gang gekommen.

6. Instrumente direkter Demokratie eignen sich in unterschiedlicher Weise für verschiedene Gegenstände. Leider wird normalerweise hier nicht unterschieden. Ich möchte drei Gegenstände differenzieren: Sachfragen; personelle Entscheidungen (auch Wahlen sind ja eigentlich personelle Entscheidungen der Bürgerinnen und Bürger); und als dritter Sachbereich: strukturelle Fragen, d. h. Entscheidungen über die Entscheidungsstrukturen eines Gemeinwesens, das heißt über Verfassungsfragen. Auf diesen Punkt komme ich in meinem dritten Abschnitt zu sprechen.

7. Eine kurze Bemerkung zu den Sachfragen: Grundsätzlich halte ich von den genannten drei Bereichen die Sachfragen für besonders wenig geeignet für direkte Entscheidungen des Volkes. Hier gibt es in meinen Augen erhebliche Bedenken. Zum einen deshalb, weil das Volk auf die vorgelegte Frage nur mit „Ja“ oder „Nein“ antworten kann. Die Abstimmungsfrage wird, wie gesagt, in aller Regel von einer sehr kleinen Minderheit formuliert. Sie kann auch sehr polemisch oder suggestiv formuliert werden. Hier fehlt die Möglichkeit zur Beratung und zum Austausch von Meinungen, zu einer differenzierten Beurteilung des Problems. Und das ist, denke ich, gerade in einem pluralistischen Gemeinwesen conditio sine qua non für politische Lösungen, für den Kompromiss. Damit werden in eklatanter Weise Postulate diskurstheoretischer Art, wie sie etwa Jürgen Habermas oder Rainer Forst als „Herrschaft der Gründe“ formuliert haben, verletzt. Es verwundert deshalb nicht, dass die Vertreter einer kommunikativen oder deliberativen Demokratie nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA gegenüber Verfahren direkter Demokratie sehr zurückhaltend, ja deutlich ablehnend sind. Es entfallen ferner auch weitgehend checks and balances, weil gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung verstoßen wird.

Diese Situation wird heute noch angesichts zunehmend wachsender Komplexität der zur Entscheidung stehenden Fragen verschärft. Hierbei kann man feststellen: Mit wachsender Komplexität der Sachfragen wächst auch die soziale Selektivität der Beteiligung. In solchen Situationen sind diejenigen, die sich an Abstimmungen beteiligen, in besonders hohem Maße angewiesen auf Orientierung durch Dritte: Parteien, Verbände und Medien. Und dabei können durchaus diffuse Befindlichkeiten den Ausschlag für eine Entscheidung geben, und nicht die rationale Abwägung, wie das der Vorstellung des zoon politikon als eines rationalen, politisch handelnden Wesens entspricht. Abgestimmt wird dann über eine hidden agenda, etwa die Parlamentsmehrheit, die Regierung, die Parteien, die Politik und nicht über die Frage, die eigentlich konkret zur Entscheidung ansteht, die man möglicherweise überhaupt nicht versteht. Für Letzteres gibt es amerikanische empirische Untersuchungen, die ich hier nur andeuten kann. Deswegen bin ich heute wie bereits vor dreißig Jahren6 der Meinung, dass am ehesten Sachfragen auf kommunaler Ebene derartigen Volksentscheidungen zugänglich sind, weil dort eine gewisse Überschaubarkeit der Probleme existiert.

