Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 216: Rechtspopulismus / Rechtsextremismus

Charta der Digitalen Grundrechte der Europä­i­schen Union

in: vorgänge Nr. 216 (4/2016), S. 89-94

Eine Gruppe von Politikerinnen, Experten und Aktivistinnen haben am 1.12.2016 den Entwurf einer Digitalcharta vorgelegt. Ihre Initiative will die Diskussion um einen stärkeren Schutz der Freiheitsrechte im digitalen Raum anregen. Ihren Text stellen sie zur Diskussion, Änderungsvorschläge sind erwünscht.

Zu dem Vorschlag gab es nach der Veröffentlichung zahlreiche kritische Anmerkungen. Zentrale Kritikpunkte betrafen u.a.: die Reklamation neuer, digitaler Grundrechte, anstelle einer besseren Anwendung bestehender (analoger) Grundrechte; die Art und Weise der Veröffentlichung des Vorschlags und seine sichtbare Orientierung an deutschen Rechtsprinzipien; die mangelnde Reichweite einzelner Bestimmungen, etwa zu große Einschränkungen der Meinungsfreiheit in Artikel 5 des Entwurfs (Zensur). Die Liste aller Unterzeichnerinnen sowie eine Übersicht der Diskussionen um die Charta findet sich unter https://digitalcharta.eu/.

PRÄAMBEL

Im Bewusstsein, dass

  • die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet,
    die zunehmende Digitalisierung zur Veränderung der Grundlagen unserer Existenz führt,
  • es im digitalen Zeitalter zu enormen Machtverschiebungen zwischen Einzelnen, Staat und Unternehmen kommt,
    im digitalen Zeitalter eine zivilgesellschaftliche Debatte entstanden ist und weitergeht,
  • Grundrechte und demokratische Grundprinzipien im digitalen Zeitalter auf neue Herausforderungen und Bedrohungen treffen,
    technischer Fortschritt stets im Dienste der Menschheit zu stehen hat,
  • die Gestaltung der digitalen Welt auch eine europäische Aufgabe sein muss, damit es im europäischen Verbund gelingt, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität im 21. Jahrhundert zu erhalten;

in Anerkennung

  • der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte,
  • der Europäischen Menschenrechtskonvention,
  • der Charta der Grundrechte der Europäischen Union,
  • der Grundrechts- und Datenschutzstandards der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten;

fest entschlossen

  • Grundrechte und demokratische Prinzipien auch in der digitalen Welt durch die Herrschaft des Rechts zu schützen,
  • staatliche Stellen und private Akteure auf eine Geltung der Grundrechte in der digitalen Welt zu verpflichten,
  • auf diese Weise das Fundament einer rechtsstaatlichen Ordnung im digitalen Zeitalter zu schaffen,
  • das Digitale nicht als Quelle der Angst, sondern als Chance für ein gutes Leben in einer globalen Zukunft zu erfassen;

erkennt die Union die nachstehend aufgeführten Rechte, Freiheiten und Grundsätze an:

Artikel 1   Würde

(1)  Die Würde des Menschen ist auch im digitalen Zeitalter unantastbar. Sie muss Ziel und Zweck aller technischen Entwicklung sein und begrenzt deren Einsatz.

(2)  Neue Gefährdungen der Menschenwürde ergeben sich im digitalen Zeitalter insbesondere durch Big Data, künstliche Intelligenz, Vorhersage und Steuerung menschlichen Verhaltens, Massenüberwachung, Einsatz von Algorithmen, Robotik und Mensch-Maschine-Verschmelzung sowie Machtkonzentration bei privaten Unternehmen.

(3)  Die Rechte aus dieser Charta gelten gegenüber staatlichen Stellen und Privaten.

Artikel 2   Freiheit

Jeder hat ein Recht auf freie Information und Kommunikation. Dieses Recht ist konstitutiv für die freie Gesellschaft. Es beinhaltet das Recht auf Nichtwissen.

Artikel 3   Gleichheit

(1) Jeder Mensch hat das Recht auf eine gleichberechtigte Teilhabe in der digitalen Sphäre. Es gilt das in der Europäischen Grundrechte-Charta formulierte Diskriminierungs-Verbot.

