Publikationen / vorgänge / vorgänge 199: Ambivalenzen der Partizipation

Editorial

in: vorgänge 199 (Heft III / 2012), S. 1ff.

Kaum ein politischer Begriff hat in den letzten Jahrzehnten eine vergleichbare Karriere zu verzeichnen, wie die Partizipation. Einst von den Neuen Sozialen Bewegungen gegen einen Politikbetrieb erstritten, der dergleichen noch als ungebetene Einmischung in seine inneren Angelegenheiten begriff, wird sie mittlerweile von links bis rechts allseits begrüßt als Fortentwicklung der demokratischen Gesellschaft und als probates Mittel gegen die Sklerose des repräsentativen Systems. Sie ist fester Bestandteil der Governance in der Europäischen Union wie in den Systemen globalen Regierens. Auf nationaler Ebene sind größere Projekte ohne Mitsprache und -entscheidung der Bürger kaum mehr vorstellbar und die Piraten feiern Erfolge mit dem Versprechen, deren Teilhabe auf neuen, digitalen Wege zu mehren.

Doch in dem Maße, wie sich die Partizipation etabliert, rücken auch ihre Ambivalenzen in den Blick. So verdeckt das „Mehr Demokratie”, mit’dem für direkte Formen der Volksbeteiligung geworben wird, dass sie in einem legitimatorisch nicht unproblematischen Verhältnis zur repräsentativen Willensbildung stehen. Auch wird deutlich, dass die direkte Beteiligung der Bürger eine sozial voraussetzungsvolle Angelegenheit ist und dass die Erfolgschancen durchaus von dem sozialen Kapital des Engagierten ab-hängen. Und dieses ist nicht gleich verteilt. Offen ist auch, inwieweit das „Mehr Demokratie” die Defizite der etablierten Repräsentation tatsächlich abbaut, die den Ruf danach einst haben laut werden lassen. Mit Blick auf die supranationalen Ebenen ließe sich eher von einer Kompensation sprechen und das Krankheitsbild „Postdemokratie”, das seit einigen Jahren diagnostiziert wird, zeugt zumindest von einer gewissen Resistenz des repräsentativen Systems gegen direktdemokratische Kuren. Dies soll nun kein Plädoyer gegen Partizipation sein, sondern die Analyse dieser Ambivalenzen soll den Blick öffnen für gangbare Pfade einer Demokratisierung der Demokratie.

Thomas Zittel wendet sich gegen die unbesehene Propagierung direkter Demokratie als Heilmittel gegen die Mängel repräsentativer Demokratie. Aus liberaldemokratischer Sicht gehe ein Mehr an Partizipation mit einer Verringerung der Problemlösungskompetenz einher, zudem sinke mit der Größe des Gemeinwesens die Effizienz der Partizipation. Gleichwohl erhöhe Partizipation die soziale Bindungskraft der Demokratie. Um dieses Moment zur Geltung zu bringen, können sowohl Formen der Mehrebenenpolitik als auch eine Ausweitung der Partizipation in den Bereich der Ökonomie dienen.

Hans Meyer spricht sich für die Einführung direktdemokratischer Beteiligungsformen auch auf Bundesebene aus. Das Grundgesetz eröffne diese Möglichkeit, die eine sinnvolle Ergänzung des repräsentativen Systems darstelle. Die Einführung sollte wegen möglicher Unwägbarkeiten eine Experimentierphase durchlaufen.

Frank Decker spricht sich gegen direktdemokratische Gesetzgebungsinitiativen auf Bundesebene aus, da sie das Alternierungsprinzip des parlamentarischen Systems stören, indem sie der Opposition die Möglichkeit an die Hand geben, die Regierungspolitik zu konterkarieren. Auch lässt sich das plebiszitäre Votum nicht mit der Rolle des Bundesrates im föderalen System vereinen.

Manfred Güllner klopft die neuen Formen der Partizipation auf ihren empirischen Gehalt ab und kommt zu dem Ergebnis, dass dem damit verbundenen Versprechen eines Mehr an Demokratie ein Weniger an realer Beteiligung gegenübersteht.

Sebastian Bödeker legt dar, dass politische Teilhabe im hohen Maße abhängig vom sozialen Status ist. Je höher Einkommen und Bildung, desto wahrscheinlicher ist eine Beteiligung an und Berücksichtigung in politischen Entscheidungsprozessen. Das zentrale Versprechen der Demokratie, welches im Ideal politischer Gleichheit zum Aus-druck kommt, bleibt damit uneingelöst. Soziale Ungleichheit ist nicht nur ein ökonomisches Verteilungs-, sondern ein Legitimationsproblem repräsentativer Demokratien.