8. Die verschiedenen Verfahren direkter Demokratie sind in unterschiedlichem Maße missbrauchsanfällig, weil sie in unterschiedlichem Maße durch Minderheiten, durch Parteien und Verbände und durch die langen Spieße der Finanzkräftigen instrumentalisiert werden können. Es gibt zum einen die obligatorischen Referenden, bei denen eine bestimmte Entscheidung des Parlaments zwangsläufig der Zustimmung des Volkes bedarf. Dieses Verfahren wird etwa in der Schweiz bei Verfassungsänderungen praktiziert. Bei fakultativen Referenden hängt die Manipulierbarkeit davon ab, wer das Referendum auslösen kann. Das kann etwa eine Minderheit eines Parlaments sein; dann haben wir ein zusätzliches Instrument der Opposition. Das kann aber auch eine private Gruppierung sein, dann gelten meine Minderheiten-Hinweise. Die entscheidende Frage ist also: Wer kann das Referendum einleiten? Das kann auch die Exekutive sein. Dies zeigt eines der großen Postulate von Nicolas Sarkozy, numero 1 seiner 32 propositions an das französische Volk: die Nutzung von Referenden, wenn die politischen intermediären Gruppen sich zwischen ihm – dem Präsidenten – und dem Volk stellten. Das ist die traditionelle französische cäsaristisch-plebiszitäre Nutzung dieser Instrumente von Napoleon I., Napoleon III. bis hin zu de Gaulle. In dieser Tradition sieht sich auch Sarkozy. Aber am stärksten sind die Probleme, wenn auch die Initiative ex populo kommt, also praktisch das ganze Verfahren in der Hand von Minderheiten aus dem Volk liegt.

II.

Im zweiten Teil befasse ich mich mit der Frage von Verwaltungsentscheidungen, insbesondere Infrastrukturmaßnahmen durch Plebiszite. Sie erinnern sich, dass Heiner Geißler die Verstärkung der direkten Demokratie fordert, um Entwicklungen wie Stuttgart 21 zu verhindern. Lassen Sie mich hierzu erst sagen: Geißler hat einen wirklich hervorragenden Job gemacht, der in einer ganz schwierigen Situation zur Entschärfung der Diskussion beigetragen hat. Das ist unbestreitbar. Nur als er sich dann hinstellte und sagte: ‚Schluss mit der Bastapolitik bei der Zulassung von derartigen Anlagen!’, da wusste er einfach nicht, wie die rechtliche Lage in diesem Bereich ausschaut. Und da fühle ich mich auch als einer derjenigen, die sich seit mehr als 30 Jahren intensiv für eine Erweiterung der Öffentlichkeitsbeteiligung bei derartigen Verfahren einsetzt, herausgefordert. Denn diese Erweiterung hat in der Praxis, nicht zuletzt durch die Einwirkungen des EU-Rechts, tatsächlich stattgefunden.

Eins ist völlig zweifelsfrei, und da hilft auch der Hinweis auf die Schweiz nicht weiter: dass die unmittelbare Zulassungsentscheidung, also untechnisch gesprochen die Baugenehmigung (genauer: der Planfeststellungsbeschluss), nicht Gegenstand eines Volksentscheids sein kann. Das ist aus rechtsstaatlichen Gründen ausgeschlossen. Hier geht es letztlich um eine Entscheidung, bei der die Verwaltung sorgfältig prüfen muss, ob die gesetzlichen Voraussetzungen gegeben sind. Die Anlagenbetreiber haben einen Rechtsanspruch auf die Zulassungsentscheidung oder jedenfalls einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Es sind berührte öffentliche und private Belange zu prüfen. Deswegen kann diese Entscheidung nicht per Volksentscheid getroffen werden. Aber der Planfeststellungsbeschluss stellt nicht die einzige Stufe der Entscheidung dar, ihm ist eine ganze Reihe höherstufiger Verfahren bis zur Bedarfsplanung im Bundesverkehrswegeplan vorgelagert, bei denen in den letzten Jahren vor allem unter dem Einfluss des Europarechts zunehmend auch eine Öffentlichkeitsbeteiligung eingeführt wurde.7 Bei diesen vorgelagerten Verfahren könnte man sich eine plebiszitäre Beteiligung des Volkes vorstellen. Hier trägt dann auch der Hinweise auf die Schweiz. So ist die Planung der neuen Eisenbahn-Alpentransversale NEAT 1998 als Finanzierungsfrage dem Volk zur Entscheidung vorgelegt worden. Es ging also nicht um die Planung der Eisenbahntransversale, sondern das Projekt als solches, um die Bewilligung von 30 Milliarden Schweizer Franken. Und das war dann, wenn man so will, die Grundlage der ganz normalen Verwaltungsverfahren, die ganz ähnlich wie in Deutschland auch ablaufen.