(2) Die Verwendung von automatisierten Verfahren darf nicht dazu führen, dass Menschen vom Zugang zu Gütern, Dienstleistungen oder von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden. Dies gilt insbesondere im Bereich Gesundheit, Schutz vor elementaren Lebensrisiken, Recht auf Arbeit, Recht auf Wohnen, Recht auf Bewegungsfreiheit und bei Justiz und Polizei.

Artikel 4   Innere und äußere Sicherheit

(1)  Im digitalen Zeitalter werden innere und äußere Sicherheit auf neue Weise bedroht. Bei der Ausübung der Schutzverantwortung des Staates sind enge rechtsstaatliche Grenzen zu beachten.

(2)  Sicherheitsbehörden dürfen nicht auf durch Private erhobene Daten zugreifen. Ausnahmen sind nur auf gesetzlicher Grundlage zum Schutz besonders wichtiger Rechtsgüter zulässig.

(3)  Eine anlasslose Massenüberwachung findet nicht statt.

(4)  Waffensysteme dürfen nicht vollautomatisiert eingesetzt werden.

Artikel 5   Meinungs­frei­heit und Öffent­lich­keit

(1) Jeder hat das Recht, in der digitalen Welt seine Meinung frei zu äußern. Eine Zensur findet nicht statt.

(2) Digitale Hetze, Mobbing sowie Aktivitäten, die geeignet sind, den Ruf oder die Unversehrtheit einer Person ernsthaft zu gefährden, sind zu verhindern.

(3) Ein pluraler öffentlicher Diskursraum ist sicherzustellen.

(4) Staatliche Stellen und die Betreiber von Informations- und Kommunikationsdiensten sind verpflichtet, für die Einhaltung von Abs. 1, 2 und 3 zu sorgen.

Artikel 6   Profiling

Profiling durch staatliche Stellen oder Private ist nur auf gesetzlicher Grundlage zulässig.

Artikel 7   Algorithmen

(1) Jeder hat das Recht, nicht Objekt von automatisierten Entscheidungen von erheblicher Bedeutung für die Lebensführung zu sein. Sofern automatisierte Verfahren zu Beeinträchtigungen führen, besteht Anspruch auf Offenlegung, überprüfung und Entscheidung durch einen Menschen. Die Kriterien automatisierter Entscheidungen sind offenzulegen.

(2) Insbesondere bei der Verarbeitung von Massen-Daten sind Anonymisierung und Transparenz sicherzustellen.

Artikel 8   Künstliche Intelligenz

(1) Ethisch-normative Entscheidungen können nur von Menschen getroffen werden.

(2) Der Einsatz und die Entwicklung von künstlicher Intelligenz in grundrechtsrelevanten Bereichen muss gesellschaftlich begleitet und vom Gesetzgeber reguliert werden.

(3) Für die Handlungen selbstlernender Maschinen und die daraus resultierenden Folgen muss immer eine natürliche oder juristische Person verantwortlich sein.

(4) Bei Infrastrukturen, die für das Funktionieren der Gesellschaft essentiell sind, muss staatliche Kontrolle und Krisen-Vorsorge gewährleistet sein.

Artikel 9   Transparenz

(1) Die Informationen staatlicher Stellen müssen öffentlich zugänglich sein.

(2) Das Transparenzgebot gilt auch gegenüber Privaten, sofern diese über Informationen verfügen, die für die Freiheitsverwirklichung Betroffener von entscheidender Bedeutung sind.

Artikel 10   Unver­sehrt­heit der Wohnung

Jeder hat das Recht, in seiner Wohnung frei und unbeobachtet zu leben.

Artikel 11   Datenschutz und Daten­sou­ve­rä­nität

(1) Jeder hat das Recht auf den Schutz seiner Daten und die Achtung seiner Privatsphäre.

(2) Jeder hat das Recht, über seine Daten selbst zu bestimmen. Personenbezogene Daten dürfen nur nach Treu und Glauben und für festgelegte Zwecke erhoben und verarbeitet werden, wenn dies für das jeweilige Nutzungsverhältnis erforderlich ist und eine vorherige Einwilligung erfolgt ist oder auf gesetzlicher Grundlage. Die Einwilligung muss ausdrücklich und informiert erfolgen. Nutzungsverhältnisse müssen fair und transparent gestaltet werden.