Für Michael Th. Greven steht es schlecht um die Perspektive einer partizipativen Demokratieentwicklung der EU. Es fehle eine ausdrücklich für die demokratische Vertiefung der EU kämpfende transnationale Bewegung der Bürgerinnen und Bürgern und die mit dem Lissabon-Vertrag eröffneten partizipativen Möglichkeiten sind nicht dazu angetan, sie zu befördern.

Beate Kahler-Koch analysiert die Möglichkeiten zivilgesellschaftlichen Engagements auf europäischer Ebene. Zwar sei in Brüssel eine Pluralisierung der Interessensgruppen und Meinungen festzustellen, demokratische Partizipation sei damit aber nicht erreicht, denn es fehle die Rückbindung an den Bürger. Die vorgegebenen Formen der Partizipation befördern zudem eine Zentralisierung der Entscheidungen.

Rudolf Steinberg setzt sich mit den Potenzialen direktdemokratischer Verfahren bei Großprojekten auseinander und kommt zu dem Ergebnis, dass bei der Zulassung derartiger Vorhaben die Durchführung von mediativen Dialogen einen besseren Weg sei, als Verfahren der direkten Demokratie. Dabei muss die Beteiligung der Bürger frühzeitig, umfassend und Projekt begleitend sein. Volksentscheide hält er hingegen nicht nur für zulässig, sondern für unabdingbar bei der Veränderung der Verfassung.

Thomas Wagner erkennt in dem von Bundeskanzlerin Angela Merkel praktizierten Bürgerdialog weniger ein Mehr an Partizipation als vielmehr eine mit partizipatorischen Floskeln aufgepeppte moderne Version des Bonapartismus.

In Erinnerung an unser in Juli verstorbenes Redaktionsmitglied Michael Th. Greven, veröffentlichen wir einen Aufsatz über Demokratie und Moderne, in dem seine wirklichkeitswissenschaftliche Skepsis, was deren Zustand betrifft, exemplarisch zum Aus-
druck kommt. Die Realität der politischen Herrschaft in Deutschland, so sein Fazit, wird dem Begriff nicht mehr gerecht.

In seiner Erwiderung hält Markus Linden Greven vor, keine normativ anspruchsvolle Fortschreibung des Begriffs der Demokratie zu versuchen. Statt an einem identitären Volksbegriff festzuhalten, wäre es sinnvoller, Mehrheitsbildung, Repräsentation und Partizipation als Elemente einer angemessene Weise der politischen Willensbildung einer sich in jeder Hinsicht pluralisierenden Gesellschaft zu begreifen.

Kurt Lenk durchforstet in seinem Essay das Lebenswerk Michael Th. Greven nach den Leitmotiven seines Denkens und stößt dabei auf eine Galerie bundesrepublikanischer Geistesgrößen, von Theodor W. Adorno bis Peter Weiss.

Armin Pfahl-Traughber plädiert in der Auseinandersetzung um die Beschneidung Neugeborener für einen pragmatischen Umgang. So würde es den Vorgaben der Bibel entsprechen, wenn dieser Akt nur symbolisch vorgenommen würde, zugleich könne, mit Rücksicht auf die freie Religionsausübung das vorrangige Recht auf körperliche Unversehrtheit zurückstehen, sofern ärztliche Standards gewahrt werden.

Ich wünsche Ihnen zu dieser Ausgabe der vorgänge eine anregende Lektüre.

Ihr

Dieter Rulff

Vorschau auf Heft 200 (4/2012): Digitale Demokratie
Digitale Demokratie ist spätestens mit den Wahlsiegen der „Piraten” in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gerückt. Doch weist das Teilhabe-Potenzial, das sich mit dem Internet eröffnet, weit über diese Partei hinaus und hat spätestens mit Facebook ei-ne globale Dimension erreicht. Die rasante Entwicklung des Internets basiert auf der offenen Netzstruktur, die sich bislang gegen Versuche des hierarchischen Regierens weit-gehend behaupten konnte. Doch sieht diese sich verstärktem Regulierungs-Begehren diverser Staaten ausgesetzt. Zugleich hat die digitale Entwicklung neue Formen des Missbrauchs gezeitigt, die die Frage nach rechtlichen Regeln dringlicher werden lassen. Ab der vorliegenden Ausgabe 3/2012 werden die vorgänge im Eigenverlag der Humanistischen Union erscheinen. An den Preisen und Lieferbedingungen wird sich dadurch nichts ändern. Bestellungen sind ab sofort an die neue Adresse zu richten.
Heftbestellungen an: Humanistische Union Stichwort: vorgänge, Haus der Demokratie, Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin
Tel.: 030/20450256, Fax: 030/20450257, E-Mail: service@humanistische-union,de

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