Es gibt bei einem Volksentscheid für ein Infrastrukturvorhaben auch ein praktisches Problem, das meiner Ansicht nach kaum lösbar ist: die Abgrenzung der betroffenen Regionen, in denen ein Projekt zur Abstimmung gestellt wird. Betrachten Sie hierzu die Diskussion über die neue Landebahn am Frankfurter Flughafen. Soll dann etwa als Abstimmungsraum die Verwaltungseinheit gewählt werden, die über die Zulassung zu entscheiden hat? Zuständige Behörde ist das Land Hessen, hier der Wirtschaftsminister des Landes Hessen. Wenn man von der Zuständigkeit des Landes ausgeht, müssen die Bürgerinnen und Bürger in Kassel und Fulda auch mit abstimmen; also die Bewohner von Landesteilen, die vom Frankfurter Flughafen direkt gar nicht betroffen sind. Umgekehrt gilt für die Mainzer oder andere Bewohner von Rheinhessen, die auf der anderen Seite des Rheines in der Einflugschneise des Flughafens wohnen. Sie leben in Rheinland-Pfalz und dürften nicht abstimmen. Und wie sieht es aus mit der Beteiligung der Flughafennutzer und damit der Airlines mit ihren Mitarbeitern wie auch der Millionen Fluggäste oder der Hunderten von Frachtunternehmen? Sie sehen, das ist ein praktisches Problem. Darüber haben viele kluge Köpfe nachgedacht, aber alles was dazu vorgeschlagen wurde, ist letztendlich nicht überzeugend. Man kann dann sich eigentlich nur auf die Verwaltungseinheiten beschränken, und das macht in meinen Augen wenig Sinn.

Was aber funktioniert, das ist eine stärkere Beteiligung der Parlamente – aber das ist ein anderes Thema. Was aber jetzt schon funktioniert und auch praktiziert wird, das ist eine Form von Bürgerentscheidung auf kommunaler Ebene, bei der abgestimmt wird über die Stellungnahme der Kommune in diesen bundesrechtlich geregelten Zulassungsverfahren. Wenn der Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart bei „Stuttgart 21“ im Jahr 2007 ein wenig sensibler gewesen wäre, dann hätte er den damals beantragten Bürgerentscheid über die Mitfinanzierung der Stadt Stuttgart in diesem Projekt zulassen sollen – was möglich gewesen wäre. Wahrscheinlich hätte sich eine noch größere Mehrheit als bei der Volksabstimmung im November 2011 in Stuttgart für das Projekt ausgesprochen. Damit wäre jedenfalls eine maßgebliche Beteiligung der Stuttgarter Bevölkerung gegeben gewesen und Herr Geißler hätte nicht auf die Schweiz verweisen müssen.

Diese Art der Beteiligung führt nicht zu einer Verbindlichkeit für die Planfeststellungsbehörde, aber sie hat sicherlich Wirkung, und es lassen sich Fälle zeigen, wo etwa ein derartiges Referendum über die kommunale Stellungnahme dazu geführt hat, dass dann Straßenprojekte aufgegeben wurden. Diese Stellungnahme ist zwar nicht verbindlich. Aber der Bund stoppt dann die Planung mit der Begründung, wenn die Leute die Straße nicht wollen, können wir das Geld auch woanders investieren.

Das ist, etwas vereinfacht, meine Quintessenz zu dem Thema „Stuttgart 21“. Richtig ist, dass man die bestehenden Verfahren sorgfältig betrachtet und diese reformiert, wenn hier etwas als revisionsbedürftig erkannt wird. Dazu gehört etwa die Feststellung, dass die Bürgerbeteiligung als Anhörung im Planfeststellungsverfahren oder im Raumordnungsverfahren zu spät kommt. Man wird kaum sagen können, dass das eine wirklich umfassende Bürgerbeteiligung ist. In Frankfurt hat man im Planfeststellungsverfahren für die neue Bahn ein halbes Jahr einen Erörterungstermin in der Stadthalle in Offenbach gehabt. Aber trotzdem bewirkt es wenig, wie der Leiter des Erörterungstermins, der frühere Vorsitzende Richter des 4. Senats des Bundesverwaltungsgerichts, Günther Gaentzsch, sehr anschaulich in einem Festschriftbeitrag zum Ausdruck gebracht.8

Meine Position, die ich schon vor vielen Jahren als Planungsrechtler vertreten habe: Die Öffentlichkeitsbeteiligung bei der Zulassung von Infrastrukturvorhaben muss drei Kriterien erfüllen.9

1. Sie muss frühzeitig erfolgen, wenn wesentliche Vorentscheidungen noch nicht getroffen sind; also nicht erst wenn der Plan bereits bei der Planfeststellungsbehörde eingereicht ist. Da dies erst nach umfangreichen und zeitraubenden Abstimmungen zwischen Behörde und Projektträger erfolgt, sind dann die Spielräume verständlicherweise ganz gering.