(3) Die Einhaltung dieser Rechte wird von einer unabhängigen Stelle überwacht.

(4) Anbieter von Diensten oder Produkten dürfen nur solche Daten erheben und verarbeiten, welche für den Zweck der Benutzung erforderlich sind. Die Grundsätze von privacy by design und privacy by default sind einzuhalten.

Artikel 12   Infor­ma­ti­o­nelle Selbst­be­stim­mung

(1) Die Unversehrtheit, Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme ist sicherzustellen.

(2) Jeder hat ein Recht auf Verschlüsselung seiner Daten.

Artikel 13   Daten­si­cher­heit

(1) Jeder hat ein Recht auf Sicherheit von informationstechnischen Systemen und der durch sie verarbeiteten Daten. Dabei ist höchstmöglicher Schutz zu gewährleisten.

(2) Identitätsdiebstahl und Identitätsfälschung sind zu bekämpfen.

Artikel 14   Wahlen

Das Recht, an Wahlen und Abstimmungen teilzunehmen, darf nicht an den Zugang zu digitalen Medien gebunden werden.

Artikel 15   Freier Zugang

(1) Jeder Mensch hat das Recht auf freien, gleichen und anonymen Zugang zu Kommunikationsdiensten, ohne dafür auf grundlegende Rechte verzichten zu müssen. Das Internet ist Bestandteil der Grundversorgung.

(2) Jeder hat das Recht auf eine nicht-personalisierte Nutzung digitaler Angebote.

Artikel 16   Netzneu­tra­lität

Netzneutralität ist zu gewährleisten. Dies gilt auch für Dienste, die den Zugang zur digitalen Sphäre vermitteln.

Artikel 17   Pluralität und Wettbewerb

In der digitalen Welt sind Pluralität und kulturelle Vielfalt zu gewährleisten. Offene Standards sind zu fördern. Marktmissbräuchliches Verhalten ist wirksam zu verhindern.

Artikel 18   Recht auf Verges­sen­werden

Jeder Mensch hat das Recht auf digitalen Neuanfang. Dieses Recht findet seine Grenzen in den berechtigten Informationsinteressen der Öffentlichkeit.

Artikel 19   Besonders schutz­be­dürf­tige Personen

Kinder, Heranwachsende, benachteiligte und besonders schutzbedürftige Personen genießen in der digitalen Welt speziellen Schutz. Ihre Teilhabe an der digitalen Welt ist zu fördern.

Artikel 20   Bildung

(1) Jeder hat ein Recht auf Bildung, die ein selbstbestimmtes Leben in der digitalen Welt ermöglicht.

(2) Digitalisierung ist eine elementare Bildungsherausforderung. Sie besitzt einen zentralen Stellenwert in den Lehrplänen öffentlicher Bildungseinrichtungen.

Artikel 21   Arbeit

(1) Arbeit bleibt eine wichtige Grundlage des Lebensunterhalts und der Selbstverwirklichung.

(2) Im digitalen Zeitalter ist effektiver Arbeitsschutz zu gewährleisten.

(3) Der digitale Strukturwandel ist nach sozialen Grundsätzen zu gestalten.

Artikel 22   Immate­ri­a­l­güter

Rechteinhabern steht ein fairer Anteil an den Erträgen zu, die aus der digitalen Nutzung ihrer Immaterialgüter erwirtschaftet werden. Diese Rechte müssen in Ausgleich gebracht werden mit nicht-kommerziellen Nutzungsinteressen.

Artikel 23   Schluss­be­stim­mungen

(1) Die Auslegung der in dieser Charta enthaltenen Rechte obliegt in letzter Instanz dem Europäischen Gerichtshof.

(2) Ausübung und Einschränkung der Rechte und Grundsätze dieser Charta erfolgen entsprechend Art. 52 EGC.

(3) Rechte und Pflichten aus dieser Charta gelten für alle Unternehmen, die auf dem Gebiet der EU tätig sind. Die Festlegung eines Gerichtsstands außerhalb der EU ist unzulässig.

Dateien

nach oben