2. Die Beteiligung muss umfassend vorgenommen werden, das ist bisher nicht der Fall. Sie darf nicht beschränkt werden auf so genannte drittschützende Belange (dazu gehören auch Transparenz und die Offenlage aller relevanten Gutachten) – das ist alles streitig im Planfeststellungsrecht und erfolgt normalerweise nur eingeschränkt.

3. Die Beteiligung muss dem beschriebenen kontinuierlichen Planungsprozess kongruent sein: Planung ist nicht nur eine punktuelle Dezision, sondern ein langfristiger Prozess, und während des gesamten Prozesses muss Beteiligung möglich sein, nicht nur vor Beginn des förmlichen Verfahrens, sondern auch nach dessen Abschluss. Das war ja gerade das Problem in Stuttgart: Dort hat man die Verfahren einschließlich der Bürgerbeteiligung abgewickelt; dann aber hat man das Gespräch mit dem Bürger nicht mehr fortgeführt. Und das rächt sich dann vor allem bei lang dauernden Projekten. Im Übrigen – um nur einen Punkt der Kritik an der Reichweite der Projektprüfung aufzugreifen – kann man gelegentlich daran zweifeln, dass die möglichen Alternativen unter Einschluss der sog. Nullvariante ernsthaft genug geprüft werden.

Insgesamt scheint mir bei der Zulassung derartiger Vorhaben die Durchführung von mediativen Dialogen einen besseren Weg zu sein als Verfahren der direkten Demokratie. Der Frankfurter Flughafen gibt ja eigentlich ein gutes Beispiel mit den verschiedenen Formen mediativer Verfahren, die bereits vor dem Beginn der förmlichen Planung einsetzen, leider dann aber in der Realisierungsphase nicht mehr mit derselben Ernsthaftigkeit betrieben wurden. Das ist nicht das, was der Herr Geißler gemacht hat, das war ja, wenn man so will, Feuerwehr in letzter Minute. Aber um zu verhindern, dass eine Feuerwehr notwendig wird, sollten Formen von mediativen Dialogverfahren jedenfalls bei potentiell konfliktträchtigen Projekten stärker genutzt werden. „Dialog als Strategie“ ist der Titel einer sehr schönen Studie der Bertelsmann-Stiftung. Das ist in meinen Augen zielführender und rationaler und nimmt den Bürger mehr ernst als eine Abstimmung durch „das Volk“.

III.

Ich komme jetzt zu dem dritten Abschnitt, bei dem ich Sie vielleicht überraschen werde. Es geht um Strukturfragen als dritten Gegenstandsbereich, bei dem Volksentscheide möglich sind. Da bin ich dezidiert der Meinung, dass die Verfassung, die Entstehung einer Verfassung und, das möchte ich einschränkend sagen, die wesentliche Veränderung einer Verfassung – die Differenzierung finden Sie etwa in der österreichischen Verfassung – einer maßgeblichen Beteiligung des Volkes nicht nur zugänglich sind, sondern diese in diesen Fällen unabdingbar ist.

In der Geschichte der modernen westlichen Verfassungsbewegung gibt es drei – hier nicht näher zu behandelnde – Formen der maßgeblichen Beteiligung des Volkes an der Verfassungsgebung oder bei Verfassungsänderungen. Diese Bewegung begann 1787 in den Vereinigten Staaten, aber es haben eigentlich nie in dem westlichen Verfassungsdenken Zweifel darüber bestanden, dass die Verfassung letztendlich auf den Willen des Volkes zurückgeführt werden muss.

Ich kann hier nur andeuten, warum es sich bei der Verfassung als rechtlicher Grundordnung des Gemeinwesens um etwas anders handelt als um ein normales Gesetz. Die Verfassung lebt vor allem auch im Bewusstsein der für die Verfassung wie auch die Verfassungsgebung Verantwortlichen. Sie kann letztlich keine Wirksamkeit entfalten ohne den Willen zur Verfassung auch im Volk, wie es von meinem verstorbenen Lehrer Konrad Hesse formuliert wurde.10

Sie kennen aber die jüngere deutsche Geschichte. Sie wissen, wie es bei der Gründung der Bundesrepublik Deutschland ablief: 1949, gegen die Vorstellung der westlichen Alliierten in den Frankfurter Dokumenten, die am 1. Juli 1948 im IG-Farben-Haus den westdeutschen Ministerpräsidenten übergeben wurden. Die Alliierten hatten als selbstverständliches Postulat geschrieben: Bei einer neuen Verfassung sei entweder eine verfassungsgebende Nationalversammlung einzuberufen oder ein Referendum durchzuführen. Die westdeutschen Ministerpräsidenten haben das abgelehnt. Vielleicht hatten sie 1949 verständlicherweise noch Angst vor dem Volk, das ja wenige Jahre vorher noch anderen zugejubelt hatte. Und dann kam ja die Staatsrechtslehre – Juristen sind manchmal erfindungsreicher, als Sie sich vorstellen können – mit dem Gedanken der nacheilenden oder nachhinkenden Legitimation durch die Wahlen 1953 und 1957.

1989 kam der in meinen Augen demokratietheoretische wie verfassungstheoretische Skandal hinzu: Dort hatten wir im Grundgesetz (in Artikel 146) eine Regelung, die genau für diesen Fall gemacht worden war. Sie kennen alle die heftige Diskussion um die Wege zur deutschen Einheit. Am Ende trugen pragmatische Gründe für den Weg nach Artikel 23 Grundgesetz (GG) den Sieg davon. Aber dazu könnte man etwas polemisch sagen, da gab es in der DDR – zum ersten Mal in Deutschland – eine Revolution des Volkes, natürlich von einer aktiven Minderheit, die von einer breiteren Schicht getragen wurde und der die DDR-Eliten nicht mit den Mitteln der Gewalt entgegengetreten sind. Und dann wurde diese Revolution in gewisser Weise am 18.März 1990 oder spätestens am 3. Oktober 1990 abgewickelt.

Zum Schluss komme ich zu Artikel 23 GG, der 1992 neu eingeführten Grundnorm des deutschen Europaverfassungsrechts. Dieser Artikel ist, wie auch weitere (jetzt auf Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 gestützte) Übertragungsakte von Hoheitsgewalt auf die Europäische Union, bei denen die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland verändert wurde, wiederum ohne das Volk zustande gekommen. Dies gefährdet – davon bin ich überzeugt – zunehmend unsere Grundordnung ebenso wie unsere Einbindung in die Europäische Union. Nicht nur für Deutschland gibt es Zahlen, wie die Zustimmung zu Europa in den letzten Jahren dramatisch zurückgegangen ist. Diese Untersuchungen zeigen auch, dass in Deutschland alle wesentlichen europäischen Entscheidungen der letzten zehn, fünfzehn Jahre gegen den Mehrheitswillen der deutschen Bürgerinnen und Bürger zustande kamen. Ich will keinen Zweifel daran lassen, dass ich persönlich diese Entscheidungen grundsätzlich für gut und richtig halte. Gleichwohl sind so in meinen Augen verfassungsrechtlich unhaltbare Zustände entstanden. Das Problem wird verschärft, weil über viele Entscheidungen nicht ausreichend politisch, ja nicht einmal hinreichend im Bundestag diskutiert wird. Die jüngste Diskussion um die Sondervoten von zwei Abgeordneten, die ja nahezu bizarr zu nennen ist, belegt das eindringlich.

Da darf man sich nicht wundern, wenn in gewisser Weise ein Ersatzforum in Karlsruhe aufgebaut wurde. Dort werden mit Hilfe von in meinen Augen eher unzulässigen Verfassungsbeschwerden diese Fragen zum Gegenstand der einzigen wirklich kontroversen, tiefgründigen Diskussion gemacht. Ich finde es nicht gut, aber ich verstehe, dass hier eine Stelle sich sozusagen als ein Notforum positioniert hat. Das ist in meinen Augen eine Fehlentwicklung. Im Lissabon-Urteil11 gibt es den Hinweis auf den neuen Artikel 146 GG, d. h. auf das Inkrafttreten einer neuen Verfassung, „die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht es auch geschafft, die verfassungsrechtliche Verantwortung des Bundestages in Erinnerung zu rufen und tatsächlich zu aktivieren.

Beim Artikel 146 GG handelt sich in meinen Augen um eine Norm, die in dieser Form wirklich ein verfassungsrechtliches Kuriosum darstellt. In gewisser Weise wird die Revolution der deutschen legalitären Beflissenheit entsprechend in die Verfassung eingebunden. Wenn „das Volk“ eine neue Verfassung will, dann braucht man keinen Artikel 146.

Meine Damen und Herren, jetzt noch allgemeine Bemerkungen, warum ich die Situation für wirklich dramatisch halte und warum ich nach dem letzten Sonntag12 oder den letzten Wochen wirklich große Besorgnis über die Entwicklung in Europa bekomme. Ich zitiere zunächst Hans Heinrich Rupp, der als liberaler Staatsrechtler völlig unverfänglich ist. Er schrieb 1993 zum Vertrag von Maastricht unter der Frage „Muss das Volk über den Vertrag von Maastricht entscheiden?“: „Nichts wäre undemokratischer und schädlicher, als wenn den europäischen Völkern ein Verfassungstext übergestülpt würde, den sie nicht verstehen und mit dem sie aufgrund ihrer politischen, geschichtlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Traditionen sich auch nicht identifizieren können. Ein Gemeinwesen, das von den Betroffenen nicht bejaht und mitgetragen wird, das lehrt die Geschichte, bildet oft den Nährboden nationalistischer Ausbrüche, denen es vorzubeugen gilt.“13

Ich möchte jetzt nicht jedem Satz von Hans Magnus Enzensberger folgen in seiner Polemik „Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas“ (2011), aber ich glaube, er hat da vieles richtig beschrieben. Darf man sich da noch wundern über den Umgang mit den Bürgern in Europa, nachdem der Lissaboner Vertrag 2007 in Frankreich und in den Niederlanden abgelehnt worden war? Was ist dann geschehen? Man hat diesen Vertrag, den Verfassungsentwurf nahezu vollständig beibehalten, nun aber in die bestehende komplizierte und intransparente Verfassungsvertragsstruktur integriert. „Was war wohl der Grund für dieses subtile Manöver? Es war der gelungene Versuch, dank Umverteilung der Artikel und Streichung des Verfassungsvokabulars der Forderung nach nationalen Referenden die Grundlage zu entziehen.“14 Das stammt von dem früheren französischen Staatspräsidenten und Vorsitzenden des EU-Verfassungskonvents Valéry Giscard D’Estaing.

Kann man sich da wundern, wenn sich die Bürgerinnen und Bürger in vielen Ländern Europas auf den Arm genommen fühlen? Und darf man sich dann noch wundern über die Erfolge populistischer, wenn nicht nationalistischer und rechtsradikaler Parteien in vielen Ländern Europas, wie zuletzt in Griechenland? In den Niederlanden ist nach dem Austritt von Geert Wilders die Koalition der Regierung geplatzt. In Frankreich erzielten die rechts-und linksradikalen Kandidaten bei der Präsidentenwahl im April diesen Jahres, die sich in einem Punkt (der Ablehnung von Europa) völlig einig waren, 29 Prozent der Stimmen. Natürlich ist Europa für diese Entwicklungen nicht der einzige Grund, aber sie können eine gemeinsame Klage bei all den Nationalisten bis zu den Faschisten in einer ganzen Reihe von europäischen Ländern feststellen: das ist die Klage über die Bedrohung der nationalen Identität und des Wertes der Nation.

Und jetzt eine allerletzte Bemerkung: Ich zitiere die Warnung eines außenstehenden Beobachters, eines scharfsinnigen Beobachters der politischen Entwicklung des Westens, auch der deutschen und europäischen Entwicklung, und zwar von Bruce Ackerman, dem namhaften Verfassungsrechtler und Politikwissenschaftler der Yale University, der schon vor einigen Jahren nahezu prophetisch darauf hinwies: „Die nationalen Probleme häufen sich, eine neue Generation nationalistischer Politiker löst eine ältere Elite ab, die sich daran gewöhnt hatte, unter den Bedingungen des Kalten Krieges übernational zu kooperieren. …Damit wird deutlich, dass inzwischen die Grenze jenes elitären Managements erreicht ist, der die europäische Integration zur Zeit des Kalten Krieges unterlag.“15 Dem Kalten Krieg räumt er eine sehr große Bedeutung für diese europäische Entwicklung in der Nachkriegszeit ein. Kurz gesagt Europa präsentiert sich in einem labilen Zustand. Er sieht nur einen Ausweg, und das ist genau das, was Herr Greven zum Schluss sagte: Da müssen Liberale eine Massenbewegung für ein föderatives Europa auf die Beine stellen, bevor der reaktionäre Nationalismus außer Kontrolle gerät. Das ist, glaube ich, wirklich zutreffend gesagt.

Wir brauchen die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger bei der europäischen Verfassungsentwicklung. Das dürfte nicht einfach ins Werk zu setzen sein. Hierbei gilt selbstverständlich auch meine Warnung vor Sachplebisziten. Vor allem aber sollte den Schalmaienklängen für Volksabstimmungen zu europäischen Fragen mit großer Skepsis begegnet werden, wenn diese leicht durchsichtig für die Verhinderung nützlicher oder sogar notwendiger Schritte und Maßnahmen auf dem Wege zu „einem vereinten Europa“ – wie es in der neuen Präambel des Grundgesetzes heißt – genutzt werden sollen.

Jetzt komme ich noch auf ein Flugblatt der „Bürgerrechtsbewegung Solidarität“ zu sprechen, das mir heute auf dem Frankfurter Hauptbahnhof in die Hand gedrückt wurde. Es handelt sich um eine rechtspopulistische oder rechtsradikale Partei, die zur Volksabstimmung gegen Europa aufruft. Man sollte auch daraus den Schluss ziehen: Volksabstimmungen sind nicht nur ein Instrument für die „Guten“, sondern es kann von allen, auch uns unsympathischen Gruppierungen genutzt werden.

Der Text ist die überarbeitete Fassung eines Vortrages auf dem Gustav-Heinemann-Forum in Rastatt am 11./12. Mai 2012.

Anmerkungen:

1 F. Balke, Figuren der Souveränität, München 2006, S. 143.

2 R.A. Dahl, After the Revolution? Authority in a Good Society, New Haven/London, 1970, S. 83.

3 W. Linder, Schweizerische Demokratie, 2. Aufl. 2005, S. 283.

4 Vgl. ebd., S. 350.

5 Ebd., S. 347.

6 R. Steinberg, Elemente volksunmittelbarer Demokratie im Verwaltungsstaat, Die Verwaltung 4/1983, S. 465 ff.

7 Dazu umfassend R. Steinberg/M. Wickel/H. Müller, Fachplanung, 4. Aufl. 2012, Kap. VII.

8 G. Gaentsch, Der Erörterungstermin im Planfeststellungsverfahren, in: Festschrift für Sellner, 2020, S. 219 ff.

9 Zuletzt R. Steinberg, Die Bewältigung von Infrastrukturvorhaben durch Verwaltungsverfahren, Zeitschrift für Umweltrecht, 2011, S. 340 ff.

10 K. Hesse, Die normative Kraft der Verfassung (1959), jetzt in: Ausgewählte Schriften, Heidelberg 1984, S. 4 ff., 9.

11 BVerfGE 123, 267, 332.

12 Am 6. Mai 2012 hatte in Frankreich der erste Wahlgang bei der Präsidentenwahl stattgefunden, bei dem die rechtsradikale Kandidatin 17,9 Prozent der Stimmen, der linksradikale Kandidat 11,1 Prozent der Stimmen erhalten hatte.

13 H.H. Rupp, NJW 1993, S. 38 ff., 39.

14 Zit. bei H. Buchstein, Demokratie und Lotterie, 2009, S. 436.

15 B. Ackerman, Ein neuer Anfang für Europa, 1993, S. 55 u. 57.